03.07.2005 [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]

 


Man muss auch gewinnen…

Erfolgreiche Streiks bei der U-Bahn von Buenos Aires – und ihre Vorgeschichte.


Die 1900 ArbeiterInnen der »Subte«, der U-Bahn von Buenos Aires, haben am 10. Februar eine Lohnerhöhung von insgesamt 44 Prozent durchgesetzt, und damit das Startsignal für eine Welle von Lohnstreiks in Argentinien gegeben. Während des Konfliktes und der Streiks haben sie eine geschickte Öffentlichkeitspolitik betrieben. Gegen die Diffamierung, dass sie als Hochlohnverdiener nur weitere Privilegien für sich sichern wollten, haben sie einerseits auf Plakaten öffentlich gemacht, wieviele Subventionen das privatisierte Unternehmen eingestrichen hat, ohne in Sicherheit oder Infrastruktur zu investieren, und welche Riesengehälter sich die Chefetage auszahlt. Andererseits haben sie klargestellt, dass sie nicht bereit sind, weiter den Gürtel enger zu schnallen, sondern dass es ihnen tatsächlich um ein besseres Leben geht – nicht nur für sich, sondern für alle. Das waren keine leeren Worte: Nach ihrem eigenen Erfolg haben sie ihre prekarisierten KollegInnen in den ausgelagerten Firmen dabei unterstützt, sich in ihren Tarifvertrag reinzukämpfen. Im März gelang das den ArbeiterInnen der Putzfirma Taym, die damit ihre Löhne verdoppeln und ihre Arbeitszeit verkürzen konnten. Im Mai machten die ArbeiterInnen von ausgelagerten Sicherheitsfirmen in einigen Bahnhöfen Protestaktionen mit derselben Forderung. Die Subte-ArbeiterInnen an den Fahrkartenschaltern stellten daraufhin aus Solidarität die Arbeit ein und ließen die Fahrgäste umsonst fahren.

Letztes Jahr sind die ArbeiterInnen der Subte schon einmal durch eine unzeitgemäße Forderung aufgefallen, die sie ebenfalls mit Streik durchsetzen konnten: die Wiedereinführung des 6-Stunden-Tages wegen gesundheitsgefährdender Arbeit. Danach riefen sie zu einer Kampagne für die allgemeine Einführung des 6-Stunden-Tages auf. Diese Treffen sind zum Kristallisationspunkt der kämpferischen ArbeiterInnen geworden, die sich gegen die bürokratischen Gewerkschaftsapparate stellen. Ähnliche Treffen hatten vorher die ArbeiterInnen der besetzten Fabriken Zanon und Brukman organisiert. Die jetzigen Treffen sind breiter, und die Parole »Wenn sie einen angreifen, sind wir alle gemeint« nimmt immer häufiger praktische Gestalt an, durch gegenseitige Unterstützung bei Aktionen und Solidaritätsstreiks.

Bei den Erfolgen der Subte-ArbeiterInnen spielen verschiedenste Aspekte eine Rolle:

  • eine langjährige, zunächst klandestine Organisierung im Betrieb, mit der die Macht »der Bürokratie«, des Gewerkschaftsapparates zurückgedrängt und Basisdemokratie eingeführt wurde;
  • Explosionen von Arbeiterwut, die in Streiks und direkten Aktionen mündete;
  • die zunehmende Stärke der ArbeiterInnen, die seit 1997 jeden Entlassungsversuch verhindern konnten; sowie
  • der Aufstand vom Dezember 2001, der die Koordinaten im Land verschoben hat.

Roberto ’Beto« Pianelli, einer der bekannten Delegierten, arbeitet seit 1994 bei der Subte. In einem Interview, am 8. März 2005 in Buenos Aires, berichtet er über die Vorgeschichte der heutigen Streiks:

