Béla Bartók – eine Lektion in Demokratie
Sergio Bologna (1996)
Demokratie ist für uns kein Regierungssystem,
sondern eine ideale Lebensform
(Karl Polányi, 1918)
Das gerade zu Ende gegangene Jahr 1995 war das 50. Todesjahr des ungarischen Komponisten Béla
Bartók, der 1945 in New York verstorben ist. Seine Werke
werden in den Theatern und Konzertsälen der ganzen Welt
aufgeführt. Künstler, die ihm sehr nahe standen, wie der
Pianist György Sándor, Autor von Come suonare il
pianoforte (trad.it., BUR 1984), machten Neuinterpretationen
seiner Stücke und seiner Konzerte für Klavier und
Orchester. Aber nur wenige erinnern sich an ihn auch als Mensch
der Kultur, als vollständigen und außergewöhnlichen
Künstler, Forscher, Erzieher, Erneuerer und freien Menschen,
der bereit war, sich zu engagieren, wo er neue Grenzen der
Demokratie ausmachte, z.B. während der ungarischen
Räterepublik 1918.
1.Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit seiner ungarischen Kultur war eine
außergewöhnliche Zeit: György Lukács, Karl
Polányi, Béla Balázs, Béla Bartók.
So unterschiedlich sie an sich auch waren und wie verschieden ihre
Disziplinen, der eine Philosoph, der andere Ökonom, der
dritte Poet und Kinokritiker, Bartók Musiker, so sollte
dennoch nicht vergessen werden, dass zumindest die drei
erstgenannten ihre Leidenschaft und ihre außergewöhnlichen
Fähigkeiten auch in das Projekt der Veränderung der
kapitalistischen Gesellschaft gesteckt hatten. Sie haben nicht nur
ihr Leben lang daran geglaubt, dass die Dinge sich ändern
lassen, sondern auch Denkmodelle erarbeitet, um sich eine andere
Welt vorzustellen zu können. Sie waren dafür tätig,
dass die Kultur zum Befreiungsinstrument in den Händen der
Unterdrückten werden kann. Bartók war Musiklehrer und
wohnte eine Zeit lang bei der Familie des Bankiers Lukács,
dem Vater des Philosophen. Er war Freund und Verehrer von Balázs
und komponierte zwei seiner berühmtesten Opern über
Sujets von ihm, Herzog Blaubarts Burg (1911,
Erstaufführung 1918) und Der holzgeschnitzte Prinz
(1914-17, Erstaufführung 1918). Bartók atmete den
Geist der Rebellion und des Antikonformismus, lebte in der
Atmosphäre des Forschens und Ausprobierens, des Bruchs mit
den konservativen Regeln des Wissens, der Bildung der
Arbeiterklasse, der Sozialuntersuchung auf dem Land. Das war die
moralische und kreative Welt der jugendlichen Intellektuellen, die
sich in Budapest im »Galilei-Club« von Karl Polányi
oder in der »Sonntagsgesellschaft« von Lukács
und Balázs trafen.
