19.12.2002 Revolutionäre Situation in Argentinien?

Zum 19./20. Dezember, ein Jahr nach dem Aufstand:

Revolutionäre Situation in Argentinien?

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Seit die ArgentinierInnen vor einem Jahr mit einem Aufstand mehrere Regierungen gestürzt haben, richten sich einige Hoffnungen auf dieses ehemalige Musterland des 'Neoliberalismus'. Der Absturz des Landes in eine dramatische Krise zeigt, dass das System keine Lösung mehr zu bieten hat. Aber vor allem zeigen neue Bewegungen, dass es auch anders gehen könnte. Die Frage nach einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft steht dort auf der Tagesordnung und wird buchstäblich auf der Straße diskutiert. Steht Argentinien vor einer revolutionären Situation?

Seit dem Aufstand haben sich verschiedene Bewegungen entwickelt und radikalisiert, die mit dem Selbstbewußtsein auftreten, dass sie staatliche Pläne verhindern können, und dass sie in der Lage sind, gegebenfalls auch wieder die Regierung zu stürzen. Sie erobern den öffentlichen Raum zurück und sind bereit, sich mit der Staatsgewalt anzulegen.

Aber sie wollen nicht die Staatsmacht. Nur trotzkistische Parteien schlagen sehr traditionell die Übernahme der Macht und eine Arbeiterregierung vor. In diesem Jahr hat sich weder eine parlamentarische Alternative mit Massenbasis entwickelt, noch eine Bewegung, die den Staatsapparat übernehmen will. Aus dem Aufstand gegen die Regierung ist ein Aufstand gegen die Politik geworden. »Que se vayan todos« - Sie sollen alle abhauen: das ist nach wie vor die Hauptparole, die verschiedenste Bewegungen vereint. In Politiker hat niemand mehr Vertrauen. Die Parole drückt nicht nur den Hass auf die korrupten Politiker aus, sondern eine Ablehnung von traditioneller Politik als solcher, von Delegierung und Repräsentation. Die neuen Bewegungen organisieren sich horizontal, ohne AnführerInnen. Sie setzen auf Versammlungen statt auf Hierarchien, und die AktivistInnen reagieren allergisch auf alles, was nach Institutionen oder Apparaten riecht. Der Staat hat seine Legitimation verloren.

Diese neue Art von Aufstand und Bewegung hat Begeisterung ausgelöst. Bei Treffen der Antiglobalisierungsbewegung werden VertreterInnen von argentinischen Gruppen mit riesigem Beifall begrüßt; das Europäische Sozialforum in Florenz installierte per Internet eine Direktschaltung zu einer asamblea in Buenos Aires. Nachdem die GlobalisierungsgegnerInnen so oft gegen die Symbole der internationalen Finanzinstitutionen angestürmt sind, sehen sie in dem realen Widerstand, der jetzt in Argentinien gegen die Folgen dieser Politik sichtbar wird, einen greifbaren Hoffnungsschimmer. Sie haben den 20. Dezember, den Jahrestag des Aufstands in Argentinien, zum Global Action Day erklärt.

'Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen' - John Holloway sieht diese Vision in den argentinischen Bewegungen Wirklichkeit werden. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines gleichnamigen Buches, die vor Kurzem erschienen ist, wird auf drei Ereignisse verwiesen, die die Bedeutung dieses Ansatzes unterstreichen. Der 11.9. und seine Folgen zeigten mehr denn je die Notwendigkeit, und der 'argentinazo' sowie das Weltsozialforum in Porto Alegre den Weg zu einer solchen Weltveränderung. Holloway betont das 'Nein' des Aufstands, vergleicht es mit dem 'Ya Basta' der Zapatistas, und sieht in Argentinien zum ersten Mal den Zapatismus in den Städten ankommen. Gegen die falsche Gemeinschaft, die jeder Staat verkörpert, stellt er den Aufbau einer Gesellschaftlichkeit ohne Aufseher, in der kollektive Überlebensformen jenseits des Kapitals entwickelt werden. Er weist allerdings auch auf die Gefahren hin: dass eine Revolte, die nicht in Revolution übergeht, nicht überleben kann, und dass die selbstorganisierten Projekte wieder in kapitalistische Formen integriert werden können, wenn der Kampf nachlässt.