Die Geschichte der Subte ist die Geschichte des Kampfes um die Arbeitszeitverkürzung. Anfang der vierziger Jahre wurde in den Staatsbetrieben der 7-Stunden-Tag eingeführt; unter Perón gab es für gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze den 6-Stunden-Tag und Frühverrentung. Die Feststellung, ob eine Arbeit als gesundheitsgefährdend einzustufen war, lag beim Arbeitsministerium. Nach dem Staatsstreich 1955 wurde uns der 6-Stunden-Tag genommen, und wieder sieben Stunden gearbeitet. Mit der Rückkehr zur Demokratie 1973, unter der Regierung Cámpora, wurde Peróns 6-Stunden-Tag wieder eingeführt. Die Militärdiktatur schaffte ihn wieder ab. Unter den demokratischen Regimes wurde also sechs Stunden gearbeitet, unter den Diktaturen sieben. Nach dem Ende der letzten Militärdiktatur galt bei der Subte ab 1984 wieder der 6-Stunden-Tag – bis Menem 1994 die Konzession ausschreibt und den Betrieb privatisiert. Dann werden wieder acht Stunden gearbeitet, so werden 60 Jahre Geschichte zurückgedreht.

Als Metrovías die Konzession übernahm, arbeiteten in der Subte 3600 Arbeiter. Danach nur noch 1500, und von denen waren 800 Neue. Es blieben nur sehr wenige von der alten Subte übrig. Die ersten drei Jahre nach der Privatisierung waren ein Terrorregime. Wenn du eine Auseinandersetzung mit deinem Vorarbeiter hattest, weil dem dein Gesicht nicht gefiel, oder wenn eine compañera sexuelle Übergriffe anzeigte, führte das automatisch zur Entlassung. Da waren viele neue Leute, viele Junge, ohne gewerkschaftliche Erfahrung, und außerdem herrschte damals die Ideologie: Ich werde zum Geschäftsführer aufsteigen. Alle glaubten, Geschäftsführer werden zu können! Einige von uns, die politische Erfahrung hatten, haben damals die ersten Organisierungsversuche unternommen. Es entstanden ein paar Gruppen, einige in den Werkstätten, andere bei den Fahrkartenschaltern, wo die schlimmsten Arbeitsbedingungen herrschten. Wir haben uns klandestin organisiert. Compañeros und Freunde haben uns unterstützt, sie haben von außen Flugblätter verteilt mit unseren Vorschlägen, die wir nicht offen machen konnten.

1997 kam es zum ersten Mal zur Explosion, als sie zwei Fahrer rausschmissen. Die Fahrer dieser Linie beschlossen, die Arbeit nicht aufzunehmen, und fünf Stunden später schlossen sich alle fünf Linien an. Nach einer Schlichtung wurden die Entlassenen wieder eingestellt – weil es den Beschluss der compañeros gab, dass wir andernfalls den Ausstand fortsetzen würden. Das war der erste Triumpf, und danach haben alle gesagt: ab jetzt werden wir keine Entlassungen mehr zulassen. Zwei Monate später versuchte der Betrieb, eine Fahrkartenverkäuferin rauszuschmeißen. Wir haben wieder geschlossen die fünf Linien und die Werkstätten lahmgelegt.

Nachdem wir zweimal gestreikt haben, um Entlassungen zu verhindern, begann in einigen Abteilungen eine Diskussion unter den compañeros: wir müssen die Wiedereinführung des 6-Stunden-Tages fordern. Wir haben Aktionen gemacht, haben z.B. drei Tage lang mit Staubmasken gearbeitet, um auf die Gesundheitsgefährdung hinzuweisen. Aber die Bürokraten haben alles abgewürgt. Wir haben gesehen, dass es nicht reicht, den Kampf aufzunehmen. Wir mussten auch etwas gegen diese Führung tun. Wir sind 21 Delegierte und damals gab es nur drei Oppositionelle, mehr nicht. Nach den nächsten Wahlen waren es schon fünf. Es gab weitere Konflikte um die Entlassung eines compañero, die Gewerkschaft UTA unterzeichnete wieder einen Tarifvertrag mit den acht Stunden, und bei den FahrkartenverkäuferInnen wurde die Flexibilisierung vorangetrieben. Zu diesem Zeitpunkt fing die Opposition an, sich öffentlich zu organisieren. Im Jahr 2000 hat die Bürokratie die Wahlen haushoch verloren. Die Gewerkschaft ist weiterhin bürokratisch, aber im Betrieb haben wir seitdem die Mehrheit.