Bartók ist keiner bestimmten politisch-ideologischen Richtung zuzuordnen. Er ist
leidenschaftlich nationalistisch, wenn er gegen die Habsburger
Herrschaft und die deutsche Kultur, wie sie als
Herrschaftsinstrument gegen die Völker Mittelosteuropas
eingesetzt wird, aufbegehrt. In einigen Briefen bringt er
atheistische und materialistische Überzeugungen zum Ausdruck,
eine Schülerin nennt ihn einen unbekümmerten kedves
anarkista (lieben Anarchisten), mehr als einmal bringt er
seine Sympathie mit dem Proletariat zum Ausdruck (siehe den
Briefwechsel in Dokumenta bartokiana, 1964-70). Aber in
Wirklichkeit war Bartók wesentlich mehr als Sozialist oder
Anarchist oder Irredentist oder laizistischer Liberaler. Sein
Beitrag zur radikalen Veränderung der Musikkultur geht viel
tiefer. Sein aktiver und kundiger Beitrag zu einer Gesellschaft,
in der das Volk das zentrale Element gesellschaftlicher
Organisation ist, ist weitaus wirkungsvoller, als es irgendeine
Etikettierung ausdrücken könnte. Diesbezüglich ist
seine Botschaft eindeutig und unumstößlich. In diesem
Zusammenhang ist es interessant nachzulesen, wie gewisse Kritiker
und Biographen versuchen, seine sozialen, und somit politischen
Entscheidungen mit Begriffen wie »naturalistischer
Humanismus« und ähnlichem zu verfälschen. Sie
zeichnen einen Bartók, der über den Parteien, den
Konflikten, der Geschichte steht, einen Bartók, versunken
in die Trauer über die verletzte Natur und über eine
verschwundene ländliche Kultur, einen konservativen und
rechtschaffenen Bartók, der niemandem weh tun will. Der
bornierte Versuch zu negieren, dass einer der bedeutendsten
Musiker des 20. Jahrhunderts auch ein Libertärer war, ein
Mensch, der immer und überall gegen die herrschenden Mächte
gekämpft hat, kommt implizit in den sterilen Formanalysen
einer gewissen Musikwissenschaft zum Ausdruck, die seine
Kompositionstechniken zerlegt, ohne sich zu fragen, wer der Mensch
ist, der sie geschaffen hat. Dass Bartók keine
»ideologische« Position einnahm, wird zum willkommenen
Anlass, ihn als Künstler über oder außerhalb der
menschlichen, d.h. sozialen und politischen Querelen darzustellen.
2. Bartók wird als einer der größten Erforscher der Volksmusik des 20. Jahrhunderts
betrachtet. Solche und ähnliche Analysen erscheinen mir aber
zu beschränkt und neigen letztlich dazu, die innovative
Reichweite seiner Werke zu verbergen. Er war weder der erste, der
sich mit Musikethnologie beschäftigt hat, noch der erste, der
in den entlegensten Dörfern Haus für Haus geduldig
Volkslieder zusammen getragen hat. In Ungarn waren das vor ihm
Bela Vikár und vor allem sein späterer Freund und
Kollege Zóltan Kodály. Und davor hatte Leos
Janácek, ein anderer innovativer Musiker, im nahegelegenen
Mähren mit großer Gründlichkeit über das
Volkslied recherchiert (ihm hat der italienische Forscher Franco
Pulcini vor ein paar Jahren eine wichtige Monographie gewidmet).
Im späten Frühjahr 1904 begann Bartók, die Lieder
eines slowakischen Mädchens vom Land zu notieren, die in dem
Haus Dienstmädchen war, in dem er seine Ferien verbrachte.
Dort begann eine Arbeit, die über etliche Jahre fortgeführt
wurde und einen bedeutenden Beitrag zur Musikethnologie leistete.
Aber Bartók war mehr als ein Forscher. Er war zuallererst
ein instinktiv kosmopolitischer Geist, dem es beim Notieren,
Klassifizieren und Analysieren der Lieder verschiedenen ethnischen
Ursprungs (von den Ungarn aus Rumänien bis zu den Rumänen
Maramures, von den Bulgaren bis zu den Serbokroaten, von den
Nomaden Kleinasiens bis zu den Stämmen aus der algerischen
Sahara) um mehr ging als um das Nachzeichnen und Markieren
ethnischer Trennungsslinien. Er verfolgte vielleicht mit noch
größerem Interesse den Austausch und die Vermischungen
und interpretierte die musikalischen Ethnien als eine Welt, die
sich gegenseitig nährt und bereichert, niemals als
segmentiert und sich gegenseitig abstoßend. Seine
musikethnologische Philologie ist eine Lehrstunde des
Zusammenlebens. 1955 veröffentlichte Einaudi unter der
Verantwortung von Diego Carpitella und mit einem Vorwort von
Kodály eine Sammlung von Schriften zur Volksmusik
von Bartók. Zwanzig Jahre danach erschien der Nachdruck von
Boringhieri. Es ist ein Buch, das wir alle im Bücherschrank
haben sollten. Auf ihre Art sind es politische Bildungstexte über
das Problem der Beziehungen zwischen den Ethnien und über die
Geschichte des Balkans und Mittelosteuropas, die ebenso modern und
aktuell sind wie - in anderer Hinsicht - Die Seele und die
Formen (1911) von Lukács.