In Buenos Aires hat das Colectivo Situaciones schon im Dezember letzten Jahres die 'neue Art von Aufstand' analysiert und begrüßt [1]. Die Leute vom Colectivo Situaciones bezeichnen sich selbst als Militante UntersucherInnen, sie beschäftigen sich mit sozialen Bewegungen und theoretisch seit längerem mit Negri. Die viel diskutierte 'Gegenmacht' wurde nun plötzlich auf der Straße sichtbar. Auch das Colectivo betont die Führungslosigkeit des Aufstands, die Vorreiterrolle der Basis und das klare 'Nein', das kein alternatives Modell vorschlägt und nicht zu staatlicher Macht wird. Den zentralen Schlüssel für die neue Radikalität sehen sie in der Vielfalt. Die Netze von Erfahrungen und Begegnungen, die aus dieser Vielfalt entstanden sind, würden eine Gesellschaftlichkeit jenseits des Korsetts von Staat und Markt ausprobieren. Ihr Artikel 'Die Parallelgesellschaft; eine Revolution in der Wüste' [2] provozierte letztens auf Indymedia Argentina einen wütenden Kommentar: Die wirtschaftspolitische Macht sei nicht nur nicht abgehauen, obwohl es doch so heftig gefordert würde, sondern sei im Gegenteil dabei, ihre institutionellen Strukturen zu reorganisieren - während Kinder an Unterernährung sterben, die Polizei immer noch mordet, aus den Fabriken weiterhin ArbeiterInnen entlassen werden, die Tarife steigen usw. - »denn sie haben die Macht«. Man muss die Ansicht dieses Autors, dass es nun darum ginge, die Macht zu übernehmen, nicht teilen. Aber der Hinweis darauf, dass sie noch keinesfalls besiegt ist, ist leider angebracht.

Die beiden antistaatlichen Positionen haben den großen Vorteil, dass sie sich auf der Suche nach neuen Ansätzen sehr genau mit den Subjekten der Bewegungen beschäftigen und auseinandersetzen. Leider beschäftigen sie sich dagegen kaum mit den realen Verhältnissen von wirtschaftlicher und staatlicher Macht. Trotz aller Krise und Bewegung funktioniert aber der Kapitalismus auch in diesem Land noch irgendwie weiter, die Gesellschaft reproduziert sich auf kapitalistischer Basis, und die ArbeiterInnen sind als solche nicht am Aufstand beteiligt. Solange die Produktionsverhältnisse nicht angetastet werden, ist eine grundlegende Umwälzung wohl kaum denkbar. Aus dieser tatsächlichen Begrenztheit ziehen manche Verfechter des Klassenkampfes den Schluss, die Bewegung als Aufstand von 'Kleinbürgern' und 'Lumpenproletariern' abzuhaken. Solche Schubladenkategorisierungen (die meist von völliger Unkenntnis der sozialen Verhältnisse in Argentinien geprägt sind) helfen in keiner Weise weiter. Für die Frage, wo die revolutionäre Kraft herkommen könnte, ist schon ein genauerer Blick auf die Klassenverhältnisse angesagt.

Wir zeichnen im Folgenden den Absturz der argentinischen Ökonomie in die Krise nach, und wie dieser die sozialen Verhältnisse in der Arbeiterklasse Argentiniens durcheinandergerüttelt hat. Auf dieser materiellen Grundlage sind die derzeitigen neuen Bewegungen entstanden, und auf diesem Hintergrund können wir ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit besser begreifen (und davon lernen). Sind darin Schritte in Richtung Revolution zu erkennen? Oder ist die Frage so schon falsch gestellt und müsste eher lauten: Welche Rolle spielt die Arbeiterklasse Argentiniens in der Weltwirtschaft, und wie können wir in diesem Gesamtzusammenhang die Macht entwickeln, die mit der alten Macht Schluss macht?

Argentiniens Absturz in die Krise

Bis Ende der 90er Jahre ist es den Krisenverwaltern gelungen, die Polarisierung in Argentinien aufrecht zu erhalten. Die piqueteros konnten zwar immer wieder große Blockadeaktionen organisieren, blieben aber gegenüber einer breiten 'Mittelschicht' marginalisiert und isoliert. Durch den Krisenabsturz der letzten vier Jahre haben sich die Lebensbedingungen in kürzester Zeit angeglichen. Die Krise hat dem Bezug auf den Staat den Sinn genommen: keine Gruppe kann mehr hoffen, durch Verhandlungen mit der Staatsgewalt bessere Bedingungen für sich rauszuschlagen. Aus dem allgemeinen Absturz entsteht die allgemeine Parole: Que se vayan todos.