Krise der Institutionen und direkte Aktion

Dann wollte der Betrieb die Zugbegleiter abschaffen und Arbeitsplätze abbauen. Wir haben beschlossen, dagegen zu streiken. Das war drei Monate, nachdem wir die Wahlen gewonnen hatten. Die Bürokratie war noch stark, und wir hatten noch nichts unter Beweis gestellt. Nach einer Stunde Streik hat die Geschäftsleitung 250 Entlassungstelegramme rausgeschickt. Was sollten wir tun? Das Arbeitsministerium hatte eine Schlichtung einberufen, aber die Bürokratie hatte uns nicht dazu eingeladen. Das war für uns die Feuerprobe. Wir haben uns mit Rempeln Einlass ins Ministerium verschafft, haben uns vor dem Geschäftsleiter aufgebaut und ihm gesagt: ’Kauf dir mal lieber nen Helm, denn wir werden dir die Subte abfackeln.« Das haben wir ihm vor den Ministeriumsbeamten gesagt, die meinten: ’aber das ist doch nicht die richtige Form…«. ’Was wollt ihr, dass wir euch einen Strauß Rosen überreichen? Du willst hier 250 Leute rausschmeißen! Kauf dir nen Helm…«. Diese Schlichtung war mit sechs Monaten die längste in der Geschichte der Subte. Die Geschäftsleitung hat schließlich zugestimmt, die Zugbegleiter nicht zu streichen, und alle entlassenen Kollegen wieder einzustellen. Danach standen wir vor den compañeros und der Bürokratie anders da. Das war unser erster Konflikt, und wir haben ihn gewonnen.

Danach fingen wir eine offene Kampagne für die 6-Stunden an, und haben über eine befreundeten Abgeordneten eine Gesetzesvorlage eingebracht. Dann kam die Krise des 19./20. Dezember (Aufstand im Dezember 2001). Wir haben gesehen, wie groß die Krise der Institutionen war: Wenn du zur Legislatura (Stadtparlament) gegangen bist und gesagt hast, dass du mit ihnen reden willst, haben sie dir den roten Teppich ausgerollt – weil niemand mit ihnen reden wollte! Also haben wir die Gelegenheit genutzt und sind zur Legislatura gegangen. Und dieselben Schurken, die uns die 6 Stunden geklaut haben, haben nun einen Gesetzesentwurf dafür eingebracht. Am Tag der Abstimmung gab es eine große Mobilisierung, 1500 Arbeiter waren vor Ort – während der Arbeitszeit! Das Gesetz kam durch, mit etwas über 90 Prozent. Die Regierung konnte das nicht zulassen und hat ein Veto dagegen eingelegt. Wir sind wieder zur Legislatura, wo uns die Polizei angegriffen hat. Das war das erste Mal in der Geschichte, dass sie die Bürger nicht in die Legislatura reingelassen haben. Danach haben sie festgelegt, dass man nur noch mit einem Berechtigungsschein reinkommt – weil wir ihnen die Legislatura viermal besetzt haben. Beim letzten Mal haben sie einen compañero am Kopf verletzt. Wir haben deshalb trotz laufender Schlichtung gestreikt und die Subte regelrecht besetzt. Sie haben sich nicht reingetraut, auch nicht die Chefs, keiner hat sich getraut, was dagegen zu sagen.

Es fing eine konfliktreiche Zeit an. Die UTA (Transportarbeitergewerkschaft) musste den Tarifvertrag unterzeichnen. Laut Gesetz müssten die Basisdelegierten die Verhandlungen führen, aber das wollten sie nicht, weil wir das waren. Also haben sie hinter unserem Rücken ein Abkommen mit der Verwaltung unterschrieben. Wir haben dagegen gestreikt – diesmal nicht nur gegen den Betrieb, sondern auch gegen die Gewerkschaft. Angesichts dieser Aktion, die keiner unter Kontrolle hatte, hat das Ministerium uns empfangen und gebeten, den Konflikt zu beenden. Sie würden in Zukunft mit uns verhandeln. Wir haben das den compañeros erzählt, und die haben beschlossen, den Streik aufzuheben. Wir haben gefordert, dass das Abkommen rückgängig gemacht wird. Es ging um drei Punkte: die Flexibilisierung an den Fahrkartenschaltern, ein schlechtes Lohnabkommen, und die Arbeitszeitverkürzung fehlte. Sie wollten den Tarifvertrag unbedingt haben, und wir haben gesagt: »Gut, dann gebt uns die 6 Stunden«. Mittendrin wurde in der Stadt gewählt und sie hatten Angst, die Wahl zu verlieren. Wir haben der Stadtregierung gesagt: »Wenn ihr uns nicht die Gesundheitsgefährdung anerkennt, dann legen wir euch hier unten einen Streik von drei, vier Tagen hin, und dann verliert ihr die Wahl«. In paar Tagen hatten wir die Anerkennung. Sie haben die Arbeitszeit für zwei Drittel der Arbeiter verkürzt.

