Die Morde des NSU waren nur möglich, weil Teile des Staatsapparats ihnen geholfen haben. Aber wie hängen diese »Teile« zusammen? Wie hoch reicht die Befehlskette beim Vertuschen?
Das folgende baut auf den beiden Artikeln in Wildcat 92 und 93 auf und versucht, diese Fragen zu beantworten. Dazu schlagen wir den Bogen von den in der »Asyldebatte« sozialisierten Faschos, über die Verbindungen ins Söldnerwesen und die Privatisierung der Kriegführung bis zum Tiefen Staat und den Stay behind-Strukturen der NATO.
Die Nazis des NSU wurden politisch sozialisiert in der Asyldebatte Anfang der 90er Jahre, in einer Zeit, in der sie sich jede Schweinerei gegen Migranten und linke Jugendliche leisten konnten, ohne dafür vom Staat belangt zu werden. Sie merkten, sie konnten mit militanten Aktionen die Gesellschaft verändern.
Ihre organisatorischen Strukturen sind relativ klar: »freie Kameradschaften«, Thüringer Heimatschutz (THS), Blood&Honour und Ku Klux Klan. Die »Kameradschaft Jena« bestand aus Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, André Kapke, Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Als im Januar 1998 in einer von Zschäpe angemieteten Garage Rohrbomben und Sprengstoff entdeckt wurden, tauchten drei unter – genau in die Strukturen hinein, die seit 1995 im VS-Informationssystem NADIS gespeichert waren. Alle sechs blieben aktiv. Holger Gerlach stellte Führerschein, Reisepass und Geburtsurkunde zur Verfügung. Kapke und Wohlleben beschafften Waffen und Pässe, organisierten das »Fest der Völker« und waren für
internationale Kontakte zuständig. Wohlleben trat in die NPD ein und wurde dort stellvertretender Landesvorsitzender – er dürfte die wichtigste
Figur der sechs »Kameraden« sein.
In der durchsuchten Garage fand die Polizei zwei Adressenlisten mit 35 Namen – darunter nach heutigem Kenntnisstand fünf V-Leute; zehn Telefonnummern waren aus Chemnitz, der Stadt des ersten Unterschlupfs, darunter sogar die Adresse ihres ersten Kontaktmannes dort.
Es gibt breite – ideologische und teilweise sogar organisatorische – Überlappungen zwischen Staatsapparat und rechter Szene. Ein Dutzend Ba/Wü Bullen hatten Kontakt zum NSU-Umfeld; mindestens zwei Thüringer Polizisten waren nicht aus dienstlichen Gründen im THS…
Auf diesem Resonanzboden verschwimmen individuelle Alleingänge und staatliche Strategien. Der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme – V-Mann-Führer eines Blood&Honour-Kaders – war beim Mord an Halit Yozgat in Kassel anwesend; Alleingang eines verbeamteten Faschisten oder staatliche Unterstützung des NSU?
Im Februar 1997 hatte das BKA in einem internen Papier die V-Leute der Geheimdienste als »Brandstifter«
in der Naziszene bezeichnet, die sich gegenseitig anstacheln. Staatliche Stellen haben in den 1990er-Jahren aktiv zum Aufbau, zur Verfestigung und zur Radikalisierung der jugendlichen Neonaziszene beigetragen und sie damit schlagkräftig gemacht.
Im Juni 2012 kam heraus, dass die Zusammenarbeit mit den Nazis mit der Operation Rennsteig direkt aus dem Bundesinnenministerium gesteuert war. Sie beobachtete und bezuschusste den THS.
Aufgebaut hatte den THS als Nachfolger der Anti-Antifa Ostthüringen Tino Brandt, den der VS 1994 als 19jährigen rekrutiert hatte. Er begann 1996 mit 20 Leuten, auf seinem Höhepunkt waren von 140 Mitgliedern mindestens 40 V-Leute. Mit der Enttarnung Brandts als V-Mann 2001 stellte der THS seine Arbeit offiziell wieder ein.
Seit 1997 arbeiteten das BfV, der MAD, sowie die Thüringischen und Bayerischen Landesämter für Verfassungsschutz in der Operation Rennsteig zusammen. Gemeinsam warben sie mindestens acht Führungskader des THS als Spitzel
an. Aus »operativen Gründen« wurde die Werbungsdatei nicht vorschriftsmäßig geführt, und manche V-Leute wurden gar nicht eingetragen. Trotzdem schredderte am 12. November 2011 ein Referatsleiter im BfV Akten über V-Leute beim THS – einen Tag, nachdem die Generalbundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen hatte. Offensichtlich war er nicht gründlich genug, denn auf Weisung des Bundesinnenministeriums (!) wurden wenige Tage danach nochmal Akten geschreddert, Computerdateien manipuliert und Handydaten von V-Leuten mit Kontakt zum NSU gelöscht.
