Genua 2001: Briefe aus Italien [italbrif.htm]


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Briefe aus Italien

In der ersten Woche nach Genua erhielten wir einige Briefe aus Italien mit ersten Eindrücken und Einschätzungen, auch zu dem, was nach dem Wochenende in Italien weiter passiert ist. Es sind hastig geschriebene Zeilen, die aber eine Reihe wichtiger Beobachtungen und Überlegungen enthalten.


Brief von A.

... sicherlich befinden wir uns in einer spezifischen und besonderen Situation mit besonderen Merkmalen: rechte Regierung, linke Opposition. Die Regierung hat dem Volk Alles und das Gegenteil von Allem versprochen und hat offensichtlich ein Interesse daran, die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung auf die Frage von Recht und Ordnung umzulenken, die vom schwarzen Block bedroht sei, der von den Tute Bianche gelenkt würde, die wiederum von Rifondazione gesteuert würden, die wiederum von der gemäßigten Linken ... Auf der anderen Seite ist die »Bewegung« dadurch gekennzeichnet, daß tatsächlich massenhaft Rifondazione mitmischt, die gerade ausprobiert, als halbparlamentarische Bewegungs-Partei zu funktionieren, in enger Dialektik mit den Post-Autonomen der Tute Bianche. - Aber das ist ein anderes Problem!

In Situationen wie der von Freitag und Samstag ist schon alles mögliche passiert. Daß Gruppen von Infiltrierten dabei waren, ist breit dokumentiert. In Wirklichkeit hat man viel von englischen Faschisten geredet (einer hat während der Straßenschlachten sogar ein Interview gegeben) und man hat auch einige britische Fahnen gesehen. Ich halte es für unmöglich, eine ernsthafte Einschätzung ihres Gewichts abzugeben, und andererseits hatten die Bullen auch nicht allzuviel Bedürfnis nach Unterstützung, da sie vor allem kleine Läden und Autos direkt selber zerkloppt haben (Bullen in Uniform!). Es scheint sicher zu sein, daß die »dreckige Arbeit« von Polizeieinheiten wie dem VII nucleo der ersten Abteilung celere von Rom gemacht wurde, die kein Problem damit haben, ihre eigenen Bullenkollegen zu verprügeln. Es ist klar, daß die Befehle von ganz oben kamen, die Genueser Polizei strikt von der Zentralregierung kontrolliert wurde, daß die Einsatzleiter direkt »aus Rom« kamen und daß ausgewählte Einheiten eingesetzt worden sind. Die Zentralregierung war sozusagen vor Ort und hat sogar die Quästur von Genua ausgeschaltet (das ist breit dokumentiert), aber das tut dem keinen Abbruch, daß uns auch die »normalen Bullen« eingeheizt haben. Allerdings fällt auf, daß die Bullen absolut kein Problem damit hatten, Journalisten, Parlamentarier, Gewerkschaftsführer usw. zu verprügeln. Anders ausgedrückt: der traditionelle Kompromiß zwischen Demonstranten und »demokratischem Rechtsstaat« scheint aufgekündigt worden zu sein.

Daß sich viele Bullen offen als Faschisten bezeichnen, daß sie faschistische Lieder singen usw. sollte meiner Ansicht nach nicht unterbewertet werden. Es heißt, daß sie sich geschützt fühlen. In diesen Tagen hat es deswegen viele harte Angriffe der liberalen Presse (La Stampa, Il Corriere della Sera usw.) auf die Regierung gegeben; ich halte das nicht nur für die Wut der Journalisten, weil sie verprügelt worden sind, hier spielt auch die Besorgnis der alten Oligarchie (Fiat, aber nicht nur) eine Rolle, die Rechtsregierung würde »gefährliche« Wege einschlagen! Insgesamt denke ich, daß die staatliche Gewalt als die DNA der Rechten betrachtet werden muß, die alte Rechnungen mit der Linken zu begleichen hat - und wie gesagt: die Regierung hat ein großes Interesse, die öffentliche Aufmerksamkeit auf »Ruhe und Ordnung« zu lenken.

Die Demos am Montag und Dienstag [23. und 24. Juli] waren gewaltig. Das ganze »linke Volk« war auf der Straße (50 000 in Mailand und in Rom, 20 000 in Turin, Zehntausende in den anderen Städten), getroffen von der Gefahr des »Polizeistaats«. Viele versuchen, dem Schwarzen Block die Schuld in die Schuhe zu schieben, und die Rifondazione geht massiv auf die Straße, auch wenn sie nach wie vor die Tute Bianche in der ersten Reihe stehen läßt.

