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12.01.1213

In den letzten Monaten haben migrantische TransportarbeiterInnen in Norditalien in harten Streiks eine deutliche Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen erkämpft. Sie sind gewöhnlich nicht direkt beim Unternehmen beschäftigt, sondern arbeiten dort über Subunternehmer, die als »Kooperativen« angemeldet sind. Diese Organisationsform öffnet der Ausbeutung Tür und Tor, für die Arbeiter gibt es keinerlei soziale Sicherheit, wenig Lohn und keine festen Arbeitszeiten. Wenn es Probleme gibt, wechselt die Firmierung, und die Arbeiter bleiben auf ihren Forderungen sitzen. Bekannt geworden ist seit Oktober 2012 vor allem der Streik im größten europäischen Lager von IKEA in der Nähe von Piacenza, u.a. deshalb, weil viele Linke und Leute aus sozialen Zentren die ArbeiterInnen bei der Blockade unterstützt haben. Diese UnterstützerInnen und die GenossInnen, die das folgende Interview gemacht haben, sind der Ansicht, dass dieser Kampf »Teil eines regelrechten Kampfzyklus von Logistik-ArbeiterInnen ist«.

Wir haben den Artikel von Anna Curcio und Gigi Roggero, der am 11. Januar in il manifesto erschien, übersetzt. Das Original und weitere Informationen findet Ihr bei uninomade.

english version


»Revolution« in den Logistik-Zentren

Mohamed Arafat, ein seit zehn Jahren in Italien lebender Immigrant aus Ägypten, hat den Kampf der ausländischen und italienischen ArbeiterInnen gegen die Ausbeutung im Warenverteilzentrum Piacenza organisiert. Und er hat gewonnen. »200 Euro im Monat für acht Stunden Arbeit am Tag. Solche Sklavenzustände hatten wir vor sechs Jahren. Dann haben wir angefangen zu kämpfen. Daran haben sich in den letzten Monaten auch die entlassenen und dann wieder eingestellten IKEA-ArbeiterInnen beteiligt.«

Man könnte Mohamed Arafat, der seit sechs Jahren bei TNT arbeitet und eine wichtige Bezugsperson im Warenverteilzentrum Piacenza ist, als Kampfavantgarde bezeichnen. Ein Jahr zuvor war er nach seinem Studienabschluss in Sozialarbeit aus Ägypten nach Italien gekommen, hatte in einer Orangenfabrik in Sizilien gearbeitet und war von dort nach Piacenza gekommen. Er ist nicht ausgewandert, um dem Elend zu entfliehen: «Mein Vater ist Ingenieur und meine Mutter Lehrerin. Als ich mit der Uni fertig war, wollte ich mein eigenes Leben beginnen und andere Menschen und andere Sprachen kennenlernen: Ich dachte, hier wäre das Paradies. Aber nach ein paar Monaten war ich kurz davor, nach Ägypten zurückzugehen. In Süditalien habe ich brutale Ausbeutung und Hunger kennengelernt, da macht der Chef, was er will. Und im Norden ist es nicht anders – siehe TNT: Du kommst, um acht Stunden zu arbeiten, und nach zwei Stunden schicken sie dich nach Hause; am Ende hast du einen Lohn von 200 bis 300 Euro. Das ist nicht das Europa, das wir erwartet hatten, als wir auf eigenes Risiko unser Land verließen.«

Im Sommer 2011 begannen die Kämpfe bei TNT. «Als erstes mussten wir Einigkeit unter allen Arbeitern im Betrieb herstellen und geschlossen die Angst besiegen, mit niedrigen Löhnen erpresst zu werden oder rauszufliegen. Unter diesem ständigen Druck sind viele Arbeiter krank geworden. Um das Kommando über uns zu behalten, haben sie uns gegeneinander ausgespielt, Italiener gegen Ausländer (90 Prozent der Belegschaft), Ägypter gegen Marokkaner: 'Wenn du brav bist, bezahl ich dir mehr, misch dich nicht ein, der da ist ein Spitzel, usw.'. Das Misstrauen, das der Chef über die Jahre aufgebaut hatte, haben wir in wenigen Monaten des Kampfs überwunden. Ein Marokkaner hat mir gesagt: 'Ich hätte nie gedacht, dass ich einem Ägypter trauen würde.' Und ein anderer: 'Mir geht es nicht nur um die erkämpften Rechte, sondern das Wichtigste ist, dass ich mich jetzt mit euch an einen Tisch setze und wir alles teilen.' Jetzt wissen wir: Wenn die Arbeiter gespalten sind, hat der Chef das Kommando. In diesem Kampf ist eine Familie entstanden: Wenn sie einem etwas antun, dann tun sie das allen an. Langsam ist auch der Italiener ein Immigrant geworden, auch die Italiener verdienen inzwischen das gleiche, aber im Kampf sind die Spaltungen aufgehoben worden. Wir haben es geschafft, uns zu vereinigen: gegen den Chef, für einen würdigen Lohn und für ein besseres Leben für alle.»

