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Abgeguckt: Buch-Block-Demo in Rom...

Großbritannien: Mit Jahresbeginn kommt die harte Realität: die Mehrwertsteuer ist um 2,5 Prozentpunkte gestiegen, die kommunalen Budgets werden um bis zu 17 Prozent gekürzt, bei Sozialleistungen soll radikal gekürzt werden (dazu gehört auch der National Health Service, bisher ist ja Krankenversorgung in Großbritannien noch umsonst). Schon jetzt ist die Inflation je nach Berechnung zwischen 3,3 und 4,7 Prozent. Und spätestens im Frühjahr beginnt der Staat mit den Massenentlassungen von 500.000 Beschäftigten im Öffentlichen Dienst.
Wir gehen also offensichtlich von »Phase 3« zu »Phase 4« über. Gegen das Sparprogramm der Regierung gingen schon im November und Dezember SchülerInnen, Studierende und Staatsangestellte auf die Straßen. Dazu die beiden folgenden Berichte.



WOW!

Parolen auf einer militanten Demo im Zentrum von London am 9. Dezember 2010

Die gewalttätige und begeisternde 'Studenten'-Demo in der Londoner Stadtmitte am 9. Dezember 2010 war die einfallsreichste Demonstration, die wir je gesehen haben, einschließlich des wunderbaren Jahres 1968. Die trotzkistische Linke wurde ziemlich an den Rand gedrängt, sogar die smarte, aber leider sehr reduktionistische Ultralinke hinterließ kaum Eindruck. In einer anregenden und freundlichen, aber auf Vandalismus gestimmten Atmosphäre, auf vielen selbstgemachten, zusammengepfriemelten, oft großartig formulierten Pappschildern, überall herrschte eine Art situationistisch beeinflusster Gemeinschaftlichkeit mit offenem Ausgang vor. Eine individuelle Kollektivität, bei der du wusstest, dass sie genau richtig war, weil sie sich richtig anfühlte.

Auf die Sockel der Statuen am Parliament Square wurden eine Menge Parolen gesprüht, wie etwa: 'Fordert das Unmögliche' (ziemlich '68), 'Griechenland, Paris, London: AUFSTAND', oder 'Ich würd so gern was Schönes sagen können, kann ich aber nicht' – dabei hatten sie das doch gerade getan, und wie!

Und die Plakate, zur gefälligen Kenntnisnahme: 'Angestellt und angewidert', 'Ihr kriegt mein Hirn, wenn ihr es aus meinen kalten toten Händen nehmt', 'Die Uni ist eine Fabrik: Streik, Besetzung', 'Wär mein Freund nur so schweinisch wie die Polizei', 'Ein l'art pour l'art-Streik', 'Lasst sie Kredit fressen', 'Spart Gelder, esst die Armen', 'Die Apathie ist tot', 'Ich bin Julian Assange', 'Bitte recht freundlich, du bist jetzt auf einem Datenträger', 'Lasst uns nicht zahlen, was die W(B)anker angerichtet haben' [Wanker = Wichser], 'Gebührenanstieg / Klassenspaltung' usw. Einige waren offensichtlich auch recht ausgefeilte Erweiterungen aus dem Fall out der modernen Kunst: 'Dies ist kein Plakat' (sicher eine Anspielung auf das 'Dies ist keine Pfeife'-Bild einer Tabakpfeife des Surrealisten Rene Magritte?) und 'Dies ist kein gutes ZEICHEN' (bestimmt ein Kommentar nach Art von Marcel Duchamp – und besser als der alte Knacker selbst – zur Trockenheit des Postmodernismus?) Und dann gab es etwas sehr Aktuelles: Ein BBC-Intellektueller vom 'Aktuellen' war gerade mit einem Schüttelreim populär geworden, als er den Tory-Minister Jeremy Hunt »Jeremy Cunt« nannte [cunt = Fotze], womit er die fundamentalistischen 1970er-FeministInnen nervte. Massen von Plakaten mit 'Fuck die Gebühren, Stopp die Cu*ts' [ cuts = Kürzungen; cunts = Fotzen], 'Das 'n' in cuts stammt von den Tories', 'Clegg/Cameron Cu*ts' usw. Und nicht zu vergessen die großartige Posse fünfzehnjähriger moslemischer Mädchen (Pakistanis aus Brick Lane im East End?) in ihren Hidschabs, die ein Plakat hochhielten mit 'Klassenkampf, Clegg ist ein Wichser'. Dann gab es noch eine Reihe großer, stabiler Plakate mit: 'Negative Dialektik: Adorno' (und auf der Rückseite) 'Erziehung der Gefühle: Flaubert'. Andere lauteten 'Eindimensionaler Mensch: Marcuse', 'Erledigt in Paris und London: George Orwell', 'Leben gegen den Tod: N.O.Brown'. 'Gesellschaft des Spektakels: Debord' usw. Und eins dieser Schilder hat den unserer Meinung nach besten Vorfall ermöglicht. Die Träger dieser Schilder sind keine Eierköpfe unterwegs aufs Altenteil. Einige von ihnen gingen geradewegs an die Front, und ein Cop wurde von seinem Pferd gehauen mit dem Schild 'Negative Dialektik: Adorno' (auch wenn andere Protestierer dabei halfen, das Arschloch aus dem Sattel zu holen), sodass sie ihn direkt als Schwerverletzten ins Bullenhospital fahren konnten. Ein Stück weiter wurde das Schild 'Die Gesellschaft des Spektakels: Debord' daraufhin voller Wut zerfetzt, von einem anderen Cop, der die Überreste auf ein abgesperrtes Rasenstück vor der Westminster Abbey warf! (All das ist wahr, einer von uns hat das beobachtet.)