Unser Streik ist gut gelaufen, wenn wir berücksichtigen, daß es ein politischer Streik war. Am Freitag [20. Juli] haben wir zwischen 12 000 und 15 000 Menschen in Genua auf die Straße gebracht. Absurderweise war unsere Demo die einzige, auf der es zu keinen schweren Zwischenfällen kam - wir waren im Westen, während die Zusammenstöße im Osten waren.

Zum Schwarzen Block muß man noch sagen, daß das völlig übertrieben wird. An den Zusammenstößen haben sicherlich einige tausend Personen mitgemacht, die aber oft durch die Angriffe der Polizei reingezogen worden sind.


Brief von B.

Die Tage in Genua waren etwas ganz Besonderes. Ich selbst spüre heute noch eine starke Spannung und weiß nicht recht, was ich damit anfangen soll. Seit über einem Monat schon war im Fernsehen von nichts anderem als von Gewalttätigen und Friedlichen die Rede gewesen, um die Bewegung kleinzukriegen, um alle einzuschüchtern, die nach Genua fahren wollten. Die Antwort war massiv.

Aber der Reihe nach.

Am 19. Juli fand die größte Demo von Migranten in Italien statt: etwa 50 000 bis 70 000 Leute mit wichtigen Teilen der Arbeiterbewegung marschierten ohne jegliche Auseinandersetzungen durch die Straßen von Genua (mit dabei war die FIOM mit angemessener Präsenz und auch die COBAS, die CUB und Dutzende andere Vereinigungen). Der 19. wurde total überschattet von den Ereignissen der folgenden Tage, aber ich glaube, daß dort einer der Gründe für die blutigen Auseinandersetzungen der folgenden Tage liegt: eine Gemeinsamkeit, die sich nur schwer herstellen lässt, aber vielleicht dazu beitragen kann, die Decke des Schweigens zu heben, die diese Regierung über die Arbeit und die Klandestinität nicht der Immigranten, sondern der Arbeitsverhältnisse überhaupt zu legen versucht.

Die eigentlichen Verlierer bei dieser ganzen Geschichte sind politisch gesehen und im Hinblick auf ihr Image und ihren Einfluß auf die Bewegung die Tute Bianche und die mit ihnen verbundenen Centri Sociali. Ihr taktischer und ausgehandelter »Pazifismus« ist mit lautem Knall geplatzt; sie dachten, sie könnten mit dieser Regierung genauso wie mit der vorigen eine Doppelstrategie aus verbaler Gewalt und heimlichen Verhandlungen fahren, ohne die reale Veränderung zu bemerken. Andererseits zeigte eins der vielen Bilder im Fernsehen (das dann ganz schnell verschwand) einen Schriftzug an einem der Plätze, wo die Demonstranten schliefen (nicht die durchsuchten Schulen), der lautete: »Die Tute bianche sind eine Schande« [tute bianche infami], was sich direkt auf diese ständige Verhandelei bezog, die offensichtlich für tausende von nicht nur Jugendlichen inzwischen unerträglich war. Die geplante oder nicht geplante Gewalt der Polizei war verheerend und darauf angelegt, jedwede Bewegung, ob national oder international, im Keim zu ersticken, und das Genoa Social Forum hat an allen drei Tagen die Grenzen eines heterogenen Zusammenschlusses ohne starkes Bindemittel deutlich gemacht; von einem servizio d'ordine [organisierter, meist (passiv) bewaffneter Selbstschutz der Demo], der diesen Namen verdient, konnte erst recht keine Rede sein. Die Demo wurde in zwei, drei Teile zerrissen und die Leute gezwungen, umzukehren.

Trotzdem ist es notwendig und wird es auch weiterhin notwendig sein, einen Dialog mit dieser Bewegung anzufangen, die kaum strukturiert ist, aber sich wendig auf der ganzen Welt bewegt und Stadtguerilla-Taktiken übernimmt. Im Parlament verhindert währenddessen das kaum vernehmbare Stammeln einer völlig in Auflösung begriffenen Partei (DS) das Nachdenken und den Angriff auf eine Regierung, die in Genua wirklich ihre faschistischste Seite gezeigt hat (ich weiß nicht, ob sie andere Seiten hat, die weniger faschistisch sind); Rifondazione andererseits scheint sich mehr um die Werte der Verfassung und darum zu sorgen, dass sie selbst nicht in den Schmutz gezogen werden, während die Margerite nicht mal ansatzweise die enorme katholische Mobilisierung gegen diese Art von ökonomischer Globalisierung begreift (es waren Priester, Nonnen und Pfadfinder dabei).