3. Leos Janácek, lange
verkanntes und unverstandenes Genie, hatte bereits anhand der
Metrik der tschechischen Sprache die originäre Herkunft der
brüsken Rhythmuswechsel herausgearbeitet, die die Grundlage
der ländlichen und Volksmusik bilden. Bartók schöpft
aus der Volksmusik den Reichtum und die Komplexität, die im
unerschöpflichen Reservoir an rhythmischen Formen versteckt
ist, und verschmilzt diese mit dem innovativen Material seiner
eigenen Kompositionen. Serge Moreux, einer der ersten Erforscher
und Biographen Bartóks, paraphrasiert den Titel einer
berühmten Abhandlung Schönbergs und spricht von den
»strukturellen Funktionen des Rhythmus«. Und in der
Tat ist der Rhythmus, bzw. sind die Rhythmen bei Bartók
das, was bei Bach die Stimmführung ist, das tragende Element,
gleichzeitig aber die Anerkennung einer Tradition, eines
Ursprungs, eines »früher«, das ebenso ein
musikalisches wie ein moralisches und gesellschaftliches
Wertesystem darstellt. Die Bartóksche Rhythmik war eine der
großen Innovationen in der zeitgenössischen Musik.
Dieser Sprung nach vorne war nur möglich, weil Bartók
nicht mitleidsvoll auf ein vermeintlich »niederes Niveau«
der Volksmusik herabschaute, er ging weder mit der Arroganz der
herrschenden Kaste noch mit der widerlichen Sehnsucht nach einer
»verlorenen Unschuld« vor. Sondern er beobachtete und
studierte die Welt der ländlichen Bevölkerung mit dem
Respekt und der Aufmerksamkeit, die diesen komplexen Phänomenen,
tiefgründigen Kulturen und überliefertem Wissen
gebühren, so als sei es - wie Roberto Leydi, einer der
bedeutenden italienischen Musikethnologen festgestellt hat - eine
»Hoch«musik. Das erinnert in der Herangehensweise an
diejenige Gramscis an die Kultur der Arbeiterklasse. Deshalb
erscheint es mir angebracht, Bartók als einen Meister des
demokratischen Denkens zu bezeichnen.
In seinem Kielwasser (und in
denjenigem Gramscis) bewegten sich in den 70er Jahren in Italien
die Forscher um Gianni Bosio. Sie machten sich auf die Suche nach
Volks- und Kampfliedern, da sie der Überzeugung waren, dass
das politische Wissen des Proletariats ein zu entdeckendes
Universum und eine zu lernende Lektion darstellt. Daraus
entstanden Il Nuovo Canzoniere Italiano und die Reihe I
Dischi del Sole [1].
Durch das Studium der ländlichen
Musik entdeckte Bartók die Dynamiken der Erneuerung. An
dieser Stelle wäre es interessant, einen Vergleich mit
Schönberg anzustellen, in dessen Betrachtungsweise die
Volksmusik überhaupt keine Rolle spielte, als Phänomen
mit kultureller Bedeutung gar nicht existierte. Einige abfällige
Anmerkungen in Stil und Gedanke, einer Sammlung seiner
Texte über die Welt der Musik, machen nicht unbedingt Lust
darauf, mehr darüber zu erfahren. Stattdessen müsste man
sich mit Theodor Adorno und seiner Philosophie der neuen Musik
auseinandersetzen, die eine Art kulturelle Diktatur über die
zeitgenössische »linke« Musikwissenschaft ausübt.
Adorno führte eine totalitäre und totalisierende
Schablone ein: wer der Zwölftonmusik folgt, ist »progressiv«,
wer nicht »konservativ« und »restaurativ«.
Ein vereinfachendes schwarz-weiß Denken, das bei den
Intellektuellen der stalinistischen Epoche viel Zustimmung fand.
Adorno, der nichtsdestotrotz ein großer Kenner und selbst
Komponist war, hat Bartók einige Seiten in seinem
bedeutenden Werk Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt
(Göttingen 1956) gewidmet, und seine Beurteilungen - wonach
Bartók auf halber Strecke zwischen Fortschritt und
Restauration steckengeblieben sei - wurden teilweise von Lukács
in seiner Ästhetik übernommen. Somit hatte die
Linke Mühe, die revolutionäre Wende zu verstehen, die
Bartóks Musik einleitete, denn diese liegt in den
rhythmischen Strukturen und nicht in der Atonalität des
Materials.