Argentinien war Mitte der 70er Jahre ein hochindustrialisiertes Land, mit hochqualifizierten und für Lateinamerika sehr gut bezahlten ArbeiterInnen. Die importsubstitutionierende Industrialisierung ist hier mit dem Aufbau einer Konsumgüterindustrie gelungen. Eine Investitionsgüterindustrie entstand jedoch nicht; Maschinerie wurde importiert. Die Industrieprodukte wurden hauptsächlich auf dem Binnenmarkt abgesetzt. Exportiert wurden (und werden) vor allem Öl und landwirtschaftliche Produkte. (Mit abnehmender Kaufkraft steigt der Export, z.B. von Milchprodukten, während der Pro-Kopf-Verbrauch im Land sinkt und Kinder hungern). Trotz hoher Agrarproduktion arbeiten in der Landwirtschaft prozentual weniger Menschen als hier (Argentinien 0,8% - BRD 2,8%). 89% der Menschen leben in Städten (BRD 87%).

Argentinien hat eine lange Geschichte von Arbeiterkämpfen. Der letzte Kampfzyklus wurde 1976 mit der Militärdiktatur beendet, während der 30 000 Menschen 'verschwanden'. Die meisten Opfer waren gewerkschaftlich und politisch aktive ArbeiterInnen [3]. Im Schatten der Militärs begann der neoliberale Angriff auf die Arbeiterklasse, der von den folgenden Zivilregierungen fortgeführt wurde.

Nach innen waren vor allem die Ölarbeiter und die Beschäftigten von Telefongesellschaft, Bahn und Wasserwirtschaft von den Privatisierungen betroffen. Die staatliche Erdölgesellschaft YPF und die Telefongesellschaft wurden an spanische Multis - Repsol und Telefónica - verkauft. Schon im Vorfeld der Privatisierungen kam es dort zu Massenentlassungen.

Nach außen wurden Zollbeschränkungen abgebaut und der Markt liberalisiert. Billiglohnimporte aus Asien und subventionierte Importe aus den USA und der EU führten zum Abbau nationaler Industrie. Die 1:1-Parität des Peso mit dem Dollar, die 1991 eingeführt wurde, begünstigte ebenfalls Importe. Aus Produktionsunternehmen wurden Importeure und Händler. Die Privatisierung des Transports führte zu Verteuerungen und Streckenstilllegungen, was wiederum die Klein- und Mittelbetriebe in den Provinzen in Mitleidenschaft zog, deren Zugänge zu Zulieferern und Märkten gekappt oder verteuert wurden. Staatliche Subventionen flossen in das Großkapital, nicht in produktive Investitionen von Klein- und Mittelbetrieben.

Lebensmittel-, Textil- und Konsumgüterindustrie gehen zurück. Durch die Massenentlassungen in der Ölindustrie stürzen ganze Ortschaften ins Elend ab. Die Entlassungen beginnen Ende der 80er Jahre in den Provinzen, und kommen zehn Jahre später in den Industrievororten von Buenos Aires an.

Seit dem Kriseneinbruch 1998 hat sich der Abbau der Industrie beschleunigt und verschärft. Seitdem sind 30% der Arbeitsplätze abgebaut worden; von einer Million IndustriearbeiterInnen Anfang der 90er Jahre sind noch 630 000 übriggeblieben, Tendenz fallend. In Argentinien findet sich die weltweit höchste Konzentration von arbeitslosen IndustriearbeiterInnen.

Die Staatsangestellten des Öffentlichen Dienstes waren von dem neoliberalen Angriff weniger betroffen. Sie konnten ihre Position - auch durch Streiks - halten. Die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst steigt bis Ende der 90er Jahre sogar noch an. Auch der Bausektor bleibt bis dahin stabil.

Im Laufe der 90er Jahre kommt es so zu einer Polarisierung. Während die entlassenen Öl- und Fabrikarbeiter zu Langzeitarbeitslosen und Armen werden, kann die sogenannte Mittelschicht ihren Lebensstandard halten. Zur Mittelschicht zählen sich in Argentinien alle, die über einen Job mit geregeltem Einkommen verfügen, auch die noch beschäftigten IndustriearbeiterInnen. Die Reallöhne bleiben bis Ende der 90er Jahre stabil, und in der zweiten Hälfte der 90er kommt es sogar noch zu einem Boom in der Autoindustrie, für den Binnenmarkt. Das Proletariat differenziert sich in arbeitslose Verlierer und in noch beschäftigte Besitzstandswahrer. Auf der anderen Seite stehen die Absahner: die Reichen werden immer reicher.

Mit dem Kriseneinbruch 1998 kommt es jedoch zu einer beispiellosen Massenverarmung und Proletarisierung vorher relativ gutsituierter Leute. Löhne und Kaufkraft sinken dramatisch, v.a. seit der Peso-Abwertung Anfang dieses Jahres. Mehr als die Hälfte der 36 Millionen ArgentinierInnen leben inzwischen unter der Armutsgrenze. Die Einkommen der Mittelschichten reichen zum Lebensunterhalt nicht mehr aus. Sämtliche Familienmitglieder müssen einen oder mehrere Jobs machen. Fast 20% der IndustriearbeiterInnen und mehr als 15% der offiziell Beschäftigten in Handel und Bau leben unterhalb der Armutsgrenze.

