05.08.2002 Piqueteros in Argentinien - Materialien

Colectivo Situaciones

Auszugsweise Übersetzung aus dem Untersuchungsentwurf

Borradores de Investigación 3, September 2001

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Es gibt keinen Kampf, der nicht selbst eine Art ist, die Dinge zu begreifen, eine Vorstellung von der Welt, ein Denken in Aktion. Deshalb ist gerade in Momenten der Verwirrung die politische Reflexion unter den GenossInnen wichtig, die die Erfahrungen von Kampf und Aufbau teilen. Gemeinsam nachdenken, versuchen zu verstehen, was vor sich geht, wie wir arbeiten, worin die Hindernisse bestehen, aber auch und vor allem gemeinsam darüber nachdenken, wer wir sind, was wir tun, auf welchem Weg wir uns befinden, was wir zusammen aufbauen, und worin die Radikalität und die Kraft unseres Kampfes und des Wissens über unsere Gegenmacht liegen. Als Beitrag dazu haben wir die vorliegende Arbeit verfasst, über die Ereignisse seit dem Ersten Nationalen Piquetero-Kongress bis zum Ende des dort beschlossenen Aktionsplans und der Durchführung des zweiten Kongresses. Wir wollen verstehen, welche Denkstrategien hier im Spiel waren, welche die ungelösten grundlegenden Fragen und Probleme sind, und wie wir aus dem Innern der Bewegung heraus die Fragen von Vertretung, Delegierung, Identität, Organisation und andere zentrale Fragen unseres Projektes angehen können.

1 Einleitung

Der sogenannte 'Erste Nationale Piquetero-Kongress' war ein Schlüsselmoment, um den derzeitigen Scheidepunkt verstehen zu können. Was sich dort versammelte, hätte eine zukünftige landesweite Koordination von Genossen sein können, die gemeinsame Forderungen und eine gemeinsame Kampfform haben: die Straßenblockade.

Dort trafen jedoch zwei sehr unterschiedliche politische Denkweisen aufeinander. Bei der Ausarbeitung des Aktionsplanes wurde klar, dass die piqueteros keine einheitliche, homogene und organisierte Bewegung sind. Vielleicht besteht das größte Problem überhaupt in dem Anspruch, eine Bewegung, die von Anfang an vielfältig, unterschiedlich und komplex war, zu 'verkürzen', sie auf eine einzige Sichtweise (und Vertretungsweise) zu reduzieren.

Wenn wir die beiden Hauptdenkweisen innerhalb der sogenannten Piquetero-Bewegung definieren sollen, würden wir auf der einen Seite bei den Anführern der strukturierteren Organisationen (FTV, CCC, u.a.) ein Denken in Begriffen wie 'Globalität' und 'allgemeinpolitische Lage' nennen; für die andere Seite stehen die Organisationen, die weniger strukturiert und mehr an ihren eigenen Erfahrungen im Stadtteil orientiert sind, und die eher in Begriffen von Gegenmacht, konkreten Veränderungserfahrungen und Situationen denken. Nach dem Kongress hat sich die Sichtweise der 'Allgemeinpolitischen Lage' unverhältnismässig stark durchgesetzt, was bei den Genossen, die in Begriffen ihrer eigenen konkreten Situation denken, zu einiger Verwirrung geführt hat.

2 Ein kleiner Überblick über die Ereignisse kann nützlich sein, um die Bedeutung dieser Debatte besser zu verstehen ...

Das Auftauchen der Piquetero-Bewegung ist bekanntlich eine Entwicklung, die mit dem Ende der ersten Regierung Menem (Mitte der 90er Jahre) begonnen hat. Ihre Hauptmerkmale sind folgende:

  • Das Phänomen der piqueteros entsteht ausserhalb der politischen und gesellschaftlichen Institutionen wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften usw. Es handelt sich nicht nur um eine unabhängige Entwicklung, sondern diese Unabhängigkeit steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem schlechten Ruf dieser Institutionen und ihren spärlichen Fähigkeiten, mit denen sie keine Veränderungen der kapitalistischen Herrschaftsstrukturen mehr vorschlagen können, und einem wachsenden Teil der Bevölkerung noch nicht einmal mehr minimalste Lebensbedingungen bieten können.
     