4. Bartók beteiligte sich an der
Räterevolution, angeführt von den Kommunisten und
insbesondere von Béla Kun, einem Journalisten, der in
Russland in Kriegsgefangenschaft war und dort an der Revolution
1917 hatte teilnehmen können. Lukács wurde
stellvertretender Volkskommissar für Öffentliche
Bildung, Béla Balázs hatte den Auftrag, das
Theaterwesen umzuorganisieren, Bartók, Kodály und
der Komponist und Pianist Dohnányi (den Lukács in
Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog erwähnt)
bildeten das Direktorium zur Umorganisierung der Musikdidaktik und
ihrer Institutionen. Der große Rätetraum währte
jedoch nur kurze Zeit, 133 Tage, dann wurde er von der von den
Westmächten unterstützten und bewaffneten
Militärreaktion niedergemacht. So wurde einer faschistischen
Diktatur der Weg geebnet, die sich mit Mussolini und Hitler
verbündete und ein Vierteljahrhundert andauerte. Beteiligte
sich Bartók an der Räterevolution, weil er für
den Kommunismus Sympathien hegte? Kein Dokument belegt dies.
Glaubhafter ist die Hypothese, dass er mitmachte, weil die
Rätebewegung die bedeutendsten Vertreter der ungarischen
Intelligenz anzog und weil diese revolutionäre Bewegung (so
lassen sich jedenfalls ihre programmatischen Schriften verstehen)
in erster Linie eine Bewegung zur Reform der Bildung und der
Formen und Institutionen der Wissensvermittlung sein wollte.
Sektiererisch und dogmatisch bei ihren Vorhaben wirtschaftlicher
und institutioneller Reformen, setzten die Anstifter der
ungarischen Räterevolution (Radikaldemokraten, Kommunisten,
linke Sozialdemokraten, Anarchisten, Rätekommunisten) ihre
besten utopischen Energien in den Entwurf einer anderen Schule und
richteten die größte Aufmerksamkeit auf die
Jugendlichen und die Kinder. Auf diesem Gebiet profitierten sie
von der bereits geleisteten Reflexionsarbeit und von den Kämpfen
der radikalen Bewegung der LehrerInnen, die eine beachtliche
Verbreitung erfahren hatte. Auch dies ist eine bedeutende Lektion
in Demokratie.
Wir stellen uns Revolutionäre
gewöhnlich als zynische und skrupellose Strategen vor. Die
Bewegung, die dem kurzen Rätetraum in Ungarn Leben
einhauchte, bestand nicht aus Menschen solchen Schlags, sondern
war reich an Personen, die klar die neuen Grenzen der Demokratie
erkannt hatten und die neuen Generationen von der geistigen
Unterwerfung befreien wollten. Sie haben verloren, aber aufgrund
des Kräfteungleichgewicht konnten sie dem Zusammenstoß
mit allen Mächten des Westens und des Balkans nicht
standhalten. Viele Mitstreiter Bartóks wurden ins Exil
gezwungen, Kodály erlangte nur mit Mühe seine
Anstellung als Lehrer zurück, die er infolge der Säuberungen
nach der Machtergreifung Horthys verloren hatte. Bartók war
weniger exponiert als die anderen und solchen Repressalien nicht
ausgesetzt, er konnte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
weiterhin als »Exilant im eigenen Land« in Ungarn
leben. Aber er verleugnete diese Erfahrung nicht, dazu war er zu
stolz, zu unbeugsam, zu konsequent und zu aufrichtig. Beharrlich
setzte er seine Bemühung zur Erneuerung der Musikdidaktik
fort, auch wenn er nicht mehr die Möglichkeit hatte, das in
konkrete Projekte umzusetzen. Hierin liegt seine Größe.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte
er wundervolle Werke für Kinder komponierte, die
Klavierstücke (14 Bagatellen - 1908) und Für
Kinder (1908-09); in den Dreißiger Jahren brachte er
Mikrokosmos zum Abschluss, eine in sich geschlossene
Klavierschule aus 153 kurzen Klavierstücken mit zunehmendem
Schwierigkeitsgrad in sechs Bänden. Jemand nannte dieses Werk
»das wohltemperierte Cembalo unserer Zeit«. Nur ein
Mensch, der zu unermesslicher Liebe und Respekt gegenüber
Jugendlichen und Kindern fähig ist, kann so etwas entwerfen.