Die Arbeitszeitverkürzung galt nicht für die 500 ArbeiterInnen im Fahrkartenverkauf. Außerdem wollte der Betrieb Fahrkartenautomaten einführen, was wir abgelehnt haben. Also haben sie einen Vertrag mit der UTA unterschrieben, wo der Arbeitstag von 8 auf 6 Stunden reduziert wurde, die siebte Stunde sollte aber obligatorisch sein, wenn der Betrieb das anordnet, und im Gegenzug die Einführung der Fahrkartenautomaten. Danach haben wir vier Tage lang auf allen fünf Linien gestreikt, um die Fahrkartenabteilung zu verteidigen und die Automaten zu verhindern. Sie wollten die Züge in Gang setzen, sie wollten uns mit der Polizei rausholen, denn die Subte war vier Tage lang praktisch besetzt. Das Ganze war ein voller Erfolg, an den Schaltern wurde die Arbeitszeit auf 6 Stunden verkürzt, und die Automaten vertagt.

Die Logik der 90er Jahre durchbrechen

In diesem Konflikt haben wir aus sehr vielen Bereichen Unterstützung und Solidaritätserklärungen bekommen. Von Piquetero-Organisationen, die zu den Bahnhöfen kamen, mit uns gemeinsam Aktionen machten und den Fahrgästen erklärten, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen würden. Die Kampagne um die Arbeitszeitverkürzung drehte sich um drei Parolen: Gesundheit für die Arbeiter, Sicherheit für die Fahrgäste, und Arbeitsplätze. Wir wollten dem Ganzen damit eine nicht-korporative gesellschaftliche Stoßrichtung geben. Nachdem wir die 6 Stunden für uns erreicht hatten, haben wir das als landesweite Kampagne vorgeschlagen, um die besten Traditionen der Arbeiterklasse wiederaufzunehmen: den Kampf um die freie Zeit, um das Recht auf Muße, um ein würdiges Leben. Manche haben das infrage gestellt, weil sie meinten, das Hauptproblem wäre der Lohn. Wir haben angefangen, uns mit anderen Sektoren zu koordinieren, und dabei kam die Kampagne für den 6-Stunden-Tag raus. Und den Kritikern haben wir gesagt, dass wir in Kürze auch Lohnforderungen stellen würden. Das war dann der letzte Konflikt, wo wir das Glück und die Kraft hatten, eine Lohnerhöhung durchzusetzen, die mit fast 44 Prozent die von der Nationalregierung gesetzte Lohnleitlinie gebrochen hat.

Wir denken, dass wir die Logik der 90er Jahre durchbrechen müssen, dieses: sei doch froh, dass du überhaupt Arbeit hast. Sie haben uns vorgeworfen, dass wir doch schon hohe Löhne hätten. Bei einem Durchschnittslohn von 4-600 pesos haben wir 1000 verdient. In der Pressekonferenz haben wir die Zahlen auf den Tisch gelegt: ’Soviel verdient der Betrieb, die Chefs verdienen 20000 oder 40000 pesos. Wir haben nichts zu verbergen, wir verdienen 1000 pesos, und wir brauchen uns dafür nicht zu schämen. Die Schande ist, dass andere Leute nur 4-500 pesos verdienen, oder Rentner mit 300 pesos Rente auskommen müssen. Wir kämpfen für ein Leben in Würde, dass unsere Kinder Zugang zu Kultur haben, zu Sport und Freizeit, denn wir leben nicht, um zu arbeiten, wir arbeiten, um zu leben. Das Leben ist dazu da, all die schönen Seiten zu genießen, und nicht dazu, sich bei der Arbeit zu entfremden.«