Wie waren die Arbeitsbedingungen vor Beginn des Kampfs?

Jeder einzelne stand unter Druck, immer schneller zu arbeiten. Es gab einen Abteilungsleiter, der Tag und Nacht rief: 'Los, los, los', das war wie eine verwunschene CD! 200 Leute mussten die Arbeit von 500 machen, so haben sie die Kosten für 300 Leute gespart. TNT hat fünf Jahre lang die höchste Produktivität in Italien erreicht, aber nie hat sich jemand die Arbeitsbedingungen angesehen. Die Chefs haben Riesenprofite gemacht, aber die Arbeiter wurden nur schlecht behandelt und wurden krank. Das sind Sklavenhaltermethoden. Als ich mal einen aufforderte, Nein zu sagen, meinte er, das könne er nicht, sonst würden sie ihn rausschmeißen.

Bei TNT wie bei anderen Logistikfirmen übt ein Konsortium von Kooperativen die Kontrolle über die Arbeit aus ...

Zuerst waren es vier, jetzt sind es noch zwei. Das System der Kooperativen ist ein großes Problem: Alle zwei Jahre ändern sie ihren Namen. Auf diese Weise zahlen sie keine Abgaben und betrügen die Arbeiter. Seit 10 bis 15 Jahren ist das Konsortium bei TNT immer dasselbe, aber unter unterschiedlichen Decknamen, 80-jährige Strohmänner, die juristisch nicht verfolgt werden können, fungieren als Eigentümer. Außerdem sind unsere Arbeitsplätze in Gefahr, wenn die Kooperative wechselt. Wir wollen v. a. das System der Kooperativen abschaffen. Es ist besser, direkt mit der Firma zu tun zu haben.

Wie habt Ihr konkret angefangen, Euch zu organisieren?

Es begann damit, dass 20 von insgesamt 380 Arbeitern sich als Gruppe zusammenschlossen. Wir gingen von Haus zu Haus und erklärten, wie der Vertrag funktioniert, wie sie uns ausgebeutet und über Jahre hinweg betrogen haben; und wir sagten, dass wir diese Behandlung, bei der unsere Würde mit Füßen getreten wird, nicht länger akzeptieren dürfen. Ich habe anfangen, die Arbeiter zu schulen, ich habe jedem eine Aufgabe gegeben, um die Gruppe zu vergrößern. Schichtleiter haben mich angerufen und gesagt, sie wüssten Bescheid über die Treffen bei mir zu Hause. Da habe ich mir gesagt, warum laufe ich nicht offen in der ganzen Stadt herum, um alle zu überzeugen. Ich habe 50 bis 60 Leute zu Hause besucht, und in den Tagen danach war das bei TNT wie eine Lawine. So viele sind zu mir gekommen, um mir zu sagen, dass sie auch unter der Ausbeutung leiden und sich am Kampf beteiligen wollen. Damit die Organisation wächst, muss man ab und zu eine »Lüge« erzählen, um Mut zu machen: Als wir zwanzig waren, habe ich gesagt, dass die anderen, auch wenn sie nicht mitmachen, auf unserer Seite sind, dass wir hundert sind. Und zwei oder drei Tage später waren wir wirklich hundert!

Es war keine Lüge, nennen wir es eine Vorwegnahme...

Wir haben es tatsächlich geschafft, auch wenn ich das nicht gedacht hätte. Man muss an das, was man macht, glauben und ehrlich sein, keine persönlichen Interessen dabei verfolgen.

Um streiken zu können, habt Ihr Euch auf die Suche nach einer Gewerkschaft gemacht...