Die Wahrheit ist, dass es in den letzten Wochen zur größten und autonomsten (naja, oder zumindest auf dem Weg dahin) Erhebung von Studierenden (in Wirklichkeit Sozialhilfeprols in Verkleidung) kam, die das Vereinigte Königreich je gesehen hat, und die Kunststudenten scheinen da ganz vorne bei zu sein. Da der Großteil der action (eher das als Kritik) sich um Kürzungen bei Kunst und Kultur generell dreht, gibt es eine zunehmende Tendenz in Richtung Transzendierung der Kunst. Das nimmt eine Form an, die dem ähnelt, was mein Bruder und ich 1968 gemacht haben: GROSS GESCHRIEBEN. Zugegeben, heute ist das proletarisierter, da am Ende der Ochserei wirklich keine Jobs und Karrieren zu haben sind, außer für Arschkriecher!

Dave & Stu’, 9. Dezember 2010

[gekürzt]

Anmerkungen zu den Überflüssigen:
Tendenzen in der Studentenbewegung in Großbritannien

Am kalten Morgen des 10. November fand eine Massendemonstration gegen einen scheinbar neuen staatlichen Anlauf zur Reform der höheren Bildung statt. Der am 4. November veröffentlichte Browne-Bericht hatte bestätigt, was weithin erwartet worden war: der Staat will eine gewaltige Erhöhung der Studiengebühren durchdrücken.

Schon in den letzten Jahren hatten viele Unis zu kämpfen, um zahlungsfähig zu bleiben. Entlassungen und Rationalisierungen waren dabei die Mittel der Wahl. Die »Ergebnisse« des vormaligen BP-Firmenbosses Lord Browne zeigten nun aber, dass der Staat radikalere Veränderungen anstrebt. Brownes Vorschlag, die staatlich vorgegebene Gebührenobergrenze von 3290 Pfund pro Jahr aufzuheben, bedeutet, dass die Kosten für ein Jahr Studium je nach Renommee der Uni auf 6000 bis 9000 Pfund ansteigen werden. Damit will sich der Staat weiter aus seiner Verantwortung für die Finanzierung der höheren Bildung zurückziehen, schätzungsweise werden die staatlichen Zuschüsse bis 2014 um 70 Prozent sinken.