Die erste Verteidigungslinie »wir haben nichts gewusst«, war nicht lange zu halten. Aber spätestens im Spätsommer 2012 brach auch die zweite Verteidigungslinie, und es wurde deutlich, dass der Staatsschutz aktiv mitgemischt hatte. Im September flog auf, dass auch Thomas Starke aus Chemnitz von 2000 bis 2011 V-Mann des LKA Berlin war. Starke war in den 90er Jahren ein Führungskader von Blood&Honour. Nach eigener Aussage war er zwischen 1996 und 1997 mit Zschäpe liiert. Er soll dem NSU Ende der neunziger Jahre Sprengstoff besorgt haben. Das BfV hat Daten über ihn gelöscht und die Löschung vordatiert.
Ende Februar platzte eine weitere Bombe: Thomas Richter war seit 1994 als V-Mann für das BfV tätig. Er wurde mit 180 000
Euro bezahlt und erst im November 2012 abgeschaltet. Richter war einer der führenden Neonazis Sachsen-Anhalts, Führungskader von Blood & Honour, eines von rund 20 Mitgliedern der European White Knights of the Ku Klux Klan und hatte 2002 das Nazi-Fanzine Der Weisse Wolf mit »Vielen Dank an den NSU« eingeleitet. Auch sein Name stand auf der Adressenliste von Mundlos.
So wird klar, warum diese Adressenliste nicht »ausgewertet« werden durfte und soviel geschreddert werden musste, obwohl das mehrere Köpfe kostete und den Skandal ausweitete: Der Staatsschutz versuchte, alle Akten zu seinen Verbindungsstrukturen rund um den NSU zu vernichten.
Spätestens seit den Enthüllungen Ende 1990 ist bekannt, dass sich die NATO bewaffnete, faschistische Gruppen als Eingreifreserve hält. Im Falle einer militärischen Besetzung durch die Rote Armee sollten sie als Guerilla hinter der Front kämpfen; zuvor sollten sie präventiv einen kommunistischen Wahlsieg oder gesellschaftliche Umwälzungen verhindern.
Diese Strukturen haben in den 70er und 80er Jahren ihren Charakter verändert (in Italien wurden sie Gladio genannt und mischten von 1969 bis 1980 aktiv bei etwas mit, das sie als »Bürgerkrieg« empfinden mussten). In den 90er Jahren änderten sie ihre Ausrichtung erneut, nun war der Islamismus der Hauptfeind.
Auch beim NSU gibt es Hinweise zu Verbindungen ins internationale Söldnerwesen, und es kam heraus, dass der MAD seit 1995 zumindest sehr nahe dran war. Beim Mord in Heilbronn waren amerikanische Geheimdienstler in der Nähe, NATO-Stellen könnten ihre Finger im Spiel haben…
Kritiker, die den VS abschaffen wollen, bezeichnen ihn gern als »Relikt des Kalten Kriegs«. Sie vergessen, dass sich die BRD seit Mitte der 90er Jahre durchgängig im Krieg befindet und Geheimdienste dabei bedeutender werden. Es funktioniert nicht, gegen Nazis kämpfen zu wollen und die Kriege der BRD zu unterstützen (wie es z.B. die Chefin der Antonio Amadeu-Stiftung tut); die Nazis sind in diesen Kriegen fett geworden!
Vor allem seit den Bundeswehr-Einsätzen in Jugoslawien und Afghanistan kommt den Geheimdiensten die Aufgabe zu, das Gebiet der BRD gegen Angriffe aller Art zu sichern, die innenpolitische Opposition (gegen den Krieg) in Schach zu halten, die Bundeswehrsoldaten zu kontrollieren. Das schließt auch nachrichtendienstliches Vorgehen
gegen Kriegsgegner, Infiltrieren von islamistischen Gruppen und die Zusammenarbeit mit neofaschistischen Söldnern und Bundeswehrsoldaten ein.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre startete die CDU mit der »Asyldebatte« den Versuch, das Recht auf Asyl im Grundgesetz abzuschaffen – schon damals war das flankiert von Nazi-Anschlägen. Nach der Wende kulminierte diese »Debatte« im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Keine vier Monate danach, am 6. Dezember 1992 einigen sich SPD und CDU auf den sogenannten »Asylkompromiss«, die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl. Am selben Tag findet die erste Lichterketten-Demo statt (400 000 in München).
