China als Hoffnungsträger und Projektionsfläche:
Henning Bökes Einführung in den Maoismus
Anton Pam
»Lieber eine sozialistische Verspätung
als kapitalistische Pünktlichkeit.«
»Beijing ist das Zentrum der Weltrevolution«. Das glauben in den 70er Jahren zumindest Linke auf dem ganzen Erdball. Sowohl afrikanische Modernisierungsdiktaturen, anti-autoritäre Studenten, Kadergruppen, linksliberale Philosophen im Westen und sogar die RAF ließen sich damals vom kulturrevolutionären China inspirieren. Nachdem sich in der Linken jahrelang fast niemand für den Maoismus interessierte, hat Henning Böke nun in der lobenswerten Reihe Theorie.org eine Einführung verfasst. In seinem Buch versucht er, die Darstellung des Maoismus mit einer Analyse des heutigen Chinas zu verbinden. Dabei gelingt im das Kunststück, sowohl die »Große Proletarische Kulturrevolution« (1966-1976) als auch die gegenwärtige Regierung überwiegend positiv zu bewerten.
Maoismus als Kritik der Moderne
Eigentlich hat Böke keine Darstellung der Mao-Zedong-Ideen verfasst, sondern eine Beschreibung der Geschichte Chinas von den 20er Jahren bis zur Gegenwart. Seine Lesart der chinesischen Entwicklung ist stark von dem linksmaoistischen Ökonomen Charles Bettelheim geprägt, der in den siebziger Jahren großen Einfluss auf das linke China-Bild im Westen und in der Dritten Welt hatte. Ihm hat Böke auch das Buch gewidmet. Die Bettelheimsche Leseart des Maoismus bringt es mit sich, dass im Buch die Philosophie Maos sowie die Entwicklung bis 1966 nur kurz abgehandelt werden und der Hauptteil des Buches sich auf die Kulturrevolution konzentriert. Positiv ist dagegen anzumerken, dass sowohl der Einfluss des Maoismus im Westen als auch die »neue Linke« in China dargestellt werden.
Der Autor sieht ähnlich wie Bettelheim im Maoismus einen Versuch, aus den Zwängen der westlichen Moderne auszubrechen. Der Maoismus unterzog demnach die Wissenschafts-, Fortschritts- und Technikgläubigkeit des orthodoxen Marxismus einer radikalen Kritik. Die wesentliche Triebkraft des Fortschritts seien die Kämpfe der Massen und nicht die Ökonomie (Böke 2007: 14). Mit der Orientierung auf die Bauern habe Mao die ausgebeuteten Externen außerhalb der Industrie als revolutionäre Subjekte anerkannt. Statt unter dem Diktat von Wachstum, Effizienz und Rationalisierung nur besser und schneller als der Kapitalismus seien zu wollen, habe in Maos China die Partizipation der Massen sowie die revolutionäre Umwälzung der ganzen Gesellschaft Vorrang vor blinder Fabrikdisziplin gehabt. Unter dem Motto der kulturrevolutionären Linken, der so genannten »Viererbande«, »Lieber eine sozialistische Verspätung als kapitalistische Pünktlichkeit« sei die Frage aufgeworfen worden, wer in den Fabriken wirklich die Macht habe (ebenda: 104). Den Arbeitern sei besonders während der Kulturrevolution »eingeschärft« worden, dass sie die Herren und nicht das Anhängsel der Produktion sind (ebenda: 199). Statt der Entwicklung der Schwerindustrie wie in der Sowjetunion die Priorität zu geben, habe die KPCh auf eine ausgewogene Entwicklung zwischen Industrie und Landwirtschaft gesetzt. Dabei spielte die Partizipation der armen Landbevölkerung und die Entwicklung eines egalitären Bildungswesens eine wichtige Rolle, so Böke. Kleine und lokale Modelle wie die Volkskommune in Dazhai, das Stahlwerk in Anshan oder die Barfußärzte setzten auf Wachstum und Entwicklung durch selbstbewusste Produzenten anstatt auf eine elitäre Modernisierungsmaschinerie.