Die 50.000 Leute, die am Morgen des 10.11. durch London marschierten waren dazu von der National Union of Students (NUS – nationale Studentengewerkschaft) aufgerufen worden. Die Organisatoren wollten mit dem Aufmarsch auf ihr spezielles Anliegen hinweisen, ein höflicher Spaziergang durch das Londoner Zentrum sollte »unseren« Politikern zeigen, wie unzufrieden die Studierenden sind. Die politische Stoßrichtung der NUS war (und bleibt!) »freeze the fees!« (in etwa: lasst die Gebühren so wie sie sind) und nicht deren Abschaffung. In ihrem Bemühen um eine »friedliche« und relativ unauffällige Demo hatte die NUS in enger Zusammenarbeit mit der Londoner Metropolitan Police eine Route von A nach B festgelegt. Es war mit drei Stunden Langsamgehen zu rechnen, danach mit der noch langwierigeren Qual vieler Reden, aufgesagt von NUS Staatsbürokraten-in-spe.

Es kam dann aber ein bisschen anders. Eingelullt von der rückgratslosen Kollaboration der NUS und immer noch darum bemüht, ihren Ruf nach dem Polizeimord an Ian Tomlinson beim G20 Gipfel 2009 wiederherzustellen, setzte die Metropolitan Police nur einige hundert Polizisten ein. Als die Spitze der Demonstration das Millbank Centre erreichte, wo die Konservative Partei ihr Hauptquartier hat, wichen die vordersten Reihe von der offiziellen Route ab. Sie strömten in den Innenhof des Millbank Centres und – da sie die Türen unverschlossen fanden – in das Gebäude hinein. Als die hinteren Reihen merkten, dass da etwas Ungewöhnliches losging, bogen sie massenweise in den Innenhof ab. Trotz des Versuchs der NUS-Ordner, den Platz zu kontrollieren, strömten tausende in den Innenhof – und die Polizei, von denen zu wenige da waren, und die Journalisten, von denen zuviele da waren, sahen ruhig dabei zu, wie die Fenster eingeschlagen wurden.

So ein Schauspiel unkontrollierten Widerstands hätte in Europa nie so viel Bedeutung erreicht wie hier in England, wo große Demos seit den 1990ern (Poll Tax Riots, Criminal Justice Bill, Brixton 1995, J18... – die Ausnahme war Oldham/Bradford 2001)1 wohlig friedlich und entmutigend bedeutungslos waren. In den britischen kapitalistischen Medien kam fast jede Zeitung mit der Interpretation daher, die Gewalt im Millbank Centre sei von einer »anarchistischen Minderheit« ausgegangen, die den Protest »überfallen« hätten. Zwei Wochen lang haben die Medien, Angst vor einer anarchistischen, gewaltbereiten »Sekte« zu verbreiten versucht – bis sie dann wieder auf ihre üblichere Taktik zurückgriffen, nämlich Verachtung für gewalttätige Kids aus der Arbeiterklasse zu verbreiten. Nirgends haben die Medien die Ereignisse so offensichtlich verfälscht, wie bei der Millbank »Splitterdemo« (wie sie im Einklang mit PolitikerInnen und dem kriecherischen Präsidenten der NUS sie zu nennen beschlossen haben). Aber es war keine Minderheitsaktion! Die Entscheidung in das Tory-Hauptquartier einzudringen, war spontan, und die »Vorhut« waren einfach die Leute – Studierende, AnarchistInnen und studierende AnarchistInnen – die halt vorne gingen.

Höhere Bildung im Vereinigten Königreich

Die höhere Bildung in Großbritannien macht seit der Nachkriegszeit eine »Vermassung« durch. Offiziell wird darauf gepocht, dass dieser Ausweitungsprozess zum Zwecke »demokratischer Einbeziehung« und politischer Reife stattgefunden habe. Steigende Raten an »Teilnahme« bedeuteten »gleiche Chancen«. Diese Version schlägt sich sogar in den Begriffen nieder, mit denen die Soziologen den Prozess zu fassen versuchen. Wir hätten uns von einem »Elite«- zu einem »Massen«-System entwickelt. Aber das ist eine absurde Verzerrung. Im UK gab und gibt es ein System von Elite-Universitäten. Und schon immer lief ein Förderband von den Privatschulen für Kinder über die Elite-Unis zu den begehrtesten Jobs beim Staat und in der Industrie. Auch dieses läuft weiterhin recht reibungslos.