Anfang der Achtziger Jahre veranstaltete die Zeitschrift »Musica
e realtà« (Musik und Realität) den bisher
letzten großen Kongress über Bartók in Italien.
Er fand in Ravenna statt und war der Musikdidaktik gewidmet. In
den Kongressunterlagen ragt unter den vielen guten Ideen eine
besonders ergreifende heraus: das Projekt der Lehrerin Klara
Kokás, die auf Anregung Kodálys in Ungarn eine
Schule für Waisenkinder eröffnet hatte, Sie wandte dort
die neuen Lehrmethoden erfolgreich an, was sie vorher einige Jahre
lang bereits in den schwarzen communities von Boston und
Georgia getan hatte. Die ehemals sozialistischen Länder
Osteuropas und insbesondere Ungarn waren Vorreiter der Bewegung
für eine neue Musikdidaktik. Ihr Repertoire an Musik für
Kinder und AnfängerInnen gehört zu den reichhaltigsten
auf der Welt. Ohne die Revolution der Räte, ohne Bartók
und Kodály wären diese Horizonte nie erschlossen
worden. Das ist Demokratie, nicht als Regierungssystem, sondern
als ideale Lebensform, um das eingangs erwähnte Motto von
Polányi wieder aufzugreifen.
5. Bartók wartete noch bis 1940
mit der Emigration, da diesen unbeugsamen und sanften Menschen der
Krieg mehr als die Diktatur verängstigte. Er ließ ein
Europa hinter sich, das im Begriff war, die moralischen und
kulturellen Werte zu zerstören, an die er glaubte. Er selber
hatte in den Jahren zuvor viel Beifall als Pianist und
herausragender Folklorist erhalten. Der Beifall für den
Aufführenden, oft zusammen mit seiner Frau Ditta Pásztory,
sollte anscheinend die Nichtanerkennung von Bartóks Größe
als Komponist kompensieren. Ein Beispiel für diese Sichtweise
ist die Berichterstattung über ein Konzert, das Bartók
im März 1925 in Triest gegeben hat. Darunter ist der Autor
Vito Levi, Kritiker, Musikwissenschaftler, Student von Richard
Strauss und Komponist der Strausschen Schule, der mein Lehrer für
Musikgeschichte an der Universität von Triest war: »Der
erste Teil des Programms stellte einen einfach nur wunderbaren
Pianisten vor. Der reine Ton, der dezente Einsatz der Fußpedale,
die rhythmische Energie verliehen seinen Ausführungen in
enthüllender Nüchternheit eine herausragende innere
Kraft. Besonders beeindruckend an diesem Abend waren das Scherzo
und das Finale der Klaviersonate Nr. 21 von Beethoven
[2];
das Scherzo wegen seines durch das Stakkato entstandenen
dämonischen Ausdrucks, das Finale wegen seines rhythmischen
Feuers, das an eine Art vom Leben berauschte Tarantella erinnerte.
Eine enthusiastische Stimmung am Ende der Darbietung. Bartók
musste lange darauf warten, dass er mit der Sonate von Scarlatti
weitermachen konnte; und fixierte einen kurzen Augenblick lang die
Menge mit seinen tiefschwarzen Augen unter frühzeitig
ergrauten Haaren. Im zweiten Teil des Programms, das der Musik des
Meisters selbst vorbehalten war, verbreitete sich dann im Saal
eine immer unangenehmere, eisige Kälte. Das mondäne
Publikum des Circolo Artistico war noch nicht reif für
das Verständnis Bartókscher Kunst« (in: La
Vita musicale a Trieste, Milano 1968).
Dabei hätte gerade in Triest,
einer Stadt mit hoher musikalischer Tradition und althergebrachter
Gewöhnung an die mitteleuropäische Musik (das Triester
Quartett hatte bereits vor 1914 Schönberg im Repertoire),
der Bartóksche Stil weitaus besser verstanden werden müssen
als andernorts. Das war weniger ein Problem des Stils, des
Geschmacks, sondern eines der Klassen. Max Weber untersuchte
bereits in seinen Abhandlungen zur Musiksoziologie (1904-1912),
die jüngst von Christoph Braun wiederentdeckt und erneut
herausgegeben wurden, die Verhältnisse zwischen den sozialen
Klassen und der Art und Weise, Musik zu machen und zu hören.