  • Der Kampf der piqueteros verbreitet sich von der Periferie zum Zentrum des Landes hin.
     
  • Er entsteht aus einer postindustriellen Landesstruktur, durch die sich Millionen von Menschen außerhalb der Fabriken wiederfinden. Die Konfliktlinie verschiebt sich von daher zu dem Teil des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, der sich außerhalb des Produktionsprozesses der Fabriken entwickelt. Die Effektivität der Straßenblockade besteht in ihrer Fähigkeit, die Zirkulation von Waren und Arbeitskräften zu unterbrechen, den Knotenpunkt dieses Akkumulationsprozesses.
     
  • Ihre Effektivität entsteht ebenfalls aus dem Angriff auf die Legitimation der Politik, eine weitere Bedingung für den Akkumulationsprozess des Kapitals.
     
  • Mit den Blockaden hängt auch eine andere Art von Effektivität zusammen: ihre Tendenz zu basisdemokratischen Versammlungen, die in starkem Maße zur Politisierung beiträgt.
     
  • Seit den spontanen Volksaufständen wie dem Santiagueñazo 1994 sind die Blockaden zu populären Kampfformen geworden.
     
  • Die soziale Zusammensetzung hat sich verändert. Zunächst sind es die sogenannten 'strukturellen neuen Armen' und verarmte Mittelschichten, dann immer marginalisiertere soziale Gruppen.
     
  • Die Bewegung ist Ausdruck der Entstehung eines sozialen Subjektes, das schnell die Effektivität einer konkreten Kampfform, der Blockade, begriffen hat, und sie in nur wenigen Jahren verallgemeinert hat.
     
  • Dazu gehört ein Ausmaß an Basisgewalt, wie es seit der letzten Diktatur nicht mehr vorgekommen ist. Während der Regierung Alfonsín (1983-89) wurde jegliche Gewalt der Basis kriminalisiert und als putschistisch und schädlich für die Demokratie diffamiert. Während der Regierung Menem hat die Basisgewalt (wie der Santiagueñazo) nie das Niveau an Organisation und Legitimität erreicht wie die aktuellen Kämpfe.
     
  • Diese Gewalt äußert sich als Selbstverteidigung. Als solche tritt sie massenhaft und mit großer Legitimität auf. Es ist keine organisierte Gewalt einer zentralisierten Organisation, und sie hat auch nicht die Machtübernahme zum Ziel.
     
  • Die Blockaden sind ein Phänomen von großer Vielfältigkeit, ohne Einheitsorganisationen oder Anführer, die im Überbau verankert sind. Sie haben keine Imageberater oder Regierungsprogramme. Ihnen fehlt ein alternatives 'Modell'. Auch wenn sie eine - spontane - Ausdrucksweise haben, die im Fernsehen sehr wirkungsvoll ist, verfügen sie andererseits über keine Berater, die ihnen empfehlen würden, welches Image sie sich nach den herrschenden Modalitäten am besten zulegen. Genau darin liegt ihre Kraft.
     
  • Aus all diesen Gründen sind die piqueteros in sich heterogen: sie sind nicht gleich, und sie denken nicht in gleicher Weise über sich.
     

In wenigen Jahren sind die Blockaden zur vorherrschenden Kampfform geworden und haben sich wegen ihrer Effektivität durchgesetzt. Die Regierung wußte angesichts der Vervielfachung der Konfliktherde nicht mehr weiter. Später, als die Bewegung Form annahm, wurde eine Verhandlungsinstanz geschaffen, die die Möglichkeit eines Dialoges zwischen sich gegenseitig anerkennenden Verhandlungspartnern garantiert hat.

In einer ersten Phase begegnete die Regierung dem Phänomen mit Geringschätzung. Der Einfluss der piquetero-Kämpfe ging gerade mal so weit, interne Streitigkeiten zwischen Zentral- und Provinzregierungen über Sozialhilfekosten oder die politischen Kosten der Repression auszulösen. In den Zeitungen konnte man häufig Erklärungen lesen mit dem Tenor: »da es sich um ein Provinzproblem handelt, sollen sich die Gouverneure darum kümmern«. Aber die Blockaden breiteten sich aus: es wurde immer häufiger nach der Gendarmerie gerufen, die Mittel wurden knapp, und die Blockaden näherten sich gefährlich der Hauptstadt. Die Medien machten auf diese Situation aufmerksam, und Banker und rechte Kräfte riefen offen nach Repression.