Was hat sich also geändert? Die »Vermassung« sollte eigentlich die geänderten Bedürfnisse der Nachkriegswirtschaft erfüllen. Das Angebot der neuen Universitäten für ihren »Zulauf« war offenkundig geringerwertig als das, was den Kindern aus den oberen Schichten vorbehalten blieb. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde ein artifizieller Mangel über die Universitäten verhängt mit dem Ziel, sie um Staatsgelder konkurrieren zu lassen. Neue »selektive« Zuschüsse haben das alte«Gießkannen«-System ersetzt mit der Folge, dass das Geld an die größeren und älteren Institutionen fließt (wo die Bourgeoisie ausgebildet wird). Mit Ausnahme der zwei wichtigsten Ausbildungscamps für die »Leistungsträger« (Oxford und Cambridge) wurden Ausgaben für die Lehre überall stark gekürzt. Ein Abschluss an einer der neueren Institutionen ist nicht nur weniger prestigeträchtig, er ist weniger wert, selbst wenn er in denselben akademischen Fachrichtung ist.

Aber trotz der Verarmung der Geistes- und Sozialwissenschaften außerhalb der Elite-Unis schreiben sich die StudentInnen weiterhin in Scharen in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen ein. Diesen »Widerspruch« will die Regierung nun knacken. Zu viele Studierende entscheiden sich fur Studiengänge, die sie nicht zur Ausübung profitabler Arbeit qualifizieren. Gleichzeitig ist die Wirtschaft aufgrund der Krise nicht mehr in der Lage, den Strom der Hochschulabsolventen effizient zu absorbieren. Ungefähr 8 Prozent der Hochschulabsolventen werden direkt arbeitslos – in einem Markt, wo auf jede Stelle im Durchschnitt 270 Bewerbungen kommen. Ein Drittel aller Call-Center-Beschäftigten hat einen Hochschulabschluss. Ihre »Flexibilität und Anpassungsfähigkeit« ist nichts anderes als ihr Wille, eine repetitive und extrem krankheitmachende Lohnarbeit unter miesesten Bedingungen auszuüben; ihre Arbeit verlangt keine der Fähigkeiten, die sie sich auf Staatskosten in ihrem Studentenleben angeeignet haben. Wirtschaftlich gesehen sind Zuschüsse zu dieser Höheren Bildung irrational, und der Staat hat beschlossen sie einzuschränken; weil er aber keine öffentliche Unzufriedenheit erregen will, entzieht er den Zugang zu geistes-und sozialwissenschaftlichen Abschlüssen, indem er den Universitäten »erlaubt«, die Studiengebühren zu erhöhen. Damit werden ärmere StudentInnen von Studiengängen abgeschreckt, mit denen sich nicht schnell und viel Geld verdienen lässt. Studierenden aus der Arbeiter- und Mittelklasse bleibt die »Option« einen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Abschluss für 27.000 Pfund zu machen. Mit Zinsen nah am Marktsatz und einer abgrundtief niedrigen Chance einen Job zu finden. StaatsvertreterInnen nennen das einen »Triumph der freien Wahlmöglichkeit« und reden darüber, als hätten sie die Bastille gestürmt.

All das erkennen die liberalen und marxistischen Kritiker der Bildungsreform gut genug. Aber sie verstehen nicht, wie die Details der eben beschriebenen Veränderungen die Zusammensetzung und den Charakter der Demonstrationen beeinflusst haben.

Demonstrationen und Besetzungen

Die Millbank-»Gewalt« hat etwas mit den viel weiter gehenden Sparprogrammen auf allen Ebenen zu tun. Das ist eine banale Wahrheit, die aber in Dummheit umschlägt, wenn der Rückschluss gezogen wird, die britischen Demos seien »größer« als zuvor, weil die Sparprogramme auch »größer« sind. Wie auch immer man das politische Bewusstsein britischer StudentInnen beschreiben will, es verdient mehr als auf gleiche Stufe mit einem Taschenrechner gestellt zu werden.