Mit diesen Vorgaben interpretierte er die Geschichte der
Tasteninstrumente (das Klavier als Symbol bürgerlicher
»Domestizierung«). Die deutschen Musikwissenschaftler
der Zwanziger und Dreißiger Jahre hatten anhand der
Untersuchungen der sozialen Gruppen von Theodor Geiger (der als
erster die Selbständigen als »Proletaroide«
bezeichnete) »Romane« über die Hörgewohnheiten
der verschiedenen sozialen Klassen geschrieben. Bartók
schöpfte aus den Schätzen einer Volksmusik, die dem
konservativen und spießigen Bürgertum auf seinen
Konzerten absolut fremd war. Auf dem Lehrstuhl für
Musikgeschichte an der Universität Triest folgte auf Vito
Levi Piero Derossi, Spezialist für die Musik der slawischen
Völker und der Völker auf dem Balkan (siehe seinen
Beitrag für das Dizionario Enciclopedico Universale della
Musica e die Musicisti della UTET), unermüdlicher Leiter
des »Universitätszentrums für Musik« (Centro
Universitario Musicale) in Triest, eine einzigartige und
unvergessliche Persönlichkeit, Freund großartiger
Musiker und Interpreten (darunter Severino Gazzelloni). Zwei Jahre
stand ich ihm als Mitarbeiter beiseite, und wir blieben bis zu
seinem Tod vor einigen Jahren freundschaftlich verbunden. Ihm
verdanke ich einen Großteil meiner musikalischen Bildung und
meine erste Annäherung an Bartók Mitte der Fünfziger
Jahre. Auf die Idee, den ungarischen Komponisten in Italien
bekannt zu machen, kam 1924 der großartige Alfredo Casella,
der ihn (im Namen einer faschistischen Institution) dazu einlud,
vier Konzerte zu geben (Mailand, Rom, Neapel, Palermo). Die
italienische Musikwissenschaft erreichte die künstlerische
und zivile Botschaft Bartóks aber erst nach Ende des
Zweiten Weltkriegs. Es war vor allem Luigi Pestalozza im Rahmen
einer Untersuchung, die das Ziel hatte, die Beziehungen zwischen
Musik und dem Entstehungsprozess der sozialistischen und der
Arbeiterbewegung zu vertiefen, der die Person Bartók in den
linken Kanon einführte. Aber seit Anfang der Achtziger Jahre,
mit dem Wiederauftauchen des Formalismus, der Vorliebe für
das Frivole, der besserwisserischen und sterilen Gelehrtheit, ist
es um die Person Bartók wieder stiller geworden. So war es
eine angenehme Überraschung zu entdecken, dass ein
Kleinverlag von Sannacandro Garganico in Apulien im letzten
September eine Monographie über Bartók veröffentlicht
hat (Antonio Castronuovo, Bartók, Gioiosa Editrice, 1995).
Drei Viertel des Buches sind einem sorgfältigen und
nützlichen Verzeichnis der Werke Bartóks vorbehalten,
wo zu jedem einzelnen Entstehungsgeschichte, Phasen der Umsetzung,
erste Aufführungen und Neubearbeitungen aufgeführt
werden. Die ersten hundert Seiten sind hingegen dem Leben und dem
Stil des Komponisten gewidmet. Das Bild Bartóks, das dabei
entsteht, unterscheidet sich ziemlich von dem Bartók, den
ich hier in diesen wenigen Zeilen versucht habe darzustellen. Die
Standpunkte sind ziemlich unterschiedlich.
