Zu den Anschlägen in den USA und zum Krieg
1.
Die Anschläge auf das WTC und das Pentagon sind Ausdruck der weltweiten Wirtschafts-, Sozial- und Militärpolitik der letzten Jahrzehnte. Sie sind sowohl als Ausdruck der globalen Barbarei als auch Reaktion auf die Brutalität und Unmenschlichkeit, die weltweit mit der kapitalistischen Ordnung verbunden sind, zu verstehen. Und in diesem Sinne sind sie auch überall auf der Welt verstanden worden. Deswegen ist es letztlich nicht mehr wichtig, wer tatsächlich diese Anschläge verübt hat und mit welchen Motiven (falls wir es jemals erfahren werden). Durch dieses Verständnis und die folgenden Reaktionen sind die Angriffe objektiv und von allen Seiten zu einem Ausdruck des »Nord-Süd-Gegensatzes« auf der Welt gemacht worden, der sich in den letzten zwanzig Jahren auch ganz materiell enorm verschärft hat.
Der Anschlag hat der Brutalität, zu der Menschen fähig sind, keine neue Ebene, noch nicht mal einen neuen Ort hinzugefügt: die Vereinigten Staaten von Amerika, die Durchsetzung des Kapitalismus in diesem Teil der Welt, hat von Beginn an Krieg bedeutet: Abschlachtung der indianischen Urbevölkerung, Sklaverei, Bürgerkrieg, Krieg um Texas usw.
Eigentlich ist das größere Wunder nicht die Tatsache, dass die Weltmacht Nummer Eins mit papiermesserbewaffneter Entschlossenheit überrumpelt worden ist, sondern dass so etwas nicht schon viel früher passiert ist - nach all dem Unheil und dem Terror, mit denen die Unterdrückung und Ausbeutung der Welt durch den amerikanischen Staat und seine Truppen durchgesetzt, organisiert und verteidigt worden ist: No Gun Ri, My Lai, Panama City, Mutla Ridge / Basra, [1] die Organisierung des Massenmords in Indonesien, die Unterstützung der Regimes des Schah von Persien, von Pinochet, Saddam Hussein, der Taliban in Afghanistan, die fortgesetzte Bombardierung des Irak usw. usf. Und es geht - vor allem - um den kalten Zynismus, die Anmaßung von absoluter Macht, die Verhöhnung der Opfer. Dieser Zynismus hat seinen Ausdruck in Madeleine Albrights Antwort auf Fragen nach dem Tod von zehntausenden Kindern als Folge der Wirtschaftssanktionen gegen den Irak gefunden: »Das ist der Preis, den wir zahlen müssen«. Jetzt ist eine erste Rechnung zugestellt und eingetrieben worden.
2.
Die Anschläge haben den Kapitalismus nicht in seinem Herzen getroffen. Im Gegenteil - sie dienen einzig und allein dazu, den weltweiten Ausbeutungs- und Herrschaftszusammenhang aufrechtzuerhalten und zu festigen.
Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon haben bei einigen Leuten eine klammheimliche Freude aufkommen lassen. Die New Yorker Skyline in Rauch gehüllt, das WTC in Flammen und schließlich völlig aus der Landschaft getilgt, das Pentagon brennend, die Symbole - ökonomischer wie militärischer - kapitalistischer Macht zerstört, das waren Bilder, die manchem ein Lächeln aufs Gesicht zauberten. Dies ist eine groteske Fehleinschätzung der Anschläge als einen Angriff auf den Kapitalismus.
Durch den Zusammenbruch des World Trade Center hat sich die Welt nicht grundsätzlich verändert. Sie ist nach wie vor ein globaler Zusammenhang von Ausbeutung und Unterdrückung. Mehr noch: die Anschläge dienen beiden Seiten, den Attentätern wie dem vermeintlich getroffenen Staat oder Kapitalismus dazu, eine Ausweitung und Festigung ihrer bröckelnden Macht zu versuchen.
3.
Kriege sind nie nur die Auseinandersetzung zwischen den Kriegsparteien, sondern im wesentlichen der gemeinsame Kampf der kriegsführenden Parteien um die Sicherung ihrer Herrschaft. Sowohl den Selbstmordpiloten wie der Bush-Regierung geht es in diesem Sinne um Krieg.