Seit der Demo am 10. November kamen die Aufrufe zu alle wichtigen Demos von Vorfeldorganisationen der wichtigsten trotzkistischen Parteien. Man sagt, die »social media« (Facebook, Twitter) hätten Organisation »horizontaler« gemacht. Das ist falsch. Die letzten Monate haben gezeigt, dass zwar »jeder« zu einer Demonstration aufrufen kann; aber niemand geht auf eine Demo, zu der einfach nur »irgendjemand« aufgerufen hat.

Nachdem der NUS-Präsident den Angriff auf die Tory-Zentrale als »verachtungswürdig« denunziert hatte, war sein Ansehen bei den StudentenaktivistInnen auf Null. Das absolute Versagen der NUS, die Studentenbewegung zu führen (oder dem Staat ausgelagerte Polizeifunktionen zu liefern), liegt daran, dass die StudentInnen nicht mehr willens waren, sich in einen symbolischen Protestmarsch zwängen zu lassen, wenn ihre eigenen Interessen angegriffen werden. In den drei größten Demos seit Millbank ist die Anzahl der Leute auf den Straßen gesunken, aber ihre Zusammensetzung hat sich verändert. Das liegt hauptsächlich an der Ankündigung der Regierung, die Education Maintenance Allowance [EMA- Zuschuss zur weiterführenden Ausbildung] abzuschaffen. Labour hatte damit etwa 30 Pfund pro Woche an Arbeiterklassen-SchülerInnen im Alter von 17-18 bezahlt, vorausgesetzt sie erfüllten Schulanwesenheitsbedingungen. Und je mehr SchülerInnen an den Demos teilnahmen, desto größer wurde die Feindseligkeit gegenüber der Polizei – die sowieso seit Millbank ihrer Pflicht in Bezug auf die öffentliche Ordnung mit typischer Heftigkeit nachgeht.

Auf den Demos kommen nun weiße junge Erwachsene aus der Mittelklasse mit schwarzen und asiatischen Teenagern aus der Arbeiterklasse zusammen. Von königsmordenden Neigungen der Demonstranten schockiert – einer hatte gar einen Stab durch das Fenster eines Autos, in dem der britische Thronfolger saß, gesteckt! – verkündete die Regierung ihre »Überlegung«, einige öffentliche Proteste zu verbieten und der Polizei die Nutzung von Wasserwerfern zu genehmigen. Das sind die klarsten Zeichen eines neuen nationalen Klimas offener politischer Repression. Obwohl die Regierung bei ihren Plänen, Wasserwerfer einzuführen »nachgegeben« hat, verfolgt sie ein Programm der Akkulturation: Die Menschen sollen sich daran gewöhnen, verprügelt zu werden.

Die Zerstörung die von jener Demo am 9. November verursacht wurde – namentlich ein paar Fenster des Gebäudes, in dem sich das Finanzministerium befindet – war vor allem das Werk von Teenagern aus der Arbeiterklasse, deren Handeln auf den Demos tendenziell militanter ist als das der StudentInen, was nicht überraschend ist. Der Guardian hat dann auch schnell Videos der Ereignisse gebracht, wo ältere Studenten beim Versuch zu sehen sind, die Handlungen einer »gewalttätigen Minderheit« auf gebildetste Weise zu denunzieren. Die Demo am 9. Dezember war mehrheitlich gewalttätig, woran vor allem die Bullen schuld waren, die mit Pferden mehrmals in die eingekesselte Menge hineinritten und einen Protestierenden mit einem Schlagstockhieb auf den Schädel so zurichteten, dass er eine Gehirnoperation brauchte. Abgesehen vom brutalen Konflikt mit der Polizei erweiterte sich die Demonstrationstaktik. Unter den Demonstranten waren Buch-Block AnarchistInnen, in einer Geste der Solidarität mit italienischen AktivistInnen, die National Gallery wurde kurzzeitig besetzt und das Wort »NO« mit Säure in Westminsters Rasenflächen eingeätzt.