6. Ein so innovativer Musiker, eine
musikalische Sprache, die so sehr auf rhythmischen Strukturen
basiert, eine Klaviertechnik, die sich vom Anschlag her so
deutlich von der Klangsuche des Post-Romantizismus
unterscheidet..., konnte nicht ohne großen Einfluss auf die
Welt des Jazz bleiben. Auch heute gibt es noch klassische
Pianisten, die Bartóks Musik nur oberflächlich kennen,
aber ich kann mir keinen Jazzpianisten vorstellen, der nicht von
Bartók zehrt. Bartók hebt vor allem den perkussiven
Charakter des Instruments hervor. Die Klaviertechnik hat sich im
20. Jahrhundert deutlich gewandelt. Während Taylor und
Gilbreth die motorischen Abläufe in der Industriearbeit
studieren, entwickelt Feruccio Busoni interessanterweise die
Technik des »freien Falls« oder des langen
Oberarm»gewichts«, um damit einen volleren Klang und
mehr Beweglichkeit des Handgelenks zu erzielen. Das kluge »Il
pianoforte« (1937) von Casella gibt eine gute
Zustandsbeschreibung der Kunst anhand der Klaviertechniken am Ende
der Dreißiger Jahre. Arturo Benedetti Michelangeli war der
wichtigste Vertreter dieser Schule. Wenn der Pianist Bartók
seiner Ausbildung nach Lisztscher Herkunft ist (sein Lehrer István
Thomán an der Musikakademie Budapest war Schüler
Liszts), so brachte ihn die Entwicklung seiner
Kompositionstechniken dazu, neuartige Spielweisen für sein
bevorzugtes Instrument zu entwickeln. Die Betonung des perkussiven
Ausdrucks des Klaviers gegenüber dem melodisch-klanglichen
geht einher mit der Entdeckung der strukturierenden Funktionen des
Rhythmus. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet das
Meisterwerk von 1937, Sonate für zwei Klaviere und
Schlagzeug, eine Auftragsarbeit für Paul Sacher, Direktor
des Kammerorchesters von Basel. Ein Werk, das Bartók
ursprünglich selbst zusammen mit seiner Frau aufführen
wollte.
Als er in den USA eintraf, wie viele
europäische Intellektuelle vor ihm auf der Flucht vor den
faschistischen Diktaturen, fand Bartók Gehör und
Interesse unter den Jazzmusikern. Benny Goodman gab bei ihm ein
Stück in Auftrag (Contrasts für Violine, Klarinette
und Klavier). Ab diesem Zeitpunkt wurde er zum unvermeidlichen
Bezugspunkt für Jazzmusiker (siehe z.B. die Betrachtungen von
Keith Jarrett in einem in Italien erschienenen Interviewband).
Trotz alledem zeigte er kein besonderes Interesse, weder für
den Sound noch für die Techniken des Jazz. Wenn wir
seine im Handel befindlichen Aufnahmen anhören, gerade
aktuell wieder drei ganze CDs, scheint er als Pianist der
mitteleuropäischen Tradition verhaftet. Wie es Vito Levi
ausdrückte: sein Klavierspiel ist trocken aber nicht
gefühllos. In diesem Stil werden seine Stücke auch
aufgeführt. Wenn er dem Jazz viel geben konnte, ohne ihn
selbst zu praktizieren und aufzunehmen, bedeutet das, dass Bartók
wie alle ganz Großen über sich selbst und seine
geschichtlich bedingten Grenzen hinauswuchs. Auch wenn seine Musik
weiterhin an den Spielorten »klassischer Musik«
aufgeführt wird, so ist sein Geist sozusagen überall
dort unterwegs, wo guter Jazz gespielt wird. Auch das scheint mir
ein Zeichen seiner demokratischen Berufung zu sein, seiner
angeborenen Tendenz, Musik für Nutzer neuer Art zu machen,
für ein anderes Publikum.
Bartók ist Teil des
historischen Prozesses seiner Zeit, Ende des 19. bis Mitte des 20.
Jahrhunderts, als sich mit der Entstehung und der Entwicklung der
Arbeiterbewegung die Grenzen der Demokratie, der zivilen Teilhabe
und der Kultur immer mehr ausweiten. Es entsteht ein neues
Publikum, die Rezeption wird reichhaltiger, neue Aufführende
betreten die Bühne. Man denke nur an die Arbeiterchöre,
die spezifische Form des Musikmachens des Massenarbeiters, die in
den Industriemetropolen aufblühen (Turin, Leipzig, Budapest).