Es ist uns ziemlich gut gelungen, durch den Konflikt diese Botschaft den Arbeitern nahezubringen. Das hat schon mein Großvater gesagt… es gibt da einen Heiligen, den San Cayetano, wo jedes Jahr alle hingehen und um Arbeit bitten, und mein Großvater hat gesagt, dass man nicht zu San Cayetano gehen sollte, sondern zur Plaza de Mayo (dort ist der Regierungspalast), und nicht Arbeit verlangen, sondern Geld. So sieht das aus – mein Großvater hatte Recht! Das war unsere Logik, und wir haben das offen vorgeschlagen, auf einfache Art, damit die Leute das verstehen. Wir haben ziemlich weitgehende Dinge vorgeschlagen, die wir gar nicht selbst erfunden haben, diese Vorschläge findest du bei den Klassikern des Marxismus, wie die Forderung nach der Offenlegung der Bilanzen, oder dass wir ein anderes Leben, eine andere Gesellschaft wollen, wo nicht die einen vor Hunger sterben und die anderen alles haben.

Unser Konflikt hatte viel Resonanz und es gab eine Menge Diskussionen. Viele Leute haben sich darin wiedergefunden. Die Diskussion um den Warenkorb, nach dem die Armutsgrenze berechnet wird, hat sich verändert. Die Regierung redet von 700 pesos für eine vierköpfige Familie, darin sind für einen Monat 200 gr Käse enthalten, für vier Personen! Das ist der Warenkorb, den die Leute erreichen wollen, aber wir haben gesagt, dass der Warenkorb bei 1600-1800 Pesos liegen müsste, denn heute kann man nicht von dem historischen Warenkorb ausgehen, der kein Internet oder Handy beinhaltet. Das alles gehört heutzutage zum Alltag jedes Arbeiters und zu dem seiner Kinder, die eine minimale Ausbildung haben wollen, um eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Diese Diskussion haben wir durchgesetzt, inzwischen reden viele von dem höheren Warenkorb. In die Regierung haben wir einen Keil getrieben, weil sie eine Lohnleitlinie durchsetzen wollten, und die haben wir ihnen kaputtgemacht.

In der Linken gibt es eine falsche Tendenz, die Dinge zu vereinfachen und ein paar Verrätern in der Führung die Schuld zuzuschieben. Das gibt es natürlich auch, aber für bestimmte Dinge muss es einen Konsens zwischen den Leuten geben. Wenn die Bourgeoisie Dinge durchsetzt, dann gibt es Elemente unter den Arbeitern, die diese Spielregeln akzeptieren. Die Frage ist, wie wir diese Logik durchbrechen können. In den 90ern haben sie es geschafft, den Neoliberalismus in den Köpfen der compañeros zu verankern. Wir mussten gegen diese pro-kapitalistischen Einstellungen vorgehen. Zum Beispiel: dass man taub wird, wenn man in einem Raum mit Lärm arbeitet, scheint eine allgemeingültige Wahrheit zu sein. Aber mit so vielen Arbeitslosen ist es dem Arbeiter in Argentinien egal, dass er in einem Raum mit tausenden von Dezibel arbeitet. Da denkt er noch nicht mal drüber nach, auch wenn er nachts deswegen nicht schlafen kann. Er muss erstmal die ökonomischen Notwendigkeiten geregelt kriegen. Wir haben immer wieder mit den compañeros darüber diskutiert, und sie haben angefangen, uns ihre Probleme zu erzählen, die sie durch diese Arbeitsbedingungen haben. Dass sie nichts mehr hören, dass sie ihre Kinder und Frauen nicht mehr sehen wegen der Schichtarbeit, dass sie sich scheiden lassen, oder noch nichtmal das, weil das nicht nötig ist, wenn man sich nicht sieht. Das war sehr wichtig, über diese Situationen mit den compañeros zu reden, um die Logik zu verändern.