Im Norden Argentiniens wurden die Blockaden zu Massenphänomenen von langer Dauer. Mit der Regierung der Alianza (De La Rúa 1999) verhärteten sich die Konflikte und die Repression forderte erste Todesopfer. Im Juni fand der Kampf um die Blockade in Mosconi im ganzen Land Widerhall. Die Gendarmerie schlug aufs Härteste zu und die piqueteros leisteten entsprechenden Widerstand.

In der Provinz Buenos Aires beginnen einige soziale Organisationen, die auf eine Kampfgeschichte von Landbesetzungen, kleinen Kooperativen und Selbsthilfen, Stadtteilvereinen und christlichen Basisgemeinden zurückblicken, Blockaden im Süden der Stadt und in La Matanza zu organisieren, wo eine beachtliche soziale Kraft entsteht. Die Federación Tierra y Vivienda (FTV), die dem Gewerkschaftsdachverband CTA angehört, die Corriente Clasista y Combativa (CCC) und der Polo Obrero / Partido Obrero sind die strukturiertesten Strömungen mit gemeinsamen Strategien. MTD (Movimiento de Trabajadores Desocupados), MTR (Movimiento Teresa Rodríguez), UTD (Unión de Trabajadores Desocupados), CTD (Coordinadora de Trabajadores Desocupados) und andere Gruppen stehen in einem aktiven Prozess der Identitätsfindung und sind auf der Suche nach eigenen Formen.

Im Süden der Stadt kommt es zu einer bisher nicht gekannten Machtdemonstration. Aus Solidarität mit der Blockade in General Mosconi (Provinz Salta) machen sie die Zugänge zur Hauptstadt dicht, um den sofortigen Rückzug der Gendarmerie aus General Mosconi zu fordern, und zur Ehre der Toten, die durch die Kugeln der Gendarmerie gestorben sind. Die MTD und CTD haben kürzlich die Coordinadora de Trabajadores Desocupados Aníbal Verón gegründet.

3 Der Aufruf zum ersten Vereinigungsversuch

Ende Juli wird - unter der Parole 'Einheit im Kampf' - zum Ersten Nationalen Piquetero-Treffen in einer Kirche in La Matanza aufgerufen. Aus fast allen Teilen des Landes nehmen GenossInnen teil, mit unterschiedlichen Erwartungen: die einen sehen hier den Ort, Kräfte zu bündeln; andere setzen darauf, die Bewegung zu institutionalisieren, und die Organisationen aus dem Landesinneren, die keine Verbindungen zu landesweiten Organisationen haben, kommen mit konkreten Problemen und Erfordernissen ihrer Kämpfe und wollen die Isolierung überwinden. Kurzum, eine Vielzahl von Bedürfnissen und Erwartungen aus der Perspektive der jeweiligen Kämpfe.

Entsprechend der Erwartungen, mit denen sie gekommen waren, nahmen die GenossInnen die Spannungen auf dem Kongress unterschiedlich wahr. Das zeigte sich bei einigen Vorkommnissen: die Organisatoren hatten z.B. nicht erwartet, dass eine Gruppe von Abgeordneten, die zum Publikum sprechen wollten, wegen der ausdrücklichen Ablehnung durch die 2000 Delegierten piqueteros nicht das Wort ergreifen konnten. Der Generalsekretär der CGT disidente Hugo Moyano wird lautstark zurückgewiesen, als er versucht, eine Grußadresse an den Kongress zu verlesen.

Bei dem Treffen, das unter der Prämisse eines einheitlichen Aktionsplans einberufen worden war, ist es nicht gelungen, die ganze dort versammelte Kraft zu entfalten. Die verschiedenen anwesenden Tendenzen blieben gefangen in der Logik der Insitutionalisierung und des Versuchs, der Vielfalt, die sich dort traf, 'ein Format zu geben'. Das »als ob« setzte sich durch: »tun wir so, als ob alle Vorschläge diskutiert wären«, »als ob wir dafür wären, dass alle zu Wort kommen«, »als ob wir vereint wären, weil wir einen Aktionsplan haben«. So gingen mit der Durchsetzung dieser klassischen politischen Rationalität diejenigen als stärkste Kraft hervor, die durch die Logik ihrer Denkweise, ihr Festhalten an herrschenden Politikformen und ihr Bedürfnis nach Macht ihre Ziele klarer hatten, auch unabhängig davon, was wirklich auf dem Kongress passiert ist.