Mit den Anschlägen haben sich die Attentäter bewusst auf die Stufe von Kriegsführern wie Madeleine Albright gestellt und sind der Logik des Krieges gefolgt, die gerade in den Golfkriegen offensichtlich gegen die ProletarierInnen gerichtet war. Auf der Oberfläche vermitteln Kriege den Eindruck eines Gegensatzes zwischen den kriegführenden Parteien, im Wesen sind sie aber für beide Seiten das gemeinsame Mittel, um gegen das proletarische Aufbegehren, den Kampf um ein besseres Leben, die Revolution als Bewegung der Emanzipation der Menschen vorzugehen.
Im weltweiten Verteilungskampf haben die Attentäter die massenhafte Sympathie und Unterstützung der Zukurzgekommenen, der Unterdrückten, der Ausgebeuteten. Ihnen versprechen sie die Wiederherstellung der Ehre und ein größeres Stück vom Kuchen im Rahmen einer autoritär-hierarchischen Gesellschaftsordnung: eine zutiefst faschistische Grundanschauung, die ihre Wurzeln nicht nur in der immer schärfer werdenden Teilung der Welt »in Arm und Reich« hat. Sie ist auch und vor allem eine Reaktion auf den tatsächlichen Niedergang von überkommenen feudalen Strukturen, die vom Kolonialismus zum Teil erst installiert, vor allem aber an den Kapitalismus angepasst worden sind, und die vom Imperialismus modernisiert, gefördert und genutzt wurden.
4.
Die Anschläge (oder ihre Benutzung, das ist einerlei) durch radikal-islamische Kräfte sind nicht Ausdruck ihrer politischen Stärke, sondern Reaktion auf ihre eigene Krise. Sie brauchen die Anschläge, um sich wieder ins Spiel zu bringen.
Ende der 60er Jahre hatten auch in Afghanistan, Pakistan und anderen islamischen Ländern Streiks, Frauenbewegung und starke linke Klassenorganisationen den Einfluss religiöser Gruppen zurückgedrängt. Dieses Kräfteverhältnis wurde durch die systematische Förderung islamistischer Gruppen durch CIA und »imperialistische Kräfte« wieder zurechtgerückt. Mit der Revolution im Iran, den bewaffneten Aktionen in Algerien usw. schien sich die soziale Frage in den drei Kontinenten und der militante Islamismus zu verbinden.
Im letzten Jahrzehnt sind Millionen Menschen in die Städte gezogen und damit einfach aus den halbfeudalen, religiösen Strukturen auf dem Land weggegangen. In den Städten findet der religiös (keineswegs immer islamisch) verbrämte Faschismus seine Massenbasis bei denjenigen, für die Proletarisierung/Urbanisierung bloßes Elend bedeutet, weil sie (noch) nicht Arbeiterklasse geworden sind. Die lokalen Eliten und die Mittelschichten fühlen sich durch den »Westen« in ihrem Führungsanspruch zurückgesetzt, in ihrer 'Ehre' verletzt. Aus diesen Schichten rekrutieren sich die Kader und Führer dieser Bewegungen. Gerade weil diese Bewegungen sich einerseits als unterdrückt darstellen können und sich andererseits der »sozialen Frage« als internationaler, sogar globaler Anwalt der Betrogenen annehmen, sind sie der gefährliche Gegner jeglicher Emanzipation oder der Revolution überhaupt.