… sich auf den fortgeschrittensten Punkten weiterbewegen

Damit sind wir langsam vorangekommen, denn wenn du einen Schritt machst und gewinnst, dann fühlen sich die compañeros stärker für den nächsten Schritt. Jetzt haben wir über den letzten Konflikt geredet, und ich habe nochmal an den ersten Konflikt gedacht, und wieviel sich seitdem verändert hat. Beim ersten Konflikt sind die compañeros schon mitgegangen, aber sie hatten große Zweifel. Wenn wir das damals zur Abstimmung gestellt hätten, hätten wir verloren, die compañeros hätten dagegen gestimmt. Heute wird alles in den Versammlungen diskutiert. Es ist falsch, zu glauben, dass wir gewinnen, weil da gute Leute am Werk sind. So läuft das nicht. Es muss Triumpfe geben. Denn es gibt Orte, wo sehr gute Leute sind, wo sie aber keinen Konflikt gewinnen, und so kommen sie auch nicht vorwärts. Oder sogar umgekehrt: dass dann die Alten zurückkommen, die in Absprache mit den Chefs was erreichen. Man muss schon gewinnen, und dann versuchen, die fortgeschrittensten Punkte des Kampfes aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Das ist die Kunst: rauszufinden, was das Fortschrittlichste ist, was nach einem Kampf bleibt, und sich darauf weiterzubewegen. Das Weitestgehende, was wir bisher hinbekommen haben, war, als sie die compañeros von der Eisenbahn festgenommen haben, compañeros aus einer anderen Gewerkschaft, die sich auch mit unserem Kampf solidarisiert hatten. Um fünf Uhr morgens haben sie mich geweckt und gesagt: sie haben die compañeros von der Eisenbahn festgenommen, wir müssen irgendwas machen, wir müssen streiken. Sie wollten aus Solidarität für die compañeros aus einer anderen Gewerkschaft streiken! Wir haben eine Versammlung gemacht und dann vor den Medien verkündet, dass wir in den Streik treten würden, wenn sie die compañeros von der Eisenbahn nicht freilassen. Und wir können ohne falsche Bescheidenheit sagen, dass das für die Freilassung der compañeros ausschlaggebend war. Dieser Kampf aus Solidarität war schon Ausdruck eines großen Bewusstseins, und das hat sich auch bei der Auseinandersetzung um die 6 Stunden bei den Fahrkartenschaltern gezeigt. Dort war die Mehrheit neu eingestellt oder über Zeitarbeit drin, die konnten nicht kämpfen. Dann haben die Fahrer den Kampf geführt, damit die anderen die 6 Stunden bekamen.

Versammlungen – Konsens – Delegierte

Wir sind über fast die ganze Stadt verstreut und können nur schwer Vollversammlungen abhalten. Wir organisieren uns vor allem an den Endhaltestellen jeder Linie, in den Räumen der Fahrer und des Sicherheitspersonals. In den Werkstätten finden eher klassische Versammlungen statt. Aber der Kern liegt in den Räumen der Fahrer und Sicherheitsleute, da findet so eine Art Dauerversammlung statt. Wenn wir da eine Versammlung anfangen, kommen wir da gar nicht mehr raus. Wir fangen um zehn Uhr morgens an, und dann geht es immer weiter, weil ständig Leute kommen und gehen. Man muss also tausend mal dieselben Sachen erklären. Dadurch kommt dort der Konsens zustande. Normalerweise stimmen wir nicht ab, wir finden einen Konsens. Gerade die Druckmittel werden immer per Konsens beschlossen, das ist auch die Garantie dafür, dass sie wirklich stattfinden.

Als Vertrauensleute sind wir laut Tarifvertrag drei Stunden pro Woche freigestellt. Aber die meisten von uns sind de facto völlig freigestellt. Der Betrieb hat uns zuerst ökonomisch fertig gemacht. Ich konnte meine Miete nicht mehr bezahlen, weil sie mir ständig Lohn abgezogen haben. Ich habe teilweise nur für vier Tage Lohn bekommen. Aber nachdem wir alle diese Konflikte gewonnen haben, sind wir praktisch freigestellt. Wer will, arbeitet nicht, um stattdessen rumzulaufen. Denn ohne dieses Rumlaufen könnten wir keinen Konflikt gewinnen. Etwa die Hälfte der Delegierten arbeitet, und diejenigen, die am meisten rumlaufen und Aufgaben übernehmen, stehen 24 Stunden am Tag zur Verfügung.

