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Toxic asset – toxic learning

Im Geist von ’68 – ohne Nostalgie und alte Leiern

(nach einem Treffen an der Universität von Siena, das vom Centro Franco Fortini in der besetzten Geisteswissenschaftlichen Fakultät organisiert wurde, 6.11.2008)


Ihr macht gerade eine außergewöhnliche Erfahrung, die Erfahrung einer Wirtschaftskrise, die weder eure Eltern, und wahrscheinlich noch nicht einmal eure Großeltern je erlebt haben. Eine schwierige, dramatische Erfahrung, von der ihr versuchen müsst zu profitieren, Lehren draus zu ziehen, damit sie euch nicht erdrückt und überwältigt. Ihr habt niemanden, der aus direkter Erfahrung darüber reden kann. Auch eure DozentInnen kennen die letzte Krise, die von 1929, nur aus Lehrbüchern, so wie die Französische Revolution oder den Ersten Weltkrieg.

Ich habe gelesen, dass das US-amerikanische Amt für Statistik der Arbeit voraussagt, dass im Jahr 2009 ein Viertel aller amerikanischen ArbeiterInnen ihren Job verlieren werden.

Hier bei uns herrscht immer noch eine Stimmung von »Alles wird gut, Frau Gräfin« [Titel eines italienischen Liedes]. Ja, man spricht von Rezession, aber nur für einen beschränkten Zeitraum. 2010 müsste es schon wieder besser gehen und der nächste zyklische Aufschwung beginnen. Ich hoffe, dass es so kommt, aber ich vertraue ihren Prognosen nicht.

Ich komme gerade von einem Kongress in Berlin mit Spitzenmanagern von großen multinationalen Konzernen aus der ganzen Welt. Von diesen Leuten, die innerhalb der Globalisierung leben, die ein Gefühl für die Märkte haben müssten, die mit den großen Geschäftsbanken und Regierungen zu tun haben, erwartete ich mir ein bisschen Klarheit und einige durchdachte Prognosen. Erlebt habe ich Gestotter und Gestammel, Verschweigen und Verharmlosungen. Einige mussten sogar die Konferenz ausfallen lassen, weil sie in letzter Minute dringend zurückgerufen wurden. Aber nur sehr wenige haben offen gesprochen und gesagt, dass die Krise sehr ernst ist, dass niemand weiß, wo es enden wird und dass die Auswirkungen katastrophal sein könnten.

Aber ihr kümmert euch – richtigerweise – um die Kürzung des Uni-Budgets und alle applaudieren euch, DozentInnen, PolitikerInnen der Opposition und sogar einige der Regierung. Ihr seid selbstständig auf die Straße gegangen und ihr stoßt im Wesentlichen auf Zustimmung. Das war ’68 nicht so. Vielleicht weil es damals etwas Gewalt gab, die teilweise vom Verhalten des Staates und der Ordnungskräfte provoziert wurde. Aber das Außergewöhnliche damals war die große Lust der StudentInnen, die Welt zu verstehen. In Frankreich waren sie von den Studiengebühren und dem Diskurs zur Studienreform ausgegangen, aber alles zusammengenommen wollten sie sehr viel mehr. Sie wollten Instrumente finden, um die Dinge zu verändern. Sie wollten verstehen, was in den kommunistischen Ländern vorging, oder in Lateinamerika, wo Che Guevara sechs Monate zuvor ums Leben gekommen war. Sie wollten kapieren, wo de Gaulles Planpolitik hinführt, was eine Arbeitergewerkschaft ist. Sie wollten sehen, wie eine Fabrik funktioniert und wie die ArbeiterInnen drinnen sprechen, wie ein Krankenhaus funktioniert und wie die Kranken behandelt werden. Es ist diese große Lust zu verstehen, dieses grenzenlose Streben nach Wissen, diese utopische Herausforderung der eigenen Erkenntnisfähigkeit, die ich bei euch nicht sehe. Oder, besser gesagt, die man von außen nicht sieht, nicht wahrnimmt.