Im übrigen hat Genua noch etwas anderes bedeutet: Zigtausende Jugendliche waren massenhaft in Genua und haben zum ersten Mal am eigenen Leib die heftige und unterschiedslose Gewalt der Polizei erlebt, während sie mit zigtausenden anderen Jugendlichen aus allen Ländern Europas und der Welt demonstriert haben.

Die Angst ist jetzt die erzwungene Normalisierung, die stattfindet, der Wille, Schluß zu machen, wieder einen Korken auf die wirkliche Lebendigkeit zu setzen, die die Bewegung in Genua gezeigt hat, den Willen, hinzugehen, dabeizusein. Ein letzter Punkt betrifft das Schweigen, das über die Demo vom 19. gebreitet wurde; viele von uns verstehen [die massive Bullengewalt am] 20. und 21. gerade als Versuch, das einzigartige Ereignis dieses stark politischen Marsches zu überdecken.

Wir haben auf diesen Brief hin nochmal nachgefragt, was er unter der Stärke der Demo am 19. versteht, da wohl nur eine Minderheit MigrantInnen waren.

Es ist vielleicht richtig, daß nicht viele Migranten in der Demo waren. Ich habe leider nur den Teil am Kopf der Demo gesehen und dort waren viele Migranten (Afrikaner, Kurden, Südamerikaner), aber ich denke, Du hast schon recht: die Mehrheit der Demo waren Jugendliche aus der Bewegung. Migranten waren vor allem aus Genua da - sei es, weil es der Assoziation Citta aperta (offene Stadt) gelungen ist, die Migrantencommunities zu zersetzen, die gewöhnlich sehr hierarchisch und in sich geschlossen sind, sei es, weil Donnerstag ein Arbeitstag ist, sei es aus (gerechtfertigter) Angst vor der Polizei. Nicht nur für die Immigranten ohne Papiere, sondern auch für alle anderen konnte es gefährlich werden, an der Demo teilzunehmen. Ich habe jedenfalls keine direkten Zahlen über die Beteiligung von Migranten.

Ich wollte stattdessen erklären, daß jenseits der (gleichwohl wichtigen) Zahlen mir die Demo am 19. wichtig zu sein scheint, gerade weil sie ein Signal des Zusammenfließenes (Konvergenz) von zumindest einem Teil von Migranten mit einem Teil der Bewegung bezeichnet. Wie Du wissen wirst, bereiten die Faschisten von der AN und der Lega gerade in diesen Tagen ein Gesetzesprojekt vor, das aus der illegalen Einwanderung ein Verbrechen macht, das mit bis zu 4 Jahren Gefängnis bestraft wird, und das darüberhinaus die Verfielfachung der Zentren zeitweiligen Aufenthalts [Abschiebeknäste] vorsieht; außerdem den Aufenthaltsvertrag, das heißt, man bleibt so lange in Italien, wie man arbeitet, und die Beschneidung des Rechts auf Familiennachzug. Das ist die deutlichste Antwort auf jene massenhafte Demo. Es liegt an uns, diese große Demo Früchte tragen zu lassen.


Brief von C.

... ich habe Dir bereits über die »Konjunktur« des Herbstes [Tarifverhandlungen] und den Generalproben der Regierung geschrieben. Man hat den Eindruck, daß eine Repression in Gang gesetzt worden ist, die stärker ist als zu den Zeiten der großen Bewegung [Ende der 70er Jahre]: die Bullen haben angegriffen und sich wütend insbesondere gegen pazifistische und unorganisierte Teile der Demo verbissen, die ohne jede Selbstverteidigung waren. In einigen Situationen hätte es zum Massaker kommen können, wenn Panik ausgebrochen wäre (zumindest am Samstag). Man kann die Hypothese aufstellen, daß es ein deutliches Signal war, um die Ausdauer einer noch nicht konsolidierten Bündnisfront zu zerstören, die auf Kollisionskurs zur gegenwärtigen Regierung gegangen ist, und gleichzeitig Rifondazione Comunista ein deutliches Zeichen zu geben, daß sie in Opposition zum bipolaren System stehen; aber ebenso gegen ihren Versuch, die sozialen Zentren des Nordostens zu vereinigen ...