Wir wussten nicht einmal, was eine Gewerkschaft genau ist: Wir hatten uns bisher nur an sie gewandt, um die Erneuerung unserer Aufenthaltserlaubnis oder Familienzusammenführungen zu regeln oder um ein Formular auszufüllen, sie war für uns eine Dienstleistungsagentur. Wir haben uns nie an sie gewandt, um Rechte einzufordern, denn wenn jemand sich beklagt, sagen sie: »Halt den Mund und arbeite«, sie haben den Kampf vergessen. Also haben wir uns auf die Suche nach einer Gewerkschaft gemacht, die bereit ist, uns beim Kämpfen zu unterstützen, also beim Kämpfen, wie wir es verstehen: streiken und Streikposten aufstellen, um den Unternehmer zu treffen. Es darf nicht so sein, dass die Gewerkschaft die Arbeiter benutzt; die Arbeiter müssen die Gewerkschaft benutzen. Im Juli 2011 haben wir uns mit Si Cobas [Sindacato Intercategoriale Cobas – Lavoratori autorganizzati] getroffen. Ich habe erklärt, dass wir innerhalb einer Woche eine Torblockade auf die Beine stellen könnten. Sie zeigten ihre Bereitschaft, wir haben angefangen, und wir haben gewonnen.

Was hat Euch der Sieg bei TNT gebracht?

Die Anerkennung des nationalen Tarifvertrags, Lohnerhöhungen (vorher war der Grundlohn sechs Euro pro Stunde), dreizehnten und vierzehnten Monatslohn, Urlaub und Freistellungen. Und wir haben unsere Würde erhalten, was noch wichtiger ist als Geld. Vorher sind wir zur Arbeit wie in den Knast gegangen, jeder Tag war schlimmer als der davor. Jetzt haben wir die Angst überwunden, die der Unternehmer benutzt hatte, um jeden Kampf zu ersticken. Heute wissen wir: Wenn wir nicht selber kämpfen, um unser Leben zu ändern, wird es niemand für uns tun; wir selber schaffen unsere Zukunft. In Piacenza organisierte Rifondazione Comunista einmal im Jahr eine Demonstration für die Immigranten, auf der nicht besonders viele waren. Nach dem Kampf bei TNT machen wir alle zwei Wochen eine Demo. So sollten es auch die Italiener machen, denn wenn die Lage sich verschlechtert, wird der Immigrant weggehen, aber die Italiener werden bleiben! Alle müssen sich am Kampf beteiligen.

Haben die arabischen Aufstände die Entschlossenheit der Arbeiter beeinflusst?

Ja, sie haben uns gezeigt, dass nichts unmöglich ist, dass man siegen kann. In Ägypten wurde Mubarak nach 30 Jahren an der Macht verjagt, das hätte niemand mehr für möglich gehalten. Das ist auch bei TNT geschehen, deshalb haben wir nicht von Streik, sondern von Revolution gesprochen. Für uns war es wie in Ägypten: die Revolution bei TNT.

Nach Eurem Sieg scheint sich der Kampf auszuweiten...

Nach TNT ist es bei GLS [Paketdienst im Besitz der niederländischen Post] losgegangen, bei Antonio Ferrari, bei Bartolini. Wir haben versucht, den Kampf in Norditalien so weit wie möglich auszuweiten, wie bei [der Supermarktkette] Esselunga, und in Zentralitalien, zum Beispiel bei SDA [Kurierdienst der italienischen Post] in Rom. Jetzt wissen alle, dass man durch den Kampf bessere Arbeitsbedingungen erreichen kann, er ist eine wesentliche Waffe: Wenn man einig ist, kann man die Angst überwinden und jede Schlacht gewinnen. Die Arbeiter von TNT kommen vor allem aus Ägypten, Marokko, Tunesien, es gibt Nigerianer, Senegalesen, Inder – zwischen uns gibt es keine Abgrenzungen. Bei GLS waren viele Inder, meist sprechen sie kaum Italienisch, und genau das nutzt der Unternehmer aus, um uns besser auszubeuten. Wir haben mit Indern und Chinesen Versammlungen gemacht, wir spürten den Unterschied zwischen ihnen und den Arabern, aber ich habe gesagt: 'Vergessen wir, wo wir herkommen, hier sind wir alle Arbeiter und alle ausgebeutet. Nur daran müssen wir denken.'

Im Juni 2012 beginnen die Kämpfe gegen die Kooperativen des globalen Riesen IKEA...

Bei IKEA arbeiten Leute aus etwa 30 Ländern. Angefangen haben wir mit zwei Marokkanern von TNT, wir sind Tag für Tag hingegangen, um einen nach dem anderen zu überzeugen. Nach den ersten Kämpfen haben wir eine Vereinbarung unterzeichnet, dass der nationale Tarifvertrag Anwendung findet, die Würde der Beschäftigten und ihre gewerkschaftliche Organisierung respektiert werden; damit sind auch die Arbeitsrhythmen und die Tätigkeiten geregelt. Zuvor hatten sie die zu entladenden »Zeilen« von 12 – 13 auf 35 erhöht. In der Krise behandeln sie uns immer mehr wie Maschinen, sie pressen uns aus, um die Produktivität zu erhöhen, aber der Lohn bleibt immer der gleiche.