Wollt ihr die Universität retten, so wie sie ist? Ich hoffe nicht. So wie sie heute ist, ist sie die Mühe nicht wert. Ich denke auch, dass die derzeitigen Kürzungen schlecht sind, aber die früheren Ausgaben waren auch nicht besser, und alle Regierungen haben dazu das Ihre beigetragen. Die Universität hat sich wie ein Virus ausgebreitet. Jedes Kleinstädtchen mit einem tatkräftigen Bürgermeister hat sein Stückchen Uni abbekommen. Die Universität im Kleinverkauf. An die Qualität der Ausgaben dachte niemand, und schon sehr bald ist der Verdacht entstanden, dass diese Ausdehnung nicht, wie man uns erzählte, von der noblen Absicht angetrieben wurde, aus dem Wissen eine für alle zum Greifen nahe Ware zu machen, sondern vom armseligen Vorsatz, Lehrstühle zu schaffen mit ihrem Gegenstück von prekären und schlecht bezahlten Posten. Wenn ich nicht befürchten würde missverstanden zu werden, würde ich euch sagen: »Sollen doch die ProfessorInnen diese Universität verteidigen!« Was habt ihr damit zu tun? Hattet ihr jemals die Möglichkeit auch nur entfernt an den Entscheidungen teilzunehmen, die zur heutigen Beschaffenheit der Universitäten führten? Bis jetzt habt ihr mit euren Studiengebühren eine Dienstleistung bezahlt, für deren Qualität und Effizienz keine Bewertungsmaßstäbe existieren, auf die ihr euch stützen könntet, wenn ihr Verbesserungen verlangt. »Friss oder stirb!« und beinahe jeder zweite Student »stirbt«. Die Rate der Studienabbrecher an den italienischen Unis beträgt fast 50%. Ihr wisst genau, dass jemand, der zu studieren beginnt und wieder aufhört, ein hohes Risiko der Anpassungsunfähigkeit hat. […]

»Die italienischen StudentInnen könnten die Hälfte der italienischen Unis wegen ihrem schlechten Service verklagen«, schreibt Roberto Perotti in seinem Buch Die gezinkte Universität (L’università truccata, Einaudi, Turin 2008). Ich hoffe, dass alle von euch das Buch wenigstens überflogen haben. Beim Lesen der ersten 90 Seiten kommt einem der Gedanke, dass so manche das Studium aus Abscheu über die Vetternwirtschaft und Korruption abgebrochen haben. Das Buch räumt mit einigen Mythen und Gemeinplätzen auf, wie dem, dass den Universitäten in Italien wenig Ressourcen zur Verfügung stehen. Das stimmt nur dann, wenn man den Betrag der Ausgaben durch die Anzahl der eingeschriebenen StudentInnen dividiert, nicht jedoch wenn man ihn durch die Anzahl der StudentInnen, die wirklich regelmäßig an der Uni sind, dividiert. Dann wäre Italien weltweit auf den ersten Plätzen.

Aber viele von euch könnten mir sagen, dass der Kampf gegen die Kürzung des Uni-Budgets nur ein Werkzeug ist, um auf einer Massenebene und mit breiter Zustimmung Opposition gegen die Regierung Berlusconi auszudrücken. Es ginge also nicht um vulgäre ökonomische Werte, sondern um hohe Politik. Und so wie im Jahr 1968 die französischen StudentInnen schließlich gegen General De Gaulle kämpften, so kämpfen vierzig Jahre später die italienischen StudentInnen gegen den Cavaliere Berlusconi. (Nebenbei bemerkt, selten waren sich zwei so unähnlich: Selbst mit seinen erhöhten Absätzen hätte der Cavaliere dem General nicht bis zum Gürtel gereicht. Der Eine sehr groß, streng und ernst wie eine Statue aus Wachs, der Andere ziemlich klein und untersetzt, mit entblößtem Gebiss gestikulierend.) Aber wenn das die hohe Politik ist, die euch zum Handeln bringt, dann würde ich euch in aller Offenheit sagen »Sucht euch einen anderen Weg!«, sonst lasst ihr euch als Kanonenfutter von denen benutzen, die sich mit der Rechten im strategischen Denken einig sind, das den ökonomischen Entscheidungen der Zweiten Republik zugrundeliegt; von denen, die im Grunde genauso für die aktuelle Krise und ihre zukünftigen Auswirkungen verantwortlich sind. Eure Zukunft wird nicht nur von [der Bildungsministerin] Frau Gelmini bedroht, sondern von einem ökonomischen Denken, das von beiden Seiten vertreten wird, und das es weder schaffte noch überhaupt anstrebte, Regeln und Beschränkungen für das Finanzsystem aufzustellen, in dem inzwischen nichts mehr einem Markt ähnelt, sondern einem Glücksspiel mit dem Geld der ArbeiterInnen und der von ihrer eigenen Arbeit lebenden Mittelschicht. Dieses System war dazu fähig, fiktiven Reichtum zu erschaffen und reellen Reichtum zu zerstören in einem Ausmaß, wie wir es in der Neuzeit noch nie erlebt haben. Spätestens seit dem Platzen der Blase 2001 war allen der Wahnsinn dieses Systems bewusst. Eines Systems, das Manager nicht dafür belohnte, die von ihnen geführten Unternehmen zu vergrößern, sondern dafür, sie zu verkleinern, damit ihr Wert an der Börse durch viele Kündigungen steigt. Danach können die Unternehmen verkauft und eine Menge Prämien und der Wertzuwachs einkassiert werden. Dieses System zerstörte im Namen der Effizienz und der Konkurrenzfähigkeit vor allem die Kompetenzen, das menschliche Kapital. (Wenn man Leute kündigt, um den Lohnanteil zu senken, beginnt man bei den am besten bezahlten, d.h. bei den älteren Angestellten und Technikern, also bei denen mit der meisten Erfahrung.) Dieses System hat die großen Einkommensunterschiede aus den Großunternehmen auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet und Italien zu einem Land mit großen Ungleichgewichten zwischen dem reicheren Teil und dem weniger reichen Teil der Bevölkerung gemacht, was die Untersuchung der Bankitalia über die italienischen Familien gerade wieder belegt hat.