Trotz alledem weisen die irritierten Beschwerden der liberalen pazifistischen StudentInnen darauf hin, dass im Moment eine recht prekäre Einheit unter denen besteht, die zusammengekommen sind um zu demonstrieren. Vorerst lässt sich nicht vorhersagen, ob die Studierenden, die »friedlich und ‘aus Prinzip’« demonstrieren, ihren Protest auch dann fortsetzen, wenn z.B. Seminararbeiten abgegeben werden müssen.

Das wird an den Studentenbesetzungen klar. Insgesamt wurden dreiundzwanzig Unis besetzt, hauptsächlich »neuere Massenunis«. Einige besetzten strategisch wichtige Räume in ihren Universitäten und wurden schnell herausgeworfen; andere Besetzungen konnten sich länger halten, weil sie weniger wichtige Räume und Gebäude übernahmen, oft Konferenzhallen, wodurch das tägliche Lehr- und Verwaltungsgeschehen nicht unterbrochen wurde. Landesweit waren eintönige pseudo-modernistische Campus Gebäude mit »Closing Down«- Schildern behängt und wurden zu Treffpunkten für lokale Anti-Einschnitte Gruppen umfunktioniert.2

Die BesetzerInnen machen die militanteren Fraktionen unter den Studis auf den Demonstrationen aus. Aber die Tatsache, dass Besetzungserklärungen und Forderungen bis zu einem gewissen Grade Argumente der NUS zu Themen wie »Rechte« und »wirtschaftliches Wachstum« wiederholten, zwingt auch hier den Schluss auf, dass das politische Bewusstsein der Studentenbewegung noch ziemlich unfertig ist. Man muss auch daran erinnern, dass nicht eine der Universitätsdirektionen so weit unter Druck gesetzt worden ist, dass sie über die Hauptforderung fast aller Besetzungen verhandelt hätte: die Direktion solle sich öffentlich gegen die Gebühren und Einschnitte in der Bildung aussprechen. Die Direktion des UCL (University College London) gab die Namen einiger der an der dortigen Besetzung beteiligten StudentInnen an die Polizei weiter, und die Direktionen von Cambridge and Goldsmiths haben (mit unterschiedlicher Offenheit) gedroht, die StudentInnen müssten die Schäden bezahlen. Aber bisher wurde noch niemand wegen Beteiligung an den Besetzungen suspendiert, und die Direktion scheint vorerst auf Konfrontationsvermeidung zu setzen.

Außerhalb Londons gab es einige intelligente Versuche, sich ernsthaft mit SchülerInnen in der weiterführenden Bildung [alles zwischen Mittlerer Reife und Abitur, auch Berufsschulen] zusammen zu organisieren. Der Schulstreik am 24. November in Brighton wurde durch die Zusammenarbeit der Anti-Einschnitte Gruppe der Universität Sussex mit den Sixth Forms (Schulen mit bloßer Oberstufe) in Brighton koordiniert. 1300 SchülerInnen hatten an diesem Morgen ihre Schulen verlassen und sich der 3000 Leute starken Demonstration angeschlossen. Der Polizei fiel es schwer, so viele Leute zu kontrollieren, und eine große Gruppe SchülerInnen versuchte es mit einigen spontanen Straßenblockaden und hatte Erfolg bei der Plünderung eines Geschäfts [Exzellente Berichte unter brighton student walkout]. Kleinere provinzielle Unruhen so wie diese könnten wichtiger für die britische Bewegung werden, während liberale UniversitätsstudentInnen zu demobilisieren beginnen (ihr Gewissen beruhigt, ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt leicht verbessert), und Protestierende es müde werden, von guttrainierten Truppen der Bereitschaftspolizei auf kalten Plätzen mitten in London eingekesselt zu werden. Am 24. November haben 16.000 Schülerinnen in London demonstriert, als sich die Bereitschaftspolizei ihnen in den Weg stellte, gingen fast alle auseinander, eine kleinere Gruppe wurde dann für ungefähr sechs Stunden, bis halb elf Uhr nachts, eingekesselt.