Nach einigen Monaten hat die Kooperative versucht, zu den Bedingungen vor dem Streik zurückzukehren. Sie wollte die Anzahl der Paletten im Schnitt fast verdreifachen; sie haben die Arbeitszeit der meisten Beschäftigten auf vier Stunden gekürzt, so dass sie zwangsweise zwei Tage die Woche zuhause bleiben mussten und nur noch 400 Euro im Monat verdienten. Als die Produktivität zurückging, ,ussten alle Überstunden machen. Im Oktober haben sie etwa 90 ArbeiterInnen draußen gehalten, zwölf haben sie entlassen, von denen konnten wir drei durch Kampf wieder reinkriegen, also waren noch neun entlassen. Wir haben nun jeden Tag die Tore blockiert. Am 2. November hat die Polizei am Tor 9 extrem brutal zugeschlagen, es gab 20 Verletzte und 30 Anzeigen, ich hab sechs Anzeigen gekriegt. Ich weiß nicht, ob ich deshalb zukünftig Probleme mit meiner Aufenthaltsgenehmigung kriege, aber kein Kampf ist ohne Risiko, das Wichtige ist doch, dass der Kampf sein Ziel erreicht.

Wir haben uns mehr als einmal mit der Firma getroffen, aber dabei kam nie etwas heraus. Am 18. Dezember haben Studenten, politische Gruppen und soziale Zentren aus Bologna zusammen mit den IKEA-ArbeiterInnen eine schöne Streikpostenkette vor dem IKEA-Kaufhaus organisiert. Die Kunden haben sich solidarisch verhalten, weil sie genauso ausgebeutet werden wie wir. In den letzten Tagen hat IKEA schließlich nachgegeben, die neun Entlassenen werden wieder eingestellt. Der Unternehmer hat kapiert, dass der Schaden für ihn sonst noch viel größer sein wird. Der Kampf weitet sich aus, mehrere Zeitungen aus Schweden, aus der Türkei und aus der arabischen Welt haben Kontakt zu mir aufgenommen. IKEA versucht ja, sich nach Nordafrika auszubreiten; deshalb müssen sie aufpassen, ihre Interessen auf der ganzen Welt stehen auf dem Spiel. Der Unternehmer sieht nur sein eigenes Interesse, und genau da müssen wir ihn treffen.

Seit Jahren diskutieren wir über die Wirksamkeit von Streiks. Das hier ist ein Streik, der dem Unternehmer weh tut und siegreich ist, weil er die strategischen Punkte des Produktionssystems trifft. Wie wichtig war fü Euch die genaue Kenntnis des Produktionszyklus?

Wenn wir die Tore blockieren, suchen wir uns die Tage aus, an denen die Firma den größten Schaden hat. Man muss den Zeitpunkt und den Ort wählen, wo man die Interessen des Unternehmers tatsächlich trifft, damit es ihm nicht gelingt, den Schaden wieder reinzuholen, den wir ihm zufügen. Zuschlagen, wenn es möglich ist, und die Beschäftigten der verschiedenen Firmen vereinigen. Wenn sie heute die ArbeiterInnen von TNT oder der GLS in Piacenza angreifen, dann solidarisieren sich die aus Bologna, Modena und Verona. Wir müssen die verschiedenen Kämpfe miteinander koordinieren, dann findet der Unternehmer keinen schwachen Punkt, den er angreifen kann.

Wenn du mit der Fahne kommst und einen traditionellen Streik anfängst, wenn du aufs Dach steigst, dann kannst du dort auch dein ganzes Leben lang bleiben, du wirst nichts ändern. Schluss mit Hungerstreiks oder Sachen dieser Art! Der Unternehmer muss hungern! Uns reicht schon das tägliche Leiden auf der Arbeit.

Das ist nicht nur unser Kampf, es ist der Kampf von allen in der Krise, denn wenn wir an einem Ort gewinnen, geht es uns allen zusammen besser. Zu den Streikposten in Piacenza sind GenossInnen aus anderen Städten gekommen; die mussten stundenlang fahren, um morgens um fünf da zu sein, in Dunkelheit und Kälte, um uns zu unterstützen und die Kämpfe zusammenzubringen. Wir müssen ihnen von Herzen danken, der Sieg bei IKEA ist auch ihr Verdienst.


 
 
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