Der neue »Zero-Tolerance«-Innenminister Kanther kämpft nicht mehr gegen Zuwanderer an sich, sondern gegen »Zwangsprostitution und Menschenhandel«, oder wie die Nazis sagen »gegen kriminelle Ausländer«, oder wie der nächste Innenminister Schily sagte »gegen Parallelgesellschaften«. Öffentlich kulminierte diese Phase im »Aufstand der Anständigen« von Kanzler Schröder (Oktober 2000).
Seit Beginn der globalen Krise verschärft die sogenannte Sarrazin-Debatte die Tonart und bringt den Rassismus auf den Punkt »gegen Kopftuchmädchen, HartzIV-Empfänger und faule Griechen«. Dieser Sozialdarwinismus ist der ideologische Überbau zu den Hartzgesetzen. »Der Rassismus,, mit dem wir es heute zu tun haben, ist ein kühl kalkulierter Rassismus … ein Erzeugnis des Staates. … (er ist) vor allem eine staatliche Logik und keine Leidenschaft des Volkes. Diese Staatslogik wird in erster Linie nicht von irgendwelchen rückständigen sozialen Gruppen getragen, sondern zu einem Großteil von der intellektuellen Elite.« (Jacques Rancière in einem Vortrag von 2010; zitiert nach ak 555 vom 19. November
2010) – Außer ihnen selber hält wohl niemand die Antideutschen für eine intellektuelle Elite. Aber faktisch waren sie Teil der staatlichen Strategie, sie propagierten Bombenkriege gegen die
Menschen in Asien und Afrika, und beteiligten sich mit ihrem Kampf gegen Multi-Kulti ganz konkret am Kampf von Schily und Sarrazin »gegen die Parallelgesellschaften in unserer Mitte«.
Spätestens seit Schily 1998 Kanther als Innenminister ablöste, wurde die Bekämpfung ungewollter Zuwanderung und die Auflösung der »Parallelgesellschaften in unserer Mitte« zu zwei Hauptaufgaben des Staatsschutzes. Während das Schröderregime verbal eine zuwanderungsfreundliche Politik betrieb und 2000 das Staatsbürgerschaftsrecht reformierte, drückte Schily drastische Verschärfungen gegen MigrantInnen sowie gewaltige »Sicherheitspakete« durch. Der 11. September 2001 »bestätigte« diese Frontstellung, die polizeiliche, militärische und geheimdienstliche Überwachung der Gesellschaft wurde massiv verschärft.
In dieser historischen Konstellation verband die NSU-Mordserie vier Elemente:
Eine »Strategie der Spannung« ist (fünftens) besonders effektiv, wenn es ihr gelingt, den Feind, den sie bekämpft, auch zu schaffen. Der Terror samt politisch/polizeilich/medialem Begleitprogramm führte dazu, dass sich Migrantencommunities abkapselten. Viele berichten, dass sie sich seit dem Auffliegen des NSU zum ersten Mal als »Türken« sehen.
Der »tiefe Staat« hat ‘33 und ’45 in den Repressionsorganen überlebt. Nach 1945 machten die Geheimdienste, Polizei- und Verwaltungsapparate im wesentlichen mit demselben Personal weiter; der BND und die Stay behind-Strukturen wurden komplett mit alten Nazis aufgebaut.
Dieser »tiefe Staat« wurde nie angetastet und hat alle Skandale überdauert. Entsprechend arrogant treten seine Akteure vor die Untersuchungsausschüsse »was wollt IHR denn? Hat doch alles funktioniert!«. Vorneweg Schäuble, der BKA-Chef Ziercke, der hessische Ministerpräsident Bouffier… Aber auch weniger bekannte, operativ sicherlich wichtigere Figuren: wie August Hanning, Klaus Dieter Fritsche (»Es dürfen keine Geheimnisse bekannt werden, die das Handeln des Staates beeinträchtigen könnten.«), Peter-Jörg Nocken, Thomas Sippel (von 1987 bis 2000 beim BfV, von 1999 bis 2000 am NATO Defence College in Rom, danach Präsident des Thüringer VS) und andere.
Diese Leute sehen sich als Elite, die ihr Handeln nicht rechtfertigen muss, weder sozial noch den Parlamenten gegenüber. Für sie steht der Feind links – und die Aufrüstung der Rechten ist eins der besten Mittel dagegen.
Dass einige Personen (Bouffier, Schäuble…) sowohl vor Ausschüssen zu Spendenaffären wie auch jetzt zum NSU aussagen mussten, wirft ein Licht auf mögliche Zusammenhänge.