 

Verteilung der lohnabhängig Beschäftigten (im Jahr 2000, nach ILO)
Lohnabhängige insgesamt 5 975 900
Industrie892 000
Bau333 200
Handel / Dienstleistung912 600
Transport525 900
Öffentlicher Dienst631 800
Schule578 100
Krankenhaus389 600
Beschäftigte in Privathaushalten500 000
  
Selbständige ArbeiterInnen1 789 500

 

Die informelle Arbeit macht nach offiziellen Angaben 41% der Beschäftigung aus. Neue Berufe haben Konjunktur. In der Provinz BS.AS. kommen auf 45 000 staatliche Sicherheitskräfte mehr als 70 000 private Wachleute, von denen mehr als die Hälfte schwarz arbeiten. Jede Nacht kommen 40 000 Menschen aus den Außenbezirken nach BS.AS., um aus den Mülltüten am Straßenrand Papier und andere verwertbare Stoffe herauszusortieren. Die Hälfte von ihnen waren vor einem Jahr noch ArbeiterInnen oder Angestellte. Da man heutzutage in der Fabrik nie weiß, ob man wirklich Lohn bekommt - die Lohnrückstände betragen oft 3-6 Monate - werden die Sofortpesos für Altpapier zur besseren Alternative. Die Zahl der Menschen, die Armutsarbeiten wie Kartonsammeln oder Straßenverkauf machen, ist seit 1998 um 773 000 auf 1,8 Millionen gestiegen.

Der Kriseneinbruch hat in Argentinien zu einer Homogenisierung der Lebensbedingungen auf niedrigstem Niveau geführt. Während der Staat in den 90er Jahren einem Teil der Klasse noch ein erträgliches Leben bieten konnte, hat er heute für keine Gruppe eine Lösung anzubieten. Das erklärt wohl am ehesten die kollektive Ablehnung des Staates, die sich seit einem Jahr in der Parole 'Que se vayan todos' ausdrückt.

Zum Stand der Bewegung, ein Jahr nach dem Aufstand

Oder: warum piqueteros keine LumpenproletarierInnen und bei den asambleas nicht nur KleinbürgerInnen aktiv sind, und warum besetzte Betriebe noch kein Kommunismus, aber vielleicht doch ein Schritt in die richtige Richtung sind.

Piqueteros

Die organisierten Arbeitslosen sind die derzeit stärkste Bewegung der Arbeiterklasse in Argentinien. Der Begriff piqueteros taucht zum ersten Mal im Juni 1996 auf, in der Provinz Neuquén, einer der Provinzen, in denen Erdöl gefördert wird. In den kleinen Ortschaften Cutral Co und Plaza Huincal (58 000 EinwohnerInnen) wurden nach der Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft 4000 Arbeiter entlassen. Als der Vertrag mit einer Düngemittelfabrik platzt, und damit auch das Versprechen auf neue Arbeitsplätze, kommt es in den Orten sechs Tage lang zu einem Aufstand. Die Hälfte der BewohnerInnen ist daran beteiligt. Sie blockieren sämtliche Zufahrten zu den Orten und zur Raffinerie mit massiven Straßensperren. Die piquetes - eigentlich: Streikposten - sind erfunden. Schon in diesem Aufstand liegt die Entscheidung über das Vorgehen bei Versammlungen von bis zu 5000 Leuten, und Politiker haben das Problem, dass sie keine Ansprechpartner für Beschwichtigungsverhandlungen finden.

Im folgenden Jahr, im Mai 1997, wird in der nördlichen Provinz Jujuy die Brücke, die die Hauptverbindung zwischen Argentinien und Bolivien bildet, vier Tage lang blockiert - nachdem der Vorzeigebetrieb der Provinz, die Eisen- und Stahlwerke Aceros Zapla im Zuge der Privatisierung von 5000 auf 700 Beschäftigte reduziert worden waren. Zollsenkungen und Billigimporte ließen weitere Industriearbeitsplätze verschwinden. Die Blockaden dehnen sich auf weitere Provinzen aus. Präsident Menem führt die Planes Trabajar ein, eine Art ABM-Programm für Arbeitslose.