Dabei war die radikal-islamische Reaktion eigentlich schon auf dem Rückzug - nicht nur im historischen Sinn durch das Schwinden ihrer Basis durch Proletarisierung, Urbanisierung und Migration von Millionen in Asien und Teilen Afrikas, sondern auch aktuell: Die »islamische Republik« im Iran hat sich überlebt und sucht - gegen Modernisierung und Arbeiterkämpfe - nach Überlebensstrategien; in Algerien hat sich in den Aufständen dieses Jahres gezeigt, dass die FIS den Menschen keine Alternative bieten kann; in Indonesien konnten islamische Fundis zwar Gewerkschafter, Linke und vereinzelt Streiks angreifen und die Gesellschaft mit Mord und Totschlag verunsichern - gewannen aber trotz anhaltender wirtschaftlicher und politischer Krise nur einen geringen Masseneinfluss. Wie so oft sind auch diesmal die Anschläge Erscheinungen des Niedergangs einer Bewegung. Durch die (mit Sicherheit einkalkulierte) Reaktion der USA und der »westlichen Welt« auf die Anschläge erfahren sie nun die angestrebte Aufwertung - so wie Bin Laden vor allem durch die Cruise Missiles, mit denen die USA auf die Botschaftsanschläge in Afrika reagierte, erst zum Held im arabischen Raum wurde; oder so wie Saddam Hussein die Krise im Irak ohne den Golfkrieg 1991 politisch nicht überlebt hätte.
5.
Bei der Vorführung der USA als Papiertiger geht es nicht darum, den weltweiten Massen einen Ausweg aus ihrer Ohnmacht zu zeigen. Es geht darum, diese Ohnmacht für die eigenen Herrschaftsinteressen auszunutzen und sie zu befestigen.
Die »Heiligen Krieger« wollen nicht die Unterdrückung und Ausbeutung beseitigen. Sie wollen selbst in die Rolle der Unterdrücker kommen und wenn sie diese nicht haben können, dann wollen sie doch wenigstens an der Macht beteiligt werden. Für die Verelendeten, Vernachlässigten, Verhöhnten, Verhungernden und aufgrund fehlender emanzipatorischer Perspektiven Verzweifelten der Welt kann sich der Anschlag auf Symbole des Kapitalismus als Ausdruck ihres eigenen Schreis nach Gerechtigkeit darstellen. In diesem Sinne war der Anschlag politisch sehr genau gezielt. Die Massen der Welt (und um »Massenunterstützung« geht es den Faschisten) - nicht nur in den drei Kontinenten - haben die Verwundbarkeit des Weltpolizisten mit mehr oder weniger heimlicher Freude zur Kenntnis genommen. Von der Art, wie die USA und der weltweite Kapitalismus das Angebot zu einem globalen Krieg annehmen, wird es abhängen, wie stark der Einfluss der Jihad-Kämpfer und ihrer Chefs in Afrika und Asien und vielleicht darüber hinaus anwachsen wird.
6.
Faktisch hat der Anschlag die ganze Breite des globalen Proletariats getroffen: nicht nur hochverdienende Banker, sondern genauso das im WTC arbeitende internationale Dienstleistungsproletariat: Sekretärinnen, Putzpersonal, Leute aus Bangladesh, »Illegale« aus Kolumbien ... Trotzdem ist es dem Anschlag gelungen, eine Konfrontation innerhalb des globalen Proletariats zwischen Massenarmut und den Gewinnern der Kapitalentwicklung aufzubauen - die entsprechenden Berufsgruppen wie Medienleute, Broker, Staatsangestellte, Piloten (im weitesten Sinne »InformationsarbeiterInnen«) haben diese Kriegserklärung sofort in diesem Sinne angenommen und sehen »ihre Zivilisation« durch den »Fanatismus der Zukurzgekommenen« bedroht.
Damit werden zwei extreme Pole des Weltproletariats als feindliche Subjekte gegenübergestellt. Dahinter verschwindet der globale Zusammenhang der kapitalistischen Ausbeutung und das seit Beginn des Kapitalismus nur global existierende und über den Weltmarkt vermittelte Kapital- und Klassenverhältnis.