Mit der Deregulierung der Finanzmärkte, der Privatisierung von Infrastruktur, Altersvorsorge usw. entstanden Milliardenvermögen. Maschmeyer ist ein bekanntes Beispiel, sein »Hannover-System« wurde beim Rücktritt von Wulff ein Stück weit bekannt (Korruption/Erpressung, Überwachungsstaat und Mafiastrukturen). Das wachsende Bedürfnis nach »Sicherheit« wird von einem boomenden Security-Gewerbe befriedigt, in dem rechtsradikale Rocker und organisierte Nazis Arbeit finden. Die Verquickung von organisierten Neonazis, Wachdiensten und Faschos beim Bund zeigt den Zusammenhang zwischen Waffen- und Sprengstoffdiebstählen bei der Bundeswehr und der Bewaffnung der rechten Szene.
Der Verfassungsschutz wusste vor dem sogenannten Abtauchen, was sie machten, und hatte mindestens die ersten drei Jahre danach Kontakte zu ihnen, unterstützte sie und schützte sie vor Entdeckung. Es kann sein, dass die Kontakte danach kurzzeitig abrissen, aber man hatte Tipps von V-Leuten, wo das Trio zu finden war.
Seit 2003 (nach vier Morden) wird es zunehmend schwieriger, die Sache unter dem Teppich zu halten; Hinweise von eigenen Ermittlern und von außen häufen sich (z.B. gab der italienische Geheimdienst im März 2003 dem VS Hinweise auf ein Netzwerk europäischer Nazis, die Morde an Immigranten vorbereiteten). In der Vertuschung dieser Informationen sieht Hajo Funke den »Kern der Sicherheitskatastrophe«. Das ist die denkbar vorsichtigste Interpretation, »surprise«: Der VS wurde überrascht von den Morden, tat dann aber alles, um es zu vertuschen – und ermöglichte so die weiteren Morde.
Die mindeste Variante ist LIHOP: Sie hätten die Morde verhindern können, aber sie ließen es geschehen, weil es politisch in den Kram passte. Die Abwägung ob LIHOP oder MIHOP ist politisch nicht entscheidend. Ein direkter Mordbefehl durch staatliche Stellen wird sich nicht finden; denn ein solcher wurde nie gegeben. Es ist gerade der Vorteil von faschistischen Reservegruppen, von Privatisierung des Kriegs, von Mafia, dass diese Strukturen Dinge tun können, die der Staat in direkter Befehlskette nicht tun kann.
Uns ist erst bei der Recherche zu diesem Artikel klar geworden, wie viele Leute, die sich für Linksradikale und Antifas halten, sich in den letzten Jahren »diskursiv« mit dem Verfassungsschutz eingelassen haben. Die Aufdeckung der staatlichen Verwicklungen in den NSU-Terror macht klar, dass diese intellektuellen Linken nicht nur analytisch und politisch aufs völlig falsche Pferd gesetzt haben – sondern damit zum Teil der »Extremismusprävention« geworden sind. Das zuzugeben, wäre allerdings mit einem hohen Schämfaktor verbunden und hätte letztlich auch finanzielle Konsequenzen, also hält man lieber das Maul. Wir würden solche Leute gerne rechts liegen lassen, aber sie verfügen in der linken Szene über
mediale Macht und ideologischen Einfluss.
Die praktisch orientierten Antifas würden sich nie und nimmer vom Staatsschutz als V-Leute anwerben lassen. Viele meinen aber, den Staat mit ihren Recherchen und Öffentlichskeitsarbeit zwingen zu können, gegen Nazis vorzugehen – und merken oft nicht, dass sie dabei (politisch) selbst benutzt werden. Führt der NSU-Skandal nun zu einem Umdenken und einer genaueren Frontstellung?
Es gibt auch einen theoretischen Grund, dass Staatskritik zum blinden Fleck geworden ist. Die (Antifa-)Linke redet meist nicht mehr von Faschismus, sondern von Rassismus und Antisemitismus. Und beim allseits beliebten Schlagwort vom »Rassismus in der Mitte der Gesellschaft« kann sich jede/r selber aussuchen, was darunter zu verstehen sei. Das reicht nicht aus als Analyse. Man kann nicht gegen Faschismus kämpfen, und den Staat außen vor lassen! Und genausowenig kann man gegen Faschismus kämpfen, und den Kapitalismus außen vor lassen. Wer gegen ethnischen Rassismus in allen seinen Schattierungen zu kämpfen versucht, aber die Dimension des sozialen Rassismus weglässt, bleibt im besten Fall zahnlos, im schlimmsten Fall wird er zum Erfüllungsgehilfen
des Staatsrassismus. Rancière kommt in der oben zitierten Rede zu dem Schluss, dass die »linke« Kritik, indem sie von »derselben Spielanordnung« wie die Rechte ausgeht (»
Rassismus sei eine Leidenschaft des Volkes«, gegen die der Staat mit immer härteren Gesetzen durchgreifen muss), eine »neue Form des Rassismus« konstruiert: »Staatsrassismus und intellektueller ’linker‘ Rassismus«.