Ergebnisse

Der Ausbruch im Millbank Centre hat alle überrascht. Danach erweiterte sich die soziale Basis der Protestbewegung. Es ist aber nicht gelungen, diese Basis zu integrieren. Nun beginnt ein großer (jedoch noch nicht messbarer) Teil aus der ersten Gruppe der Protestierenden (StudentInnen in höherer Bildung) sich rauszuziehen. Die Gebührenerhöhungen werden erst 2012/13 in Kraft treten, somit sind Studierende in höheren Semestern selbst nicht direkt betroffen. Außerdem ist es nicht nur der NUS sondern auch moderaten StudentInnen sehr unwohl angesichts des unbändigen und gewalttätigen Protests junger ArbeiterInnen. Es ist also nicht zu erwarten, dass die Mehrheit der StudentInnen in den kommenden Monaten effektiver in die Gänge kommen.

Politisch vielversprechender sind die Gegenbewegungen zum Mainstream der Studentenbewegung. Die idiotische Forderung nach Rücknahme der Erhöhungen verkennt, dass Höhere Bildung auch schon jetzt nach Funktion und Klasse stratifiziert ist. Das System insgesamt muss abgelehnt werden. Wenn die Studis kapieren, dass erträgliche höhergestellte Jobs in der ‘Knowledge economy’ dauerhaft am Verschwinden sind, kann aus dem Potential von SchülerInnen aus der Arbeiterklasse, StudentInnen aus der Mittelklasse und ArbeiterInnen, die aus dem Öffentlichen Dienst entlassen werden, etwas Weitergehendes entstehen. Der massive Stellenabbau im Öffentlichen Dienst wird auch die Studis in den höheren Semestern betreffen. Dann sind sie vielleicht in der gleichen Position wie die Kids in der weiterführenden Bildung, deren EMA bald gestrichen wird, nämlich der einer Überschussbevölkerung. Da aber die Streiks im Öffentlichen Dienst erst ab März geplant sind, könnten bis dahin die SchülerInnen und die militanten Besetzer an den Unis den Kern der Bewegung ausmachen.



Fußnoten

1 Poll Tax riot, 1990. Siehe: revolt against plenty; auf Deutsch: siehe Wildcat 51.
CJB (Criminal Justice Bill) riot, 1994 siehe Aufheben
Brixton Riot 1995: Online gibt es keinen verlässlichen Bericht von Beteiligten, hier nur kurz: Der Aufstand begann als Streikposten vor der Brixton Polizeistation, nachdem wieder ein schwarzer Gefangener in Gewahrsam getötet worden war. Mehrere hundert hauptsächlich junge, einheimische Leute (die Verkehrsverbindungen nach außen wurden früh gestoppt) hielten die Gegend fast die ganze Nacht hindurch, indem sie umsichtig Feuer legten und Autobarrikaden aufbauten, bis sie dann der zwei Tage langen Besetzung durch bewaffnete Polizei nachgaben. Zeichnet sich gegenüber den größeren Krawallen von 1981 und ’85 durch die ungefähr gleiche Beteiligung von Weißen und Schwarzen aus, und weil Symbole der Gentrifizierung angegriffen wurden, die nach den Ereignissen ’81 und ’85 als soziale »Lösung« finanziert worden waren. (Siehe auch die Council Estate Krawalle in ganz Großbritannien in den frühen 1990ern: Brixton wird hier nur im Bezug auf das Argument über »Straßenprotest« herausgestellt. Ausführlich dazu ein Artikel in Wildcat 60 »Heißer Sommer in den Siedlungen« von Dave W. – siehe oben!! – aus dem Späsommer 1992)
Oldham, Bradford, Burnley, Stoke-on-Trent, 2001. Auch hier scheint es keinen Bericht von Beteiligten zu geben. Einen gut informierten Bericht zum Hintergrund und den Ereignissen aus einer radikal-linken-liberalen Perspektive findet Ihr hier.
Zur ideologischen Aneignung der Ereignisse, siehe metamute

2 Lokale Aktivistengruppen, die meist schon länger existieren (für mehr und bessere kommunale Sozialwohnungen, mehr Kindergärten usw.). Seit der neuen Regierung schließen sich ihnen noch mehr Leute an. Solche Gruppen werden oft als »anti-cuts«-Gruppen zusammengefasst, also Gruppen, die in verschiedenster Form gegen die Einschnitte protestieren.

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