Böke hat sich durchaus mit der neueren Forschung zu China beschäftigt und glaubt, dass Mao das Spannungsverhältnis zwischen den populistischen und orthodox marxistisch-leninistischen Teilen seiner Ideen weder in der Theorie noch in der Praxis auflösen konnte (ebenda: 197). Die Aufforderung Maos an die Massen von 1966/67 gegen die »Machthaber des kapitalistisches Weges« in der Partei zu rebellieren, ging im Chaos des Fraktionskampfe der Roten Garden und durch den Widerstand der Partei unter. Maos habe die Theorie der Kulturrevolution daher nicht zu Ende gedacht. Außerdem glaubt Böke, dass die »im kollektiven Unterbewusstsein verankerten Spielregeln des Konfuzianismus« die Revolte begrenzen (ebenda: 200).
Regierung und die »Neue Linke«
Den Übergang von der »Kulturrevolution« zur Reformpolitik unter Deng Xiaoping 1978/79 erklärt Böke mit den Fraktionskämpfen in der Partei. Soziale Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe spielen in seinem Buch ohnehin kaum eine Rolle. Die heutige Regierung würde zwar keine »linke Utopie« verfolgen, aber die Wirtschaft in den Dienst der Gesellschaft stellen sowie den »asozialen« Neo-Liberalismus ablehnen. Dabei ist der Wunsch häufig Vater des Gedanken, wenn Böke fälschlicherweise behauptet, dass die elementare Schulbildung in China kostenlos sei (ebenda: S.164). Den Hoffnungen auf die Zuspitzung der proletarischen Klassenkämpfe in China, erteilt er eine klare Absage und wird dabei nicht müde zu betonen, dass außer der KPCh niemand die »ambitionierten« Zielsetzungen der Hebung des Lebensstandards bei Reduzierung der Umweltverschmutzung realisieren könnte. In der reaktionären Wiederbelebung des Konfuzianismus durch die Regierungspropaganda von der »harmonischen Gesellschaft« sieht Böke einen Versuch die Antagonismus der kapitalistischen Moderne zu bändigen (ebenda: 169).
Interessanter ist das Kapitel über die »neue Linke« in China. Böke unterscheidet hier zwischen der traditionalistischen Parteilinken, der maoistischen Basislinken und der neuen akademischen Linken (ebenda: 184). Gemeinsam haben wohl alle drei, dass sie den Kapitalismus nicht generell ablehnen und keine Verankerungen in den sozialen Kämpfen haben. Zu Recht weist Böke darauf hin, dass vielen westlichen Linken bei den chinesischen Debatten um republikanischen Nationalismus, liberalen Genossenschaftssozialismus oder die Hoffnung auf den Staat als Vermittler in Arbeitskonflikten die Haare zu Berge stehen würden. Auch das »kommunistische« Modelldorf, Nanjie, in der Provinz Henan, dass aus einer Mischung aus staatssozialistischer Verteilung nach innen bei gleichzeitiger Ausbeutung der Wanderarbeiter von außen beruht, wird wohl bei westlichen Linken auf wenig Begeisterung stoßen. Mit lokalen Modellen wie Nanjie meint Böke wohl die »maoistische Basislinke«. Böke fordert jedoch die Linke im Europa auf, ihren westlichen Universalismus bei Seite zulegen und sich mit dem Versuch von Chinas Linken, eine eignen Weg der Entwicklung zu finden, ernsthaft auseinanderzusetzen. Die »neue Linke« könne sich bei der chinesischen Regierung Gehör verschaffen und in Zukunft die Entwicklung vielleicht beeinflussen.
Mythen über den Maoismus
Bökes Buch kann jedem empfohlen werden, der sich mit China beschäftigen möchte. Meiner Meinung nach reproduziert Böke jedoch Mythen bezüglich der Mao-Ära als auch der Gegenwart. Der Mythos von Maos bauernfreundlichem Weg zum Sozialismus gilt heute als widerlegt. Genau wie in der Sowjetunion beruhte der Aufbau der Industrie auf der Ausbeutung der Bauern durch den staatlichen Getreideaufkauf zu niedrigen Preisen. Während der Großen Hungersnot des »Großen Sprungs« (1959-1961) setzte die Regierung alle Gewalt ein, um die Versorgung der wichtigen Städte und den Export zu sichern und ließ Millionen Bauern auf dem Land verhungeren. Mit dieser Hungersnot beschäftigt sich Böke lieber nur ein paar Seiten und stellt ohne die geringsten Kenntnisse des aktuellen Forschungsstandes ein paar zynische Zahlenspiele an, um das Ausmaß herunterzuspielen. Von dieser Katastrophe sollte sich das Verhältnis zwischen Bauern und Partei nie wieder erholen.