Die »Antiglobalisierungs«-Mobilisierungen hatten dieses globale Verhältnis und das allgemeine Unbehagen an der kapitalistischen Ordnung in den letzten Jahren verstärkt zum Ausdruck gebracht - aber auf eine falsche Weise. Statt die weltweite Einheitlichkeit dieses nur diffus formulierten Unbehagens zum Ausgangspunkt zu nehmen und in allen sozialen Kämpfen zum Tragen zu bringen, hatte sie trikontinentale Massenarmut gegen internationales Finanzkapital (und dessen personifizierten Träger) gestellt und den Gegner dort gesucht, wo er sich als »neoliberales« Monster zur Schau stellt. Die »Antiglobalisierungsbewegung« hat sich bisher noch nicht von dem Schock darüber erholt, dass sie folgerichtig sofort in einen geistigen Zusammenhang zu diesen Anschlägen gerückt wurde. Es scheint aber ausgemacht, dass sie ihr Terrain verändern muss, wenn sie an ihren - bisher nur begrenzten - kapitalismuskritischen Momenten festhalten will.
7.
So wie die islamistischen Reaktionäre mit dem Krieg ihre dahinschwindenden Machtpositionen wieder festigen wollen, so braucht der Kapitalismus des »freien Westens«, der heute zum »zivilisierten Norden« geworden ist, Krieg und Terror, um in Zeiten einer zusammenbrechenden Weltwirtschaft mit der Gefahr revolutionären Aufbegehrens umgehen zu können.
Als die Flugzeuge in die Türme des WTC und das Pentagon flogen, befand sich die Weltökonomie im Anfangsstadium einer ihrer wohl schwersten Krisen in der Geschichte des Kapitalismus. Nach den Finanzkrisen in Asien, Russland und Brasilien konnte die Flucht an die Börsen und der dadurch gespeiste Scheinboom einer »Neuen Ökonomie« und der schuldenfinanzierte Boom des Konsums in den USA die Weltwirtschaft vor dem Absturz bewahren. Aber schon vor dem 11. September war klar geworden, dass dies zu einem umso drastischeren Einbruch führen musste. Die Dramatik besteht darin, dass diesmal alle drei Zentren der Weltwirtschaft - USA, Japan und Europa - gleichzeitig in die Krise gehen und alle finanzpolitischen Steuerungsinstrumente längst ausgereizt sind. Wir haben somit eine Konstellation wie zuletzt Mitte der 60er Jahre - die Phase, als die USA den Krieg in Vietnam zu eskalieren begannen.
Angesichts der Anschläge war unter Ökonomen und Wirtschaftsbossen fast Erleichterung darüber zu spüren, dass sie nun einen Schuldigen für die kapitalistische Krise präsentieren und mit ihm alle unpopulären Maßnahmen wie Entlassungen, Arbeitsintensivierung oder Steuererhöhungen begründen können.
Von den vielen Fällen ethnisch oder religiös gefärbter Selbstzerfleischung der Verlierer, über die Aufstände von städtischen Massen in Afrika und Bauern in Lateinamerika zu den zahllosen Streiks in Indonesien, den Arbeiterkämpfen im Iran, den proletarischen Riots gegen die Austerity in Argentinien und nicht zuletzt die wachsende Unruhe im neuen WTO-Mitglied China: auch Bush weiß, dass die USA zu wenige Daumen hat, um die tausend Löcher im Damm zu stopfen, der die Neue Weltordnung noch gegen den wachsenden Druck des unhaltbaren Zustandes der Weltausbeutungspyramide schützt.
Mit den Anschlägen ist es ihm jetzt möglich, die Europäer mit ins Boot zu nehmen und die NATO für das globale Containment einzusetzen. Wichtig dabei ist vor allem die BRD, die eine der größten Armeen der Welt unterhält und jetzt, endgültig, mit in den globalen Krieg ziehen wird. Trotzdem handeln sie aus einer Situation der globalen Schwäche des Gesellschaftssystems, das sie überall - auf den drei Kontinenten wie im eigenen Hinterland - mühsam werden verteidigen müssen.
8.
Im Windschatten der äußeren Kriegsführung wird das entwickelt, worum es eigentlich geht: die weltweite Kriegsführung nach Innen. Dazu gehört auch die Überwindung der bisherigen Trennung zwischen dem Äußeren (zwischenstaatlichen) und Inneren (gesellschafts- und klassenpolitischen) Bereich, wie sie Außenminister Fischer formulierte.