Untersuchungsausschüsse sind mit ihrer Reinigungsfunktion systemstabilisierend, indem sie auch heftigste politische Skandale nicht zur Bedrohung des Systems werden lassen. Ungewöhnlich ist diesmal, dass die Untersuchungsausschüsse neue Wahrheiten über den Staat zutage fördern. Trotz Geheimhaltungspflicht dringen immer wieder Informationen und Details an die Öffentlichkeit, mit denen wir uns selber ein Bild machen können. Können wir damit die Linke, die noch immer nicht die Tragweite ausspricht, zu einem reality check zwingen? Die Chancen sind gar nicht so schlecht.
Wahrscheinlich haben die Untersuchungsausschüsse ihre beste Zeit hinter sich; im Verhalten der Mitglieder macht sich der nahende Wahlkampf bemerkbar, und mit dem Prozess in München und dem Gemache um das NPD-Verbot sollen die Koordinaten wieder auf Staat und Recht eingenordet werden. Der Prozess soll das politische Konstrukt von der einzelnen Zelle mit einer Handvoll Unterstützer zementieren und die Einsicht vergessen machen, dass der NSU zwar ohne die NPD denkbar ist, »nicht aber ohne die finanzielle, logistische und geheimdienstliche Unterstützung des Verfassungsschutzes.« (Wolf Wetzel)
Der Strafprozess in München könnte für den Staat riskant werden, wenn eine schlaue Verteidigung die Rolle der V-Leute in den Vordergrund stellt. Und »das Ausland« wird ihn sehr aufmerksam beobachten. Medienguerilla-Aktionen könnten »deutliche Akzente« in der internationalen Öffentlichkeit (türkisches Fernsehen!) setzen. Aber nicht alle Terrains eignen sich gleich gut zum Kämpfen. Wichtiger sind Demos und Flugis, Veranstaltungen mit Migrantengruppen und direkte Kontakte.
Der Verfassungsschutz geht zur Zeit auf Propagandatour und versorgt die »Zivilgesellschaft« mit den Bedrohungsszenarien von »Extremismus«, »Islamismus« und »Salafismus«, die sein Fortbestehen rechtfertigen sollen. Das sollten wir nicht unwidersprochen lassen. Auf keinen Fall sollten wir die Gelegenheit auslassen, die Blamage der Geheimdienste und der Polizei zu einer Legimitationskrise des Staates zu machen.
Das ist umso nötiger, als dieser Staat bereits wieder zündelt…
Bereits kurz nach der Aufdeckung des NSU hetzte Innenminister Friedrich wieder gegen »Integrationsverweigerer«. Aktuell wird eine neue Hetze gegen »Armutszuwanderung« hochgezogen – und Antifas, die sich Faschoaufmärschen wirklich in den Weg stellen, werden kriminalisiert und teilweise hammerhart verknackt.
Die aktuelle Konstellation gegen Roma in NRW ist der Situation in Ostdeutschland Anfang der 90er verdammt ähnlich: »Minister Friedrich will gegen Armutszuwanderung vorgehen«, »Überfüllung«, »Müll«, »es stinkt«, »Polizei ist überfordert«. Innenminister Friedrich spricht von »Ansturm auf den deutschen Sozialstaat«, von »Sprengsatz« und »Flächenbrand«; ihm ist dabei völlig egal, ob die Zahlen stimmen! Die meisten Leute aus Rumänien und Bulgarien malochen hier, nur 11 606 (!) sind aktuell arbeitslos gemeldet. Aber am 1. Januar 2014 würde auch für Leute aus Bulgarien und Rumänien die volle Freizügigkeit in der EU gelten –
und hier müssen abschreckende Tatsachen geschaffen werden. Und zwar wieder auf die deutsche Art! Der französische Staat hatte im Spätsommer 2012 Romalager brutalst räumen lassen – im Gegensatz dazu wird bei uns wieder über Bande gespielt: »überforderte Anwohner«, Pro-NRW und militante Nazis.