Andererseits scheint die »linke Mitte« nicht in der Lage zu sein, die Vorkommnisse gegen die Regierung Berlusconi zu benutzen (aufgrund ihres Superlegalismus und weil sie sich ihre Kontakte zu bestimmten Teilen der Bullen nicht verderben wollen; außerdem waren sie es, die den G8-Gipfel in Genua organisiert haben). Unter den schlimmsten Legalisten befinden sich die Italienischen Kommunisten (Cossuta), auch wenn man sagen muß, daß die allermeisten denken, der Schwarze Block seien Provokateure oder zumindest abenteuerliche Schachfiguren gewesen, die die Repression provoziert hätten und vor allem ein Bild von ungezielter Gewalt des sogenannten »Volks von Seattle« abgegeben hätten, ohne jeden Versuch, sich auszuweiten. Ich muß sagen, ich habe viele italienische TeilnehmerInnen getroffen, auch solche, die in den verschiedenen Organisationen wie »Frauen in Schwarz«, Rifondazione, Grüne, Umweltschützer usw. aktiv sind, die noch nie etwas vom Schwarzen Block gehört hatten - ein Zeichen dafür, daß viele nach Genua gekommen waren, die sich noch nie für die Bewegung von Seattle interessiert hatten (auch wenn ich wohl weiß, daß es keine Bewegung ist, benutze ich den Begriff aus Bequemlichkeit, vielleicht sollte man besser von einer »Suppe« [minestrone] sprechen).

In Italien hatte man dem Ereignis schon Wochen vorher großen Raum in den Medien eingeräumt, was in Italien schon seit vielen Jahre nicht mehr passiert ist [hier hat der Übersetzer einen anderen Eindruck: die italienischen Medien haben in den letzten 20 Jahren immer mal wieder total auf die Pauke gehauen und eine »neue Stadtguerilla« o.ä. angekündigt!], und das - zusammen mit der Ermordung von Carlo Giuliani - hat die Leute jetzt auf die Straße gebracht. Aber den meisten ist klar, daß das nicht die Anarchisten und der Schwarze Block waren, denn selbst auf den 1.-Mai-Demos in Hamburg und Berlin wenden sie eine andere Taktik an und greifen die Bullen eher frontal an und machen keine schnellen raids gegen kleine Geschäfte und Gebäude. Hier spricht man mehr von den zerstörten Autos (84) als von den (34) Banken oder vom Angriff auf den Knast (wozu il manifesto allerdings behauptet, daß nur ein paar Mollies drauf geworfen wurden, während andere behaupten, den Gruppen sei es gelungen, das Eingangstor zu erstürmen und reinzukommen). Was das »Nach-Genua« betrifft, so hat das schon in der Nacht mit dem Eindringen der Bullen und der Prügelei im GSF begonnen. Während einerseits im Parlament der Rücktritt des Innenministers verlangt wird, erklärt die Regierung auf der anderen Seite, die Ermordung von Carlo Giuliani sei »legitime Selbstverteidigung« gewesen und behauptet, das GSF sei die Deck-Organisation der »Gewalttäer« - das geht so weit, daß gerüchteweise Anklage gegen Casarini erhoben werden soll. Tatsächlich haben sie damit begonnen, Leute aus den anarchistischen Sozialen Zentren und aus Organisationen, die nicht im GSF zusammengeschlossen waren, zu verhaften - während der Ratsherr Beppe Caccia im Regionalfernsehen den Schwarzen Block angreift - das heißt, es ist ein Prozeß der Differenzierung zwischen Guten und Bösen in Gang, der sich in die »Suppe« hineinschiebt, indem einige versuchen, ihre Haut zu retten auf Kosten von anderen.

In der politischen Debatte in Italien (falls man die voerherrschende theoretische Konfusion und politische Urteilslosigkeit überhaupt so nennen soll) wird nicht erkannt, daß das keine nationale, sondern eine internationale Demo war, in die Gruppen aus vielen Teilen der Welt ihre Praktiken eingebracht haben, und daß darüberhinaus in Italien die Organisation eines Gegengipfels von stark vorurteilsbehafteten Optionen gezeichnet war (vielleicht typisch für Italien), was Gewaltlosigkeit und Selbstverteidigung betrifft. Das hat dazu geführt, daß die einzigen Blöcke in der Demo, die eingereiht marschiert sind, die von Cobas und den Selbstorganisierten v.a. aus Rom und aus dem Süden waren, außerdem teilweise die griechische KP und andere griechische Organisationen. Im Unterschied zu Prag hatte man nicht ernsthaft über eine Aufteilung der Züge nach Affinitätsgruppen verhandelt, so daß einige im Stil des blauen Blocks hätten vorgehen können.

Jedenfalls hat in diesen Tagen das Repressionsthema alle anderen Diskussionen überschattet.

Es ist festzuhalten, daß in den Demos am Dienstag [24. Juli], die in vielen italienischen Städten stattfanden, zumindest in Brescia auch die Arbeiter rausgegangen sind, viele hatten noch ihre Arbeitsklamotten an ... aber hier stößt man auf jene Kluft, die zwischen der Bewegung um die Globalisierung herum (auch in ihren Debatten) und dem Thema der »Arbeit« und der Verbindung zur Situation in der Produktion liegt.


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