»Wer im Finanzsektor arbeitet, verdiente bereits im Jahr 2000 im Vergleich zu anderen Branchen um sechzig Prozent mehr«

schreibt Esther Duflo, die am MIT in Boston lehrt. Sie fährt fort:

»Das Problem der Entlohnung kam in den USA auf den Tisch, als man den Paulson-Plan diskutierte, der der amerikanischen Regierung erlaubte, 700 Milliarden Dollar auszugeben um die Toxic Assets aufzukaufen, die der Markt nicht mehr haben wollte. Es wirkt ungerecht, dass der Steuerzahler das Desaster zahlen soll, das von Leuten verursacht wurde, die 17.000 Dollar in der Stunde verdienten«,

und beendet ihren Beitrag mit folgenden Worten:

»Angesichts der aktuellen Ereignisse bekommt man richtig Lust, einige unserer Geschäftsführer in der Finanzbranche nach Hause zu schicken. Hoffen wir wenigstens, dass das Ende der exorbitanten Gehälter die Jungen dazu ermutigt, sich anderen Branchen zu widmen, wo ihre Talente für die Gesellschaft nützlicher sind. Die Finanzkrise könnte uns in eine schwere und lange Rezession fallen lassen. Der einzige Vorteil könnte eben eine bessere Verwendung für unsere begabtesten jungen Menschen sein.«

Die amerikanischen Wahlen, die Barack Obama zum Präsidenten machten, waren eine schöne Reaktion auf diese unerträgliche Situation und es wäre eine gute Idee, wenn ihr in selbstorganisierten Seminaren darüber reflektieren würdet, was da passiert ist. Die Presse und die landläufige Meinung tönen unisono: »Das Neue ist, dass ein Schwarzer, ein Afroamerikaner gewählt wurde.« Die üblichen oberflächlichen Urteile von politischen Halb-Analphabeten. Diese Wahlen waren wichtig, weil nach circa dreißig Jahren – seit den Jahren von Reagan – die Klassenthematik im Zentrum der Debatte stand. Nicht das Proletariat, aber die Mittelschicht (zu der auch Schichten von ArbeiterInnen aus den Großbetrieben zählen), also diejenigen, die mehr als ein Jahrhundert lang den Klebstoff für die Glaubwürdigkeit des american dream bildeten, und die seit einigen Jahren – gerade in Folge der wilden Vorgänge einer Form des Kapitalismus ohne Regeln und ohne Ethik, eines Kapitalismus von Abenteurern und Glückspielern – einen Prozess der Verarmung erleiden, den man nur mit der Krise 1929 vergleichen kann. Gegen diese Tendenz der sozialen Zersetzung und Verarmung der Mittelschicht kämpfen seit einigen Jahren zahlreiche Bürgerinitiativen (darunter die der bekannten Journalistin und Schriftstellerin Barbara Ehrenreich, siehe www.unitedprofessionals.org). Barack Obama hat dieses Unbehagen erfasst und es zu seinem dominanten Thema gemacht. Er hat nicht, wie wir es von den langweiligen, schlaffen, »politischkorrekten« Leadern der sogenannten Linke gewöhnt sind, von der »rosa Quote«, den Homosexuellen gesprochen, auch nicht von Weiß und Schwarz, oder von sauberen Beeten und Fahrrädern, sondern er ist dem Problem auf den Grund gegangen und hat den Blick auf die Katastrophen des wilden Neoliberalismus gerichtet und zum ersten Mal seit dreißig Jahren über Klasse gesprochen. [1] Er gewann, weil er es schaffte, die Jungen an die Urnen zu bringen, 70% von ihnen haben ihn gewählt. Er hat die große Tendenz der Epoche aufgegriffen, über die ich mir selbst und anderen schon seit einiger Zeit in meinen Schriften über Arbeit Klarheit zu verschaffen versuche. (Mein letztes Buch hieß »Mittelschichten ohne Zukunft?«)