Manche piqueter@s haben ihr ganzes Leben in Armut verbracht und im informellen Sektor gearbeitet, als StraßenverkäuferInnen, Gelegenheitsarbeiter oder Hausangestellte. Aber viele andere sind ehemalige IndustriearbeiterInnen, die in der Öl-, Metall- und Textilindustrie gut verdient haben und über gewerkschaftliche Erfahrung verfügen. An den piquetes beteiligen sich auch Noch-Beschäftigte. Es geht meist nicht nur um Forderungen von Arbeitslosen, sondern auch um ausstehende Löhne von Staatsangestellten, um Wohnungen für Obdachlose, usw. Nach weiteren Aufständen in nördlichen Provinzen, an denen auch Transport- und Bauarbeiter beteiligt sind, kommt die Bewegung im Jahr 2000 in der Hauptstadt an, in La Matanza, einem Vorort, in dem zwei Millionen Arme zwischen hunderten von stillgelegten Fabriken leben. Hier finden die größten Blockaden statt.

2001 ist das Jahr der landesweiten Organisierung der piqueteros. Sie halten zwei Kongresse ab, in denen vor allem klar wird, dass sie alles andere als ein einheitlicher Block sind. Trotzdem gelingt es ihnen, sich auf die Ablehnung von Politikern und Gewerkschaften zu einigen, und auf landesweite Aktionspläne.

Die dritte Versammlung, die für Dezember 2001 geplant war, kommt nicht zustande, da eine Fraktion (CTA / CCC) angefangen hat, mit der Regierung zu verhandeln.

Anfang 2002 sind mehr als 200 000 piqueteros organisiert (eigentlich eher piqueteras, denn die Frauen sind in der Mehrheit). Drei Strömungen haben sich herausgebildet [4]. In dieser 'Vielfalt' finden sich die aktuellen politische Differenzen wieder - von klassischer Lobbypolitik über traditionelle Parteivorstellungen von Machtübernahme bis hin zur Weltveränderung ohne Macht:

  • Piqueteros, die im Gewerkschaftsdachverband CTA und in der ML-Gruppe CCC organisiert sind. Sie sind hierarchisch organisiert, verhandeln mit der Regierung, und sind bereit, sich von angeblich gewalttätigen piqueteros zu distanzieren.
     
  • Bloque Nacional Piquetero. In diesem Block haben sich die piqueteros zusammengeschlossen, die linken Parteien nahestehen.
     
  • CTD Aníbal Verón. Koordination von piquetero-Gruppen, die großen Wert auf ihre Unabhängigkeit von Parteien und Gewerkschaften legen, und mit dem Aufbau eigener Betriebe als Selbsthilfeprojekte ein Konzept von Gegenmacht im Stadtteil verfolgen.

 

Asambleas

Die Stadtteilversammlungen sind aus dem Aufstand entstanden, der für viele die erste Erfahrung von Straßenmobilisierung und politischer Aktion war. Sie sind grundsätzlich öffentlich und finden im öffentlichen Raum statt. Zuerst auf der Straße, und mit dem Beginn des Winters haben asambleas für ihre Versammlungen leerstehende Gebäude besetzt, wo sie außerdem solidarische Überlebensprojekte wie Volksküchen, selbstorganisierte Bäckereien für billiges Brot oder Medikamentenproduktion zu erschwinglichen Preisen betreiben.

Mit ihrer Proletarisierung hat die Mittelschicht ein neues Verhältnis zu piqueteros und Armen entwickelt. Solange sie sich das Autofahren noch leisten konnten, haben sich manche über die Blockaden der zerlumpten piqueteros aufgeregt. Heute applaudieren sie, wenn die piqueteros zu den gemeinsamen Demonstrationen auftauchen. Die Mittelschicht hat die Organisations- und Aktionsformen der piqueteros übernommen, die asambleas und die Straßenblockaden. Die asambleas haben den Spaß am Widerstand und die Solidarität entdeckt, und sie kümmern sich um die sozialen Fragen im Stadtteil: sie fordern billige Strompreise für Arbeitslose und gehen gegen Stromabschaltungen vor, sie verhindern Zwangsräumungen von NachbarInnen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können oder in besetzten Wohnungen wohnen, und sie verteidigen die besetzten Betriebe.

Schon früh kam die Parole auf »Piquete und Kochtopf - ein Kampf«. Sie drückt einen Anspruch aus, der sich in verschiedenen Konfrontationen bewährt hat. Aber trotz aller Homogenisierung bleiben die Lebenswelten der piquetes und der Kochtöpfe verschiedene: Die Mittelschichten, die vielleicht immer noch hoffen (wenn auch immer weniger), durch die Rückgabe ihrer Sparguthaben den Anspruch auf ein besseres Leben verwirklichen zu können - die piqueteros, die keine greifbare Perspektive auf Arbeitsplatz und Wohlstand sehen - und dazwischen die ArbeiterInnen der besetzten Betriebe, die versuchen, ihre Arbeitsplätze festzuhalten.