Der Ausbau von militärischen Spezialeinheiten, mehr »Innere Sicherheit«, Staatsausgaben zur Ankurbelung, Steuererhöhungen, Umbau des Sozialstaates und Druck auf Arbeitslose, Verschärfung des Migrationsregimes - also all das, was sich schon zuvor angekündigt hatte, soll nun reibungsloser umgesetzt werden. Mit dem neuen »Schurken« können diese Maßnahmen ganz nach altem Muster durch den Krieg nach außen ergänzt werden, der die inneren Maßnahmen deckt und rechtfertigt. Abgeschwächt wird dies auch in Europa der Fall sein. Der Krieg nach außen wird sich aber anders darstellen als in der letzten Dekade: Der Feind ist diffus, unerklärt, unerkannt, überall, unter vielen Masken. Und er nützt die Armut aus. Der mehrjährige Krieg gegen den internationalen Terrorismus wird sich also als direkter Krieg gegen die weltweite Arbeiterklasse(n) entwickeln - mit allen Mitteln, auf allen Ebenen, innen und außen. Dafür hat die westliche Wertegemeinschaft den Scheck schon unterschrieben. Die EU-Kommission peitscht im Moment einen neuen, erweiterten und EU-vereinheitlichten »Terrorismus«-Begriff durch. In diesem Begriff ist so ziemlich alles zusammengefasst, was Kämpfe, die sich außerhalb der anerkannten Vermittlungen, wie Gewerkschaften, Parteien, etc. bewegen, ausmacht: von »städtischer Gewalt« über »Besetzungsaktionen« bis hin zu Störungen der Infrastruktur und des Internets.
Aber auch der Spielpartner wird vor nichts zurückschrecken. Die Unterschiede zwischen staatlichem und nicht- oder halbstaatlichem Terror werden sich noch stärker verwischen als bisher - vor allem dort, wo religiöse Fundis eine gewisse Stärke haben, wie im Mittleren Osten, Pakistan oder in Indonesien. Und ergänzend dazu wird ganz schnell Wirklichkeit werden, was Fischer und andere auf der UN- Generalversammlung im September 1999, also kurz nach dem Nato-Krieg in Ex-Jugoslawien, angekündigt haben: »Generalsekretär Kofi Annan hat zurecht dazu aufgerufen, eine 'Kultur der Prävention' zu entwickeln, um den Ausbruch von Kriegen und Naturkatastrophen künftig wirksamer zu verhindern. Die Nichteinmischung in 'innere Angelegenheiten' darf nicht länger als Schutzschild für Diktatoren und Mörder missbraucht werden. (...) Jeder weiß, wie schwierig der Übergang von der 'Kultur der Reaktion' zu einer 'Kultur der Prävention' sein wird. Es verlangt große Überzeugungskraft, um die politische und ökonomische Bereitschaft für Maßnahmen aufzubringen, die etwas verhindern sollen, was es hoffentlich niemals geben wird.«
9. Was tun?
Die Kriegsprogandamaschine läuft auf Hochtouren - ihr Erfolg ist aber nicht so durchschlagend, wie es gerne dargestellt wird; selbst in den USA ist der herbeigeredete Ansturm Jüngerer auf die Rekrutenbüros ausgeblieben. Möglicherweise hat der Anschlag die Leute jetzt wirklich zum Nachdenken gebracht, oder das Ausmaß der Verwüstungen und die als »Kollateralschaden« verharmlosten Toten in den vergangenen Kriegen am Golf oder im Kosovo haben die Kritikfähigkeit der Bevölkerung gegenüber militärischen Einsätzen erhöht ...
Es wird unterschiedliche Reaktionen geben: Ein Teil wird schmerzhaft entschlossen sein, sich auf die Seite des Krieges zu schlagen, um das zu verteidigen, was sie hier haben (während des Golfkrieges 1991 hat der Protest nachgelassen, als klar wurde, dass die Bomben »nur« im Nahen Osten fallen). Auf der anderen Seite könnte wieder eine Debatte über den Kapitalismus und die Möglichkeit der globalen Emanzipation der Menschen anfangen. Diese Debatte muss sich tatsächlich und erneut auf die weltweiten Kämpfe beziehen, indem sie sie erst einmal wahrnimmt und als den eigentlichen Motor der Geschichte begreift. Schließlich geht es darum, auf dieser Grundlage, Kämpfe gegen die Partner des weltweiten Kriegsspiels zu mobilisieren. Wenn die »Bewegung gegen die Globalisierung« eine Diskussion in diese Richtung entwickelt und diese Aufgaben anpackt, können sich ganz neue Perspektiven entwickeln.