Ich bin überzeugt, dass euer Kampf für euch und andere nützlich sein könnte, wenn ihr ihn dazu benutzen würdet, euch ein System des Denkens zu erarbeiten, euch kritische Werkzeuge zu verschaffen, um zu verstehen, wie passieren konnte was passiert ist, und welche perversen Mechanismen in den letzten zwanzig Jahren die Wirtschaft beherrscht haben, und weder von der Rechten noch von der Linken angezweifelt worden wären, von einigen isolierten Wissenschaftlern einmal abgesehen. »Das System reguliert sich selbst, deshalb gibt es die Behörden« - so ging die neoliberale Litanei in diesen Jahren. Quatsch! Der Enron-Skandal, der häufig als Beispiel für die Strenge genommen wird, mit der das US-System die Firmen bei Regelverstößen bestraft, wäre niemals aufgeflogen, wenn sich nicht eine Frau, die Mitglied im Verwaltungsrat war, entschieden hätte zu »singen« und den Betrug aufzudecken. Ein »Deep Throat« hat das Ganze losgetreten, sicher nicht das FBI! In den Jahren der besessenen Privatisierung (1992/93), mit der Italien riesige Vermögen der öffentlichen Hand in die Hände von neuen Plünderern [Raider] der Finanzen gegeben hat (nachzulesen in dem Buch von Giorgio Ragazzi Die Herren der Autobahnen [I signori delle autostrade] erschienen bei Il Mulino, Bologna 2008 – aber man kann auch an das möglicherweise schlimmere Beispiel der Telecom denken), wurde der »weiße Putsch« mit dem Tarifvertrag vom Juli 1993 besiegelt, dank dessen wir heute die niedrigsten Einstiegslöhne in Europa haben. Es waren natürlich keine Vertreter der neuen Rechten, die diesen Tanz leiteten, sondern Männer wie Romano Prodi und andere ehemalige Staatsmanager. Davon profitiert haben die Tronchetti Proveras [von Pirelli], die Bennetons, die Colaninnos [von Piaggio], die Gavios [Bauunternehmer, Autobahnbesitzer]…, die wir alle – ganz zufällig! – heute in der Affäre Alitalia wiederfinden.

Die Universität von Siena hat einen exzellenten Ruf in den Fächern Wirtschaftswissenschaften und Bankwesen. Haben sie mit euch über diese Geschichten gesprochen, und wie haben sie darüber gesprochen? Und was sagen sie euch über die heutige Krise? Dass es eine normale zyklische Krise ist, vielleicht ein bisschen zugespitzter, aber im wesentlichen ganz normal, rational; gewiss, ein paar Übertreibungen hat es gegeben, aber das System ist stabil und gesund. Sagen sie euch das? Sagen sie euch nicht, dass dieses System und diese Mechanismen die soziale Ungleichheit und die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten erschaffen, stabilisieren und konsolidieren? Sagen sie euch nicht, dass dieses System die Kompetenzen, das Humankapital erniedrigt und missachtet? Dass es das genaue Gegenstück ist zur knowledge economy, die sie dauernd im Mund führen, das genaue Gegenstück zu einem System, »in dem sich Leistung lohnt«? Und wenn sie euch diese Dinge nicht sagen, wenn sie euch weiterhin die üblichen Märchen vom Rotkäppchen erzählen und liberale Ideologie einflößen – dann schickt sie auf die Straßen, dann sollen sie gegen die Kürzungen an den Universitäten protestieren!