Zusätzlich zum VL-Körper haben wir im letzten Konflikt eine andere Organisationsform entwickelt. Wir haben gesehen, dass die Basis der Aktionen immer stabiler wurde und haben vorgeschlagen, dass pro Abteilung und Schicht ein oder zwei compañeros gewählt werden sollten, für die ’Kommission für gewerkschaftliche Forderungen«. So haben wir das genannt, aber eigentlich ist das eine Art Sub-VK, von 60-70 compañeros, die gemeinsam mit den VK-Delegierten den Konflikt angeführt haben. Das wichtige war für uns, eine Form zu suchen für einen massenhaften Vertrauenskörper – der laut Gesetz nicht vorgesehen ist. Das war sehr effektiv, und wir versuchen, das weiterzuverfolgen und dieses Gremium, das keinerlei legale Absicherung, Statuten oder sowas hat, weiter auszubauen.

Arbeitszeitverkürzung als Forderung an den Staat?

Wir kennen die Fälle von Deutschland und Frankreich, wo die Arbeitszeitverkürzung zwischen Gewerkschaften und Staat vereinbart wurde, um die Flexibilisierung durchzusetzen. Wir haben immer klargestellt, dass wir keine Jahresarbeitszeit wollen wie in Frankreich, weil das die Flexibilisierung ermöglicht. Deshalb sagen wir: 6 Stunden oder 36 Wochenstunden. Die Bewegungen in Deutschland und Frankreich sind nicht vom Klassenkampf ausgegangen. Das waren in erster Linie Abkommen zwischen der Bourgeoisie und den Gewerkschaftsbürokratien. Wir halten es aber für unvermeidlich, den 6-Stunden-Tag als Gesetz zu fordern, weil das sonst keine allgemeine Verkürzung des Arbeitstages wäre, sondern individuelle Vereinbarungen je nach Betrieb, wie die, die wir jetzt erreicht haben. Sowas können wir da durchsetzen, wo wir die Kraft dazu haben. Aber wenn sich die ganze Arbeiterbewegung die tägliche Arbeitszeitverkürzung auf die Fahnen schreibt, sind das andere Bedingungen. Und schließlich ist dies ein halb-koloniales Land. Hier wird im Schnitt zehn Stunden am Tag gearbeitet. Viele arbeiten 12 bis 14 Stunden. In einem solchen Land unter solchen Bedingungen ein Gesetz über den 6-Stunden-Tag zu fordern, heißt das kapitalistische System in Frage zu stellen. Wir sehen das als Politik des Übergangs. Arbeitszeitverkürzung kombiniert mit Lohnerhöhung ist eine antikapitalistische Übergangspolitik. In einem entwickelten kapitalistischen Land sieht das vielleicht anders aus, da kann das integriert werden. Aber in einem Land wie diesem kann das System das nicht verkraften.

Es geht uns um neue Parolen, die die korporative Logik durchbrechen. In Argentinien hat der Peronismus den Korporativismus etabliert, selbst in der Linken. Es gab große gewerkschaftliche Kämpfe, aber immer im korporatistischen Rahmen. In den Anfängen der Arbeiterbewegung war das anders. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Anarchisten mit Streiks die Freilassung der politischen Gefangenen gefordert. Oder die Kampagne für die Spanische Republik, die in Argentinien wirklich stark war. Hier haben Gewerkschaften Geld gesammelt, um es an die Republik zu schicken oder an die Brigaden, die auf der Seite der Republik kämpften. Das war die letzte große internationalistische Kampagne der argentinischen Arbeiterbewegung. Der Peronismus hat das ausgelöscht und ein völlig korporatives Bewusstsein geschaffen. Wir sind davon überzeugt, dass die Gründung einer neuen Arbeiterbewegung als Klasse für sich unter neuen Parolen stattfinden muss, unter einer neuen Logik. In diesem Sinne könnte die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit Lohnerhöhung in dieser Phase, mit 4 Millionen Arbeitslosen, zu einer anderen Logik in der Arbeiterbewegung führen.

 

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