Der allseits bekannte Aktionsplan, der dabei herauskommt, beinhaltet einen Stufenplan von Blockaden über fast einen Monat, mit drei Forderungen: Freiheit für die gefangenen Kämpfer der sozialen Bewegungen, Beschäftigungsmaßnahmen, sowie das Ende der neoliberalen Strukturanpassungspolitik der Landesregierung. Die strukturiertesten Organisationen drücken ihre Politik durch, als gäbe es keine andere. Luis D'Elía (CTA-FTV) und Juan Carlos Alderete (CCC) schaffen es, sich zu den ersten Vorsitzenden einer Bewegung zu machen, die gerade erst anfängt, sich als solche zu begreifen.

Unmittelbar nach dem Kongress setzt sich die Dynamik der Institutionalisierung der piquetero-Bewegung in Gang. Die Regierung ruft die piquetero-Anführer zum Dialog auf. Die gehen darauf ein. Danach geben sie in einer Pressekonferenz die neuen Modalitäten für die Blockaden bekannt: »keine Vermummung« und »keine vollständige Sperrung der Straße«. Wer sich nicht an diese Anweisungen der Bewegungssprecher hält, wird als Staatsschutzagent und eingeschleuster Provokateur diffamiert.

Diese Operation Institutionalisierung hat gleichzeitig den Effekt, der Regierung dauerhafte Gesprächspartner anzubieten (die ihr bisher gefehlt hatten); damit werden der politische Überbau als wichtigstes Kampfgebiet und die staatlichen Regeln des politischen Spiels akzeptiert: dauerhafte Vertreter, klare und verhandelbare Forderungen, und eine gewisse Fähigkeit der 'Vertreter', die eigene Basis zu kontrollieren. So wird die Rolle des Staates als zentrale Instanz zur Regelung politischer Konflikte bestätigt. Die Möglichkeiten, in den Kämpfen konkrete Verbindungen von Gegenmacht und von der Basis aus Alternativen einer neuen Gesellschaftlichkeit aufzubauen, werden dem untergeordnet.

Der erste Aktionstag war ein Massenereignis. La Matanza wurde zum Angelpunkt der Bewegung. Im Süden fügen sich die MTD nicht allen Diktaten ihrer obersten Anführer: sie vermummen sich. Und die Bewegung Teresa Rodríguez MTR überfällt eine Bank. Für das Fernsehen ist damit eine radikale guerillaähnliche Gruppe aufgetaucht. Der erste Aktionstag zeigt, dass die Bewegung ziemlich unter Kontrolle ihrer Sprecher und Vertreter steht. Es kommt zu keinen Ausschreitungen. Ohne die CGT disidente von Moyano ist die Beteiligung am Streik, den die CTA ausgerufen hat, nicht sehr groß.

Der zweite Aktionstag ist schwächer. Er endet mit einer Demonstration zur Plaza de Mayo, die sich auf die Mobilisierungsfähigkeit des Gewerkschaftsdachverbandes CTA und ihrer wichtigsten Gewerkschaften stützt. La Matanza bleibt weiterhin das Zentrum der Proteste, obwohl sich eine Distanz zwischen Anführern und Geführten andeutet. Die Masse geht zur Blockade, hört sich aber nicht die Reden an und demonstriert auch nicht massenhaft zur Plaza. Die MTR (Teresa Rodíguez) hatte wenige Tage vorher das Arbeitsministerium der Provinz Buenos Aires besetzt. Beim Verlassen des Gebäudes wurden fast sechzig Mitglieder der Bewegung, darunter einige ihrer Anführer, festgenommen. Deshalb fahren die MTD und CTD bei dem 48-stündigen Aktionstag nicht zur Plaza de Mayo sondern nach La Plata, um die Freilassung ihrer eingeknasteten Genossen zu fordern. Dort wird die Coordinadora de Trabajadores Desocupados Aníbal Verón öffentlich vorgestellt.

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