Dieser euer Kampf macht Sinn, wenn er ein Schritt voran ist, wenn er zu einem konstituierenden Akt in einem Prozess der Selbstschulung wird.

Solche Ereignisse wie in den letzten Monaten hat es im gesamten letzten Jahrhundert nicht gegeben. Institutionen und Personen, die unermessliche Schäden produziert haben (denkt nur mal an die Rentenkassen, die sich mit dieser Krise verflüchtigt haben!), sind weder bestraft worden noch wurde ihr Besitz beschlagnahmt. Im Gegenteil, sie sind gerettet worden, ohne dass der Staat, der die Mittel dafür zur Verfügung gestellt hatte, die Kontrolle über diese Institutionen übernommen hätte. Ein riesiges Geschenk an die Abenteurer und Diebe, eine schlechte moralische Lektion für die neuen Generationen (nicht dass die Übernahme durch die öffentliche Hand besser gewesen wäre, in Deutschland haben gerade öffentliche Banken wie die bayerische Landesbank die schlimmsten Schandtaten begangen).

Hat euch irgendjemand dazu aufgefordert, gegen diese Schande auf die Straße zu gehen?!

Wer nun sagt: »Was hätte man auch anderes machen sollen?« hat in gewisser Weise recht. In der Tat konnte und wollte sich in den letzten Jahren niemand eine andere Gesellschaft vorstellen, es sei denn als Utopie. Keine globalen Alternativen, nur Überlebensstrategien. Im wesentlichen schlage auch ich euch so etwas vor: Wenn ihr gemeinsam Formen der Selbstschulung aufbaut, schafft ihr auch Netzwerke und macht euch Stück für Stück von der Isolierung, dem Individualismus und vor allem von der Illusion frei, dass »eine gute Ausbildung an der Universität«, womöglich ergänzt mit einigen Kursen oder Masterabschlüssen nach beendetem Studium, euch vor den Folgen der Krise, der Erwerbslosigkeit [sottoccupazione; wörtl: Unterbeschäftigung] und der Demütigung schützen würden, vom Arbeitgeber ausschließlich als Kostenfaktor betrachtet zu werden.

In einem Land, in dem die Einstiegsgehälter für Berufsanfänger die niedrigsten in Europa sind, bedeutet eine Qualifikation reichlich wenig. Die Entlohnung der Prekären und der Zeitarbeiter misst sich damit, folglich werden diese auch schlechter bezahlt als andernorts. Und eure Generationen leben mit dem Risiko, bis 40 mit prekären Jobs auskommen zu müssen. Deshalb ist es pure Demagogie, wenn man von der Demokratisierung der Zugangsmöglichkeiten spricht, und die Universität verteidigt, weil sich auch die Kinder der unteren Einkommensschichten einschreiben können. Das Problem ist nicht die Vergrößerung der Anzahl der Studierenden, sondern die Tatsache, dass das Humankapital eines Studierten auf dem Arbeitsmarkt keinen Pfifferling wert ist! Wenn die Jugendlichen nicht wieder ein Minimum an Verhandlungsmacht auf dem Arbeitsmarkt erlangen, wird die Universität ausschließlich ein Ort, um die Arbeitslosenzahlen niedrig zu halten, ein obszöner Apparat purer Sozialkontrolle. Die Verantwortung der Gewerkschaften für diese Situation ist gewaltig. Die Strategie des italienischen Kapitals in den letzten zwanzig Jahren ist kurzsichtig und kläglich. Die Welt der Information, die diese Realität verschweigt oder nur flüchtig streift, ist trostlos. Vor vierzig Jahren sind die Studenten in die Fabriken, die Büros, die Forschungslabors, die Krankenhäuser, die Gerichtssäle, die Redaktionsräume der Zeitungen gegangen, um zu sehen, wie die wirkliche Welt funktioniert. Sie haben sich nicht damit zufrieden gegeben, sich davon erzählen zu lassen, sie haben keine geführten Besuche gemacht. Schmeißt euch in die realen Prozesse, da wo sich euch die Möglichkeit bietet! Nutzt die große Ressource Internet, um euch an der Quelle mit Informationen zu versorgen, um kritische Betrachtungen der Welt kennenzulernen, auch wenn ihr dabei hin und wieder im ganzen Dreck des Internet herumwühlen müsst. Die westlichen Länder, die die welfare-Systeme abgebaut haben, sind nur noch damit beschäftigt, toxic asset zu verschlingen, ihr solltet versuchen, kein toxic learning zu schlucken! Ihr habt bereits einen Schritt nach vorne getan für ein besseres Leben.