Besetzte Betriebe

Über die Hälfte der Industriekapazität in Argentinien liegt brach. Inzwischen sind mehr als 100 Betriebe, die pleite waren oder kurz davor standen, von ihren ArbeiterInnen instandbesetzt und ans Laufen gebracht worden. Die meisten besetzten Betriebe sind Klein- und Mittelbetriebe (Nahrungsmittel, Textil,Glas, Papier, Aluminium, Druckerei, usw., mit im Durchschnitt 70 Beschäftigten). 10 000 ArbeiterInnen machen Erfahrungen mit Basisdemokratie im Betrieb, stellen das Privateigentum praktisch in Frage und konfrontieren sich (in unterschiedlichem Maße) mit der Staatsgewalt. Sie werfen die kapitalistische Arbeitsorganisation über den Haufen und demonstrieren, dass es zum Produzieren keine Chefs braucht.

Besetzte Betriebe als Inseln im Meer der kapitalistischen Krise sind jedoch ein widersprüchlicher Versuch, der leicht in der Selbstverwaltung der Krise stecken bleiben kann. Dass ein paar tausend ArbeiterInnen in verlassenen Fabriken auf eigene Rechnung arbeiten und damit ihr Überleben sichern, muss nicht unbedingt weitergehende Folgen haben - solange sie in ihren Nischen bleiben. »Diese Bewegung ist keine Bedrohung für kapitalistische Unternehmen«, schreibt die Zeitschrift 'The Economist' (9.11.2002). Die Wiedereröffnung von Firmen unter Arbeiterkontrolle würde nicht nur den Arbeitern, sondern auch den Kapitalgebern helfen, da sie die Maschinerie vor Verfall und Vandalismus bewahre. Sie zitieren damit den Anwalt und einen Vertreter der MNER, der Nationalen Bewegung instandbesetzter Betriebe, in der sich 2001 selbstverwaltete Kooperativen zusammengeschlossen haben. Bei so viel Beteuerung von Harmlosigkeit ist es kein Wunder, dass die MNER von Kirche, Gewerkschaften und Staat unterstützt wird. Zu ihrer ersten großen Versammlung im September kam ein Regierungsvertreter - und er durfte sogar reden! (was bei dem Hass auf Politiker in Argentinien tatsächlich sehr ungewöhnlich ist).

Unter dem Druck der Besetzungen hat die Regierung Enteignungsverfahren entwickelt, die an der Widersprüchlichkeit der Bewegung ansetzen und letzten Endes das Privateigentum bestätigen. Die Gebäude werden den BesetzerInnen für zwei Jahre überlassen; in dieser Zeit bezahlt der Staat dem Eigentümer eine Miete, und danach haben die ArbeiterInnen ein Vorkaufsrecht. Die ArbeiterInnen sollen also mit ihrer Arbeit aus dem wertlosen Schrott, der in den Fabriken rumsteht, wieder Kapital machen, und dürfen es danach kaufen. Der Staat subventioniert nicht die ArbeiterInnen, sondern die Eigentümer, und die ArbeiterInnen tragen das gesamte unternehmerische Risiko. Trotz dieses betrügerischen Angebotes haben sich einige besetzte Betriebe darauf eingelassen, und viele haben sich als Kooperativen legalisiert, weil sie damit wenigstens drohende Räumungen und Zwangsversteigerungen verhindern konnten. Mitte-Links-Parteien und Teile der Gewerkschaftsbürokratie unterstützen die Gründung von Kooperativen, und machen Druck auf die BesetzerInnen, sich auf 'realistische Lösungen' einzulassen. Ihre Sorge, dass die Besetzungen zum Anfang einer antikapitalistischen Bewegung werden könnten, ist offensichtlich. Und auch im oben erwähnten Economist-Artikel ist von einer »Erosion der Eigentumsrechte« die Rede.

Einige besetzte Betriebe tun einiges dafür, diese Erosion weiter zu treiben. Sie lehnen es ausdrücklich ab, Kooperativen zu gründen und fordern stattdessen 'Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle'. Damit sind die Textilfabrik Brukman in Buenos Aires und die Keramikfabrik Zanón in der Provinz Neuquén zu einem Zentrum von Organisierung geworden, nicht nur für andere besetzte Betriebe, sondern auch für Arbeitslose, radikale ArbeiterInnen und oppositionelle Gruppen in den Gewerkschaften. An diesen Treffen und Aktionen beteiligen sich auch besetzte Betriebe der MNER, die sich für die Kooperativenlösung entschieden haben. Bislang lassen sich die verschiedenen Fraktionen nicht gegeneinander ausspielen. Wenn der Versuch der BesetzerInnen von Brukman und Zanón, als ArbeiterInnen die Trennungslinien innerhalb der Klasse zu überwinden und ein Bündnis zwischen piqueteros und 'MittelklassearbeiterInnen' herzustellen, größere Ausmaße annimmt, könnte das eine neue Qualität ausmachen und die Macht grundlegender in Frage stellen. Der Aufbau einer gemeinsamen Streikkasse wird von diesem Bündnis bereits in Angriff genommen.