Die Arbeiterklasse, stolz auf ihr Vereinswesen, stark in ihrem
kollektiven Handeln, entdeckt die Chorsinfonie, während die
Komponisten vom Geräusch, vom Ökosystem der
Industriearbeit und der Metropolen fasziniert sind. Schon Massimo
Milo hatte in seinem erhellenden Aufsatz über Bartók
(erschienen als »Chigiana« 1965) betont, wie
Bartók scheinbar unwiderstehlich vom Phänomen des
Geräuschs angezogen sei. Nach Mila ist dies ein Ergebnis der
großen Liebe Bartóks für die Natur (»die
Geräusche der Nacht«). Das Geräusch ist
grundsätzlich ein menschliches Produkt [artefatto], Resultat
einer sozio-ökonomischen Organisation, einer historisch
bestimmten Produktionsweise. Bartók erforscht das Geräusch,
ohne auf die Stilelemente der »programmatischen« Musik
zurückzugreifen, das Geräusch des Stabs, der auf den
Boden klopft, um den Rhythmus eines rumänischen Tanzes
vorzugeben, das Geräusch des nächtlichen Zaubers und das
Geräusch, das die Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt
und Angst auslöst, ein Gefühl von Abspaltung und Verlust
des Gleichgewichts auslöst. Bartók erforscht die
archaischen Geräusche ebenso wie die Geräusche der
Moderne. Das Rätsel und das Drama des Geräuschs. Mila
hat die sublimen Fähigkeiten Bartóks gut beleuchtet,
in langsamen Passagen das Rätsel des Geräuschs
abzuschreiten. Mit Weber ließe sich die Art und Weise
untersuchen, wie Bartók das Phänomen des Geräuschs
als Übergangsphase von einer Anthropologie des Hörens in
eine andere nutzbar macht. Wir sollten uns nicht auf die langsamen
tempi, sondern auf den obsessiven, hämmernden Rhythmen
konzentrieren, auf die »brutale Gewalt« (Boulez)
bestimmter »mechanischer« Passagen, auf die tempi,
deren Pulsschlag auf nichts Menschliches mehr anzuspielen, sondern
zum Universum der industriellen Maschinerie zu gehören
scheint. Wenn Bartók uns eine Botschaft der Demokratie
übergibt, so ist das eine moderne Demokratie, voller
Konflikte und Zerrüttungen, eine Demokratie, die mutig
erobert werden muss.
Die Jahre des Kriegs scheinen, nach
den Höhepunkten in den 30er Jahren, zu einem Überdenken
der innovativen Kunst bei Bartók geführt zu haben.
Sein Stil scheint auf traditionelle Module zurückzuweichen.
Er ist überladen mit Auftragsarbeiten und schafft es nicht,
alle Anfragen von »Kunden« auf dem neuen,
amerikanischen Markt zufriedenzustellen. Gegen Ende des Kriegs
verstärkte sich seine Leukämie, es gelang ihm aber,
einigermaßen ausführliche Werke zu komponieren, wie das
seiner Frau gewidmete 3. Klavierkonzert, die inzwischen von den
Unsicherheiten und Mühen des Exils aufgerieben, an Geistes-
und Nervenkrisen litt. Er sah noch die ersten Tage des Friedens,
aber auch den Horror der ersten Atombomben. Im Sommer 1945
verschlimmerte sich die Krankheit, am 26. September 1945 starb er
im West Side Hospital in New York. Seit 1988 ruhen seine
sterblichen Überreste auf dem Friedhof in Budapest.
[1] 1962 gründete Giovanna Marini in Mailand mit Fausto Amodei, Gualtiero Bertelli (von dem auch zwei Songs im Film »Porto Marghera – die letzten Feuer« sind), Gianni Bosio,
Caterina Bueno, Giovanna Daffini, Ivan Della Mea, Roberto Leydi,
Paolo Pietrangeli, Alessandro Portelli und den Bands Duo di
Piadena und Pastori di Orgosolo das Ensemble Nuovo Canzoniere
Italiano, dessen Ziel es war, das traditionelle italienische
Arbeiterlied neu zu entdecken und zu verbreiten. »I Dischi
del Sole« war eine Reihe von Platten mit politischen Liedern
und Volksliedern, die u.a. Gianni Bosio nach '62 rausbrachte.
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Klaviersonate_Nr._21_(Beethoven)