Auf drei Ebenen können wir heute handlungsfähig werden:
a) In einer Mobilisierung nicht gegen diesen Krieg, sondern gegen Krieg - überall auf der Welt. Friedensbewegungen als Schutz des eigenen Wohlstands-Biotops haben eine unselige Tradition in Deutschland. Jede internationale Mobilisierung gegen Krieg auf der Welt kommt nicht umhin, in ihren Inhalten und Handlungsweisen einen Bruch mit all denen zu markieren, die die globale Ausbeutung verteidigen und den allgemeinen Klassenkrieg als »Frieden« bezeichnen. Zu diesem Bruch gehört die Unterstützung der massenhaft praktizierten Verweigerung des Kriegs durch Flucht und Migration.
b) Die Anschläge in den USA und der drohende lange Krieg führen auf der einen Seite zu autoritären Reaktionen und einem allgemeinen Rechtsruck; sie haben aber auch ein Klima geschaffen, in dem viel grundsätzlicher als bisher die Frage aufgeworfen werden kann, in was für einer Welt wir leben und wie wir sechs Milliarden Menschen in Zukunft zusammenleben wollen. Die bisherige Linke ist in dieser Situation gespalten zwischen dem Ruf nach den USA als dem letzten militärischen Retter der »Zivilisation«, dem fatalen Wiederaufleben eines traditionellen Antiimperialismus und einer neuen Debatte über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aktualität der Weltrevolution. Diese Debatte muss heute nicht nur geführt, sondern auch organisiert werden.
c) Die Funktion von Krieg als Mittel der Herrschaftssicherung besteht immer darin, die Menschen in ihre Ohnmacht vor den »großen Ereignissen« der Weltgeschichte zurückzustoßen und ihnen jede Perspektive der eigenen Gestaltung ihrer Geschichte zu rauben. Gegen eine Debatte, die jetzt auf dieser Ebene der Staatssubjekte mitmischen will (d.h. sich selbst dazu degradiert, an die Herrschenden zu appellieren), müssen wir radikal auf die Selbsttätigkeit der Ausgebeuteten in ihren Kämpfen - auch wenn sie angesichts der großen Weltpolitik noch so klein erscheinen mögen - setzen. Nur indem wir diese Kämpfe ernstnehmen, sie unterstützen und das in ihnen enthaltene emanzipatorische Potential aufgreifen, können wir dieser allgemeinen Selbstentmachtung, zu der Krieg und Kriegsangst führen sollen, entgegenwirken. Dazu gehört der revolutionäre Defätismus gegenüber dem Krieg, der auf die Niederlage aller beteiligten Kriegsparteien setzt.
Wildcat, 26.9.2001
Anmerkung:
[1] No Gun Ri: Im Korea Krieg erschiessen amerikanische Truppen im Juli 1950 bei No Gun Ri in Südkorea bis zu 400 zivile Flüchtlinge, weil sie meinen, darunter hätten sich getarnte Kommunisten versteckt. My Lai: Während des Vietnam Krieg werden im März 1968 über 100 Dorfbewohner von amerikanischen Truppen erschossen. Panama City: Im Dezember 1989 marschieren amerikanische Truppen angeblich auf der Suche nach dem Diktator Noriega, den sie früher unterstützt hatten, jetzt aber als Drogenbaron verhaften wollen, in Panama ein und ermorden in wenigen Tagen mehrere tausend Menschen in den Vorstädten von Panama City und Colon. Mutla Ridge: Truppen der Allierten schlachten am Mutla Ridge im Februar 1991 aus der Luft tausende aus Kuwait in Richtung Basra fliehende irakische Soldaten ab, die keine militärische Bedrohung darstellten (siehe dazu auch die Bilanz in Wildcat 57).
Texte und Links
|