Tauschringe (ein Exkurs)

Tauschringe sind der Teil der argentinischen Bewegungen, der von hier aus offensichtlich am meisten wahrgenommen wird - obwohl in ihnen sicher weniger Bewegung steckt als in den anderen beschriebenen Selbsthilfeprojekten. Der erste Tauschring in Argentinien wurde 1995 von dreissig Leuten gegründet. Mit der Krise hat sich dieses Phänomen massenhaft ausgeweitet. Auf dem Höhepunkt gab es 8000 Tauschclubs mit 3 Millionen Mitgliedern. Das bedeutet, dass mit den mitversorgten Familienmitgliedern etwa 10 Millionen Menschen auf diese Form der Krisenbewältigung zurückgegriffen haben. Getauscht werden alle möglichen Dienstleistungen, Handwerk und Produkte, bis hin zu Autos, Grundstücken und Wohnungen.

Im Gegensatz zu den piqueteros und asambleas, die dem Mangel mit kollektiven und solidarischen Projekten wie Volksküchen begegnen, sind die Tauschringe eine zwar massenhafte, aber doch individuelle Krisenlösung, die der Marktlogik folgt. Jeder betritt den Markt als einzelner Anbieter oder Nachfrager, und die Chancen sind je nach Startbedingungen unterschiedlich. So sind Leute, die noch Geld hatten, in Supermärkte gegangen, haben dort Waren eingekauft und sie im Tauschclub gegen höherwertige Waren oder Dienstleistungen eingetauscht. Ein altbekanntes Modell: Wer Kapital hat, kann es vermehren, und wer keins hat, kann nur seine Arbeitskraft zum (Tausch)-Markt tragen.

Die Tauschmärkte funktionieren mit einer Alternativwährung, den créditos. Schon Anfang des Jahres tauchten die ersten Fälschungen auf. Mitte des Jahres schlugen dann die Phänomene des großen Marktes auch im kleinen zu. Die Fälschungen nahmen überhand und betrafen bis zu 90% der créditos, und es kam zu Spekulation und Inflation. Leute, die z.B. Kuchen für den Markt gebacken hatten, bekamen dafür noch nicht mal mehr genug créditos, um Zutaten für die nächste Produktion zu kaufen. Die Zahl der regelmäßigen TeilnehmerInnen sank auf 250 000. Die Verfechter der Tauschringe sehen darin aber keinen Fehler der Marktwirtschaft, sondern allenfalls das Problem, dass der Markt zu groß geworden wäre, weswegen nun striktere Einstiegsregelungen eingeführt werden. Und gegen Fälschungen helfen bekanntlich Staat und Polizei, so auch bei den Tauschringen: Sie haben neue créditos ausgegeben und sie sich patentieren lassen, damit die Polizei in Zukunft Leute, die damit handeln, festnehmen kann ...

... und die Revolution?

Argentinien ist zu einem Laboratorium geworden, in dem verschiedenste Gruppen neue soziale Erfahrungen ausprobieren und mit Basisorganisierung experimentieren. Trotz aller Widersprüche, die in dieser Vielfalt auftreten, liegt darin ein großer Reichtum. In dieser Welle von Politisierung und Mobilisierung sehen einige linke Parteien die Chance, die Revolution und die Machtfrage auf die Tagesordnung zu setzen. Sie rufen zu einem weiteren 'Argentinazo', einem weiteren Volksaufstand und zum Sturz der Regierung auf. Gerade von BasisaktivistInnen werden derartige Aufrufe kritisiert. Sie halten solche Parolen in einem Land, in dem die Angst nach der Diktatur noch jahrelang weitergewirkt hat, für leichtfertig und für unverantwortlich gegenüber einer Bewegung, die erst am Anfang steht. Hunderttausende gehen auf die Straße und organisieren sich - aber die restlichen Millionen bleiben noch untätig. Die Bewegung ist noch überhaupt nicht auf große Konfrontationen vorbereitet. Die piqueteros sind die einzigen, die mit organisiertem Selbstschutz auf die Straße gehen, der aber bislang nur aus Tüchern und Knüppeln besteht. Die Leute lernen erst, sich zu organisieren und sich zu bewegen. Dabei haben sie allerdings in kurzer Zeit große Schritte gemacht. Sie übertreten Regeln, stellen alle möglichen Normen in Frage und erfinden sie neu. Der Aufstand hat für viele Menschen den Alltag und die Verhältnisse untereinander verändert. Unmögliches wird gefordert und gedacht.