Organisiert Treffen mit Leuten, die ein paar Jahre älter sind, lasst euch von ihnen erzählen, wie es ihnen in der Arbeitswelt nach Verlassen der Universität ergangen ist. Besucht die blogs, wo Leute von ihren Erfahrungen auf Arbeit berichten, stellt euch ernsthaft die Frage, ob es Sinn macht, auf den Universitäten von heute zu studieren, oder ob es nicht besser wäre, Prozesse der Selbstschulung und Gegeninformation aufzubauen. Lasst eurer Phantasie freien Lauf beim Entwickeln einer Ästhetik des Protests, die wirkungsvoll, angriffslustig und nicht repetitiv ist. Die Kommunikationsformen waren eins der erfolgreichen Mittel der proletarischen Kämpfe im 20. Jahrhundert, guckt euch nochmal die spektakulären performances der Jobber im französischen Kulturwesen an, die etliche Jahre durchgehalten haben. Schmeißt die alten, ermüdenden Slogans und Parolen auf den Müllhaufen, sie sind zu Banalitäten verkommen und lassen die Milch sauer werden. Fällt denn euren vielen Kommilitonen, die Medienwissenschaften studieren, nichts ein?

Ich habe fast zwanzig Jahre an der Universität unterrichtet. Als sie mich rausgeschmissen haben, habe ich meinen Lehrstuhl nicht verteidigt. Die letzten zwei Unterrichtsjahre habe ich an der Universität Bremen verbracht, nun auch schon ein viertel Jahrhundert her. Vor kurzem bin ich nochmal dort gewesen, weil ein damaliger Kollege seinen endgültigen Abschied nahm und ein Jahr früher als in Deutschland üblich in Pension ging. Er hatte wie üblich auf die lectio magistralis verzichtet. Mit wenigen Abschiedsworten vor etwa hundert Freunden und Kollegen erklärte er, warum er vorzeitig ging. »Ich war die letzten fünf Jahre Vorsitzender der Fakultät, habe mich dem vollständig gewidmet im Glauben, meine Pflicht zu tun. Ich hatte weder Zeit zu studieren noch mich auf dem neuesten Stand zu halten. Ich kann doch nicht zur Lehre zurückkehren und die gleichen Sachen erzählen wie vor fünf Jahren, das fand ich den Studenten gegenüber nicht aufrichtig.« Wie viele italienische Dozenten würden es genauso machen? Die werden zu Ministern und nehmen danach wie selbstverständlich ihren Unterricht wieder auf, vor allem wenn sie aus der Mitte-Links-Regierung kommen. Obwohl ich froh bin, die italienische Universität verlassen zu haben, weil sie die Intelligenz eher unterdrückt als sie zu stimulieren, denke ich dennoch, dass es immer noch zahlreiche Dozenten und viele Assistenten gibt, mit denen ihr ein Verhandlungsbündnis in Bildungsfragen eingehen könnt. Die Dynamiken von Bündnissen, die im Zusammenhang mit Forderungen entstehen, von Protesten, die die Wiederherstellung von etwas fordern – wie ein Großteil der Proteste, die aus defensiven Situationen und nicht aus Eigeninitiative entstehen – sind sehr zerbrechlich und dem Risiko ausgesetzt, zu verarmen und zu erstarren, wenn sie zu sehr einer Sache verhaftet bleiben. Daher müsst ihr dafür sorgen, dass es weiter geht, und Prozesse in Gang bringen, die vom jetzigen Ziel losgelöst sind. Offen gesagt, auch wenn die Reform 133 zurückgezogen wird, werden sich eure grundsätzlichen Bedingungen nicht ändern. Es sind diese Bedingungen, die ihr ändern müsst.

Sergio Bologna



[1] Obama macht knallharten Klassenkampf! siehe die Regierung, die er gerade zusammenstellt! Sergio Bologna muss so verstanden werden, dass Obama auf der Welle dieses Problems ritt; nicht so, dass er die Hoffnungen seiner WählerInnen aus der Arbeiterklasse nun umsetzen würde!

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