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30.07.2009 | [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] |
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Zum Erscheinen des neuen Buchs »Globale Krise« von Karl Heinz Roth ein kurzer Ausschnitt aus einem Gespräch mit ihm (mehr davon in der Wildcat 85, September 2009).Das Buch hat sich aus einem ersten Papier und anschließenden Diskussionen entwickelt. Warum hast Du im letzten halben Jahr sämtliche Verpflichtungen abgesagt, um ein zweibändiges Werk über die aktuelle Krise zu schreiben? Erstens weil diese Krise ein Epochenbruch ist, der auch nicht durch eine mögliche Stabilisierung in Frage gestellt wird; die herrschenden Klassen sind von wilder Panik erfasst und haben einen Paradigmenwechsel vollzogen. Zum Beispiel sind bei GM und Chrysler die Gewerkschaften nun am Eigenkapital beteiligt und abgefunden worden für ihre Ansprüche auf die Pensionskassen. Ihre Kontrolle über die Arbeitskraft ist damit äußerst fragil und problematisch geworden – ähnlich bei Opel... Ich denke zweitens, wir können heute die Perspektive einer völlig entgegengesetzten Selbstorganisation vorschlagen. Wobei wir die Rechnung aufmachen müssen mit einer stark zersplitterten Klassensituation, weltweit sowieso, aber auch in der BRD: Kurzarbeit wirkt völlig anders bei VW, Daimler oder Bosch – als bei Leuten, die bei Zulieferern arbeiten, vorher 1400 Euro verdient haben und nun bereits seit sechs Monaten 60 Prozent kriegen und nicht wissen, wie es weiter geht. Das gleiche lässt sich etwa für die Rente sagen. Die Polarisierung wird extrem zunehmen. Im unteren Drittel bis zum zweiten Drittel setzen ganz massive Demontageprozesse ein, während der Kern gehalten wird. Aber in dem Gießkannenprogramm der Bundesregierung sind eine ganze Menge Subventionierung in den mittleren Wirtschaftsbereich gegangen, also Handwerk, Bau und Kleinbetriebe. Das ist aus der Perspektive des Systems relativ klug gewesen. Aber was soll mit einer sich herausbildenden Massenerwerbslosigkeit mit all ihren Schattierungen passieren? Wird es neue Arbeitsbeschaffungsprogramme geben, wo die Leute in Lagern gettoisiert werden? Oder werden sie doch die Realeinkommen erhöhen und damit eine andere Perspektive schaffen? Das ist noch unklar. Bisher meiden sie die zweite Alternative wie der Teufel das Weihwasser. Es wird alles daran gesetzt, riesige Summen ins Bankensystem so reinzupumpen, dass sie nicht als Konsummöglichkeiten bei der Klasse ankommen. Du hast recht, es ist ein Projekt, die Klasse so weit wie möglich niedrig zu halten, eine Angst davor, Masseneinkommen, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmungsforderungen, also eine neue Aktivität von unten zu mobilisieren. Es geht für uns um eine Gegenperspektive, die eine alternative Krisenlösung impliziert, die nicht auf Katastrophen orientiert ist, sondern auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung von Massenbedürfnissen setzt. Mein Vorschlag war, Reformprojekte auf die Spitze zu treiben, um so eine Transformationsperspektive zu gewinnen. Da hatten wir Bauchgrimmen mit Deinem Papier. Einerseits aus analytischen Gründen, weil die riesigen Geldmengen zwar weit über den New Deal rausgehen, aber es gibt keine Reformen, die der Klasse Luft zum Atmen verschaffen würden. Wir hatten desweiteren ein politisches Bauchgrimmen – Dein Papier fand explizite Zustimmung genau deswegen, weil es »reformistisch« ist. Wir brauchen eine Perspektive von unten jenseits einer Verelendungstheorie, aber auch jenseits eines illusorischen Setzens auf Reformen, die es nicht gibt. Wenn es diese Reformen nicht gibt, dann ist das hinfällig, völlig d'accord. Wenn die Gesundheitsreform in den USA scheitert, wie sie immer gescheitert ist, dann gibt es nur eine revolutionäre Perspektive ohne irgendwelche Vermittlungsschritte. Das ist aber kein Zuckerschlecken, sondern hart und bedrohlich. Das gleiche gilt für China, wenn dort eine kapitalistische Entwicklung auf dem Land losgeht, die den Weg frei macht fürs Agrobusiness, dann gibt es 500 Millionen überflüssige Menschen. Es gibt im Regime eine starke Strömung, eine genossenschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen, um die unglaublich problematische Armutssituation der Parzellenbauernwirtschaften zu lösen. Aber wenn diese Strömung unterliegen sollte, dann kommt die innere kapitalistische Dynamik. Und das ist das Ende der Volksrepublik China, das Ende dieser Exekutivdespotie. Ein unmittelbarer Meltdown hat erstmal nicht stattgefunden. Wie können wir die gewonnene Zeit nutzen? Wir haben erstmal Zeit gewonnen, um genau zu sehen, wo wir konkret an unseren jeweiligen Orten agieren und Lernprozesse von unten mit in Gang bringen können. Und ich denke, dass ein Stück organisatorische, oder vorsichtiger gesagt, politische, analytische Antizipation nötig ist. Es wäre extrem wichtig, ein weltweites Informationsnetz von unten aufzubauen. Ohne postmoderne Modekonzeptionen, die irgendwelche Segmente des globalen Proletarisierungsprozesses favorisieren, also immaterielle Arbeit oder so – aber auch ohne aus der reinen Subsistenzökonomie eine neue Gesellschaft aufbauen zu wollen. Denn wir müssen uns auch über die ungeheure Masse vergegenständlichter Arbeit und den unglaublichen akkumulierten globalen Reichtum Gedanken machen, wie der anzueignen und zu verteilen wäre. Das, denke ich, wäre die Perspektive. Karl Heinz Roth: Die globale Krise. Band 1 des Projekts "Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven". 336 Seiten, EUR 22.80 Hier findet ihr ein Kapital aus dem Buch als pdf: Der Sonderfall China und die Entstehung der Weltwirtschaftsachse Washington – Peking. |
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