Trotzdem wird es in Argentinien kurzfristig wohl kaum zu einer Revolution kommen - und sie wird auch nicht nach dem Muster »Wir stürmen das Winterpalais« verlaufen. Alte Vorstellungen, die die Revolution als einen triumphierenden Aufstand sehen, nach dem sich alles ändert, reichen in der heutigen Welt nicht mehr aus. Wir müssen uns offensichtlich auf längere Prozesse einstellen. Die ArgentinierInnen haben schon vor einem Jahr einen beeindruckenden Aufstand hinbekommen. Sie haben ihren Regierungspalast, die Casa Rosada bereits gestürmt und mehrere Präsidenten verjagt. Jetzt stehen sie vor der Frage, was passieren würde, wenn sie die derzeitige Regierung ebenfalls stürzen würden. Dass fast alle möglichen Antworten auf diese Frage mit militärischer Unterdrückung oder Militärinvasion verbunden sind, ist wahrscheinlich der einzige Grund dafür, dass Präsident Duhalde sich seit dem Jahresanfang auf seinem Sessel halten konnte.

Die Grenze der Bewegungen in Argentinien liegt in der Lohnarbeit. Alles Mögliche und Unmögliche wird in Frage gestellt, aber die Arbeit läuft weiter. In den Zentren der (Re)-Produktion finden bislang kaum offene Kämpfe statt. Es gibt ein paar Ausnahmen, wie Streiks im Öffentlichen Dienst, oder die so wunderbar unzeitgemäße Kampagne der Metro-ArbeiterInnen in Buenos Aires, die mitten in der Krise die Wiedereinführung einer alten Errungenschaft gefordert haben: die Verkürzung ihrer täglichen Arbeitszeit auf sechs Stunden wegen ungesunder Arbeitsbedingungen, selbstverständlich bei vollem Lohnausgleich. Für diese Forderung gab es mehrere Mobilisierungen - aber keine größeren Streiks. Diese Macht bleibt noch ungenutzt: wenn zu den Straßenblockaden der piqueteros der Streik der TransportarbeiterInnen hinzukäme, und wenn ...

Wenn wir nicht nur ein paar Spielregeln ändern, sondern die ganze Gesellschaft umwälzen wollen, dann kommen wir an den Produktionsverhältnissen nicht vorbei. Aber das geht in dieser Weltwirtschaft nicht in einem Land allein. Dafür müsste es schon noch an ein paar anderen Stellen unseres globalen Zusammenhangs losgehen. Solange die ArbeiterInnen in Argentinien isoliert bleiben und nicht das Vertrauen haben können, dass ihre Streiks anderswo ein Echo finden und aufgegriffen werden (wie in den 70er Jahren), werden sie den Schritt von der Revolte zur Revolution kaum wagen, weder im Betrieb, noch auf der Straße.

Ganz Lateinamerika ist ein Pulverfass. Einen so krassen Krisenabsturz wie in Argentinien hat es jedoch noch in keinem anderen Land gegeben. Noch gibt es keine Signale dafür, dass der Aufstand in weiteren Ländern übernommen würde. Auf dem Rest des Kontinents ist die Armut älter, oder die Verarmung entwickelt sich langsamer - und es bestehen vielerorts immer noch Hoffnungen auf eine parlamentarische Rettung.

Aber die Krise der Weltwirtschaft wird über weitere Länder und Regionen hereinbrechen, nicht nur in Lateinamerika, und für den Fall können wir von den Erfahrungen und Versuchen in Argentinien sicher einiges lernen: von den asambleas, von den piqueteros und den ArbeiterInnen der besetzten Betriebe, die Wege aufzeigen, wie wir unser Leben selbst in die Hand nehmen können.


Fußnoten:

[1] Artikel (spanisch) am 29.12.2001 auf www.rebelion.org. Das Colectivo Situaciones hat im April ein Buch zum Aufstand herausgebracht, das im nächsten Frühjahr in überarbeiteter Form bei Assoziation erscheint.

[2] La sociedad paralela; una revolución en el desierto"

[3] wie z.B. die linksoppositionellen Betriebsräte von Mercedes-Benz in Buenos Aires, die von der Firmenleitung denunziert und von den Militärs entführt und ermordet wurden. Der Fall und die Verwicklung der deutschen Konzernzentrale werden zur Zeit juristisch wieder aufgerollt. Siehe Dokumentation auf Labournet.

[4] Siehe dazu »Wir sind alle Piqueteros«.

 

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