Auch mit dem Egalitarismus war es in der Mao-Ära nicht weit her. Böke meint, dass der kleine Kuchen in der Mao-Ära gerecht verteilt worden sei (ebenda: S.182). Das von der Sowjetunion übernommene System der Zuteilung nach dem Kaderrang wurde nie in Frage gestellt. Die Bauern wurden mit Hilfe eines Pass-Systems (hukou) an die Scholle gefesselt und sind bis heute Bürger zweiter Klasse. Durch diese Einschränkung der Mobilität wurden die traditionellen Strukturen in den Dörfern konserviert. Die städtische Gesellschaft wurde vom Staat versorgt, während sich die Dörfer auf die eigenen Ressourcen stützen mussten. Die Einkommen der Bauern sowie ihr Lebensmittelkonsum stagnierten zwischen 1950 und 1977 und die Ernährungsfrage wurde erst in den achtziger Jahren weitgehend gelöst.
Im Gegensatz zum Mythos der ausgewogenen Entwicklung war Mao »Mister Schwerindustrie«. Nur drei Jahre nach dem Scheitern des »Großen Sprungs« setzte er 1964 den Aufbau der »3. Verteidigungslinie« in Westchina durch. Wieder wurde auf grüner Wiese in kürzester Zeit eine Schwerindustrie aus dem Boden gestampft. Dieses Mal um eine industrielle Basis für den Volkskrieg im Hinterland zu besitzen, im Falle eines sowjetischen oder amerikanischen Angriffs. Die »3. Linie« verschlang zwischen 1964 und 1971 den Löwenanteil des Staateshaushaltes.
Die konkrete Wirtschaftspolitik behandelt Böke jedoch nicht. Mein Hauptkritikpunkt an seinem Buch ist, dass er sich aus den Positionen der »Vierer-Bande« und Bettelheim einen Maoismus zusammenbastelt, der außer in der Hochphase der Kulturrevolution in China keine Rolle spielte. Die Kritik an dem Rationalitätsdenken der westlichen Moderne kann Böke daher auch nicht mit Mao-Zitaten belegen. Der kurze Flirt zwischen der Parteilinken und den proletarischen Rebellen in Shanghai 1966/67 ging schnell zu Ende. Versuche, die Arbeiter an der Leitung der Fabriken zu beteiligen, blieben regional und zeitlich stark begrenzt.
Kein Zufall ist es, dass Böke Maos Militärtheorien nicht behandelt. Die Militarisierung der ländlichen Arbeitskräfte 1958, die Kampagnen »Von der Volksbefreiungsarmee lernen«, das Arbeitslager-System oder das Menschenbild vom Soldat als Modellbürger thematisiert Böke kaum, da er meiner Meinung nach die »kriegskommunistischen« Aspekte des Maoismus völlig unterschätzt. Das Verteilungssystem der Armee galt als Vorbild für eine egalitäre Entlohnung und die Massenmobilisierung im Krieg wurde nach 1949 auf den Aufbau der Wirtschaft übertragen.
Während Böke trotz der Altlast der 70er Jahre die Mao-Ära noch relativ differenziert behandelt, mutet sein Glaube an die heutige chinesische Regierung sehr naiv an. Einem Land mit einem der sozial ungerechtesten Gesundheitssysteme der Welt und einem extrem hohen Gini-Koeffizienten eine soziale Politik zu bescheinigen, bedarf es schon reichlich Phantasie. Auch wenn Böke sich für Maos Kritik am orthodoxen Marxismus begeistert, so spricht hier doch letztlich ein staatsfixierter Linker, der die Hoffnung in die chinesische Regierung setzt, egal welche, und jede Absichtserklärung der Herrschenden für bare Münze nimmt. Was jedoch Bökes Verdienst bleibt, ist die Debatte um den Maoismus wieder eröffnet zu haben. Die Geschichte des Neuen China vor dem Hintergrund der Klassenkämpfe und sozialen Umwälzungen von unten neu zu schreiben, bleibt weiterhin eine Aufgabe für die Zukunft.
Henning Böke (2007): Maoismus: China und die Linke Bilanz und Perspektiven, Schmetterling Verlag, Stuttgart, Theorie.org, 10 Euro.