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Giovanni Arrighi

Hat die Arbeiterbewegung noch eine Zukunft?

in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts.
Bern: Peter Lang, 2000. S. 110-128
 

I

Am Vorabend des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums schrieb ich, daß »während der letzten 15 bis 20 Jahre Gewerkschaften, Arbeiterparteien und sozialistisch regierte Staaten - zumal der kommunistischen Variante - unter erheblichen Druck geraten sind, sich umstrukturieren und eine neue Orientierung finden zu müssen bei Strafe des Niedergangs«. [1]

Dies führte ich darauf zurück, daß alle bestehenden Arbeiterorganisationen sich unter den Bedingungen eines desintegrierten Weltmarktes gebildet hatten, wie er für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch war. Unter diesen Bedingungen hatte die organisierte Arbeiterbewegung in den »Kern«-Ländern mit hohem Einkommen - einschließlich der USA - eine beachtliche gesellschaftliche Macht und politischen Einfluß erworben, während in »semiperipheren« Ländern mit mittlerem Einkommen und in »peripheren« Ländern mit niedrigem Einkommen kommunistische Revolutionen stattfanden, so in Rußland und China. Die Wiederbelebung des Weltmarktes, die unter der Hegemonie der USA eingeleitet wurde, unterhöhlte allmählich die nationale wirtschaftliche Abschottung, auf der die gesellschaftliche Macht der organisierten Arbeiterbewegung und die Erfolge der kommunistischen Revolutionen basiert hatten. Unter diesen neuen Bedingungen mußten alle Arbeiterorganisationen - ganz gleich, wie effizient sie mit den Herausforderungen und Chancen des verflossenen Zeitalters umgegangen waren - auf große Schwierigkeiten stoßen: Wie sollten sie den neuen Herausforderungen begegnen, die durch die neuerliche Integration der Volkswirtschaften in einen einzigen Weltmarkt entstanden waren, und wie die daraus sich ergebenden Chancen nutzen - wenn dies überhaupt möglich sein sollte.

Inzwischen sind in ganz Europa kommunistische Parteien nahezu zu einer ausgestorbenen Spezies geworden, sozialdemokratische und Arbeiterparteien haben sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, und lange bestehende, einstmals mächtige Gewerkschaften kämpfen gegen Mitgliederschwund und für den Erhalt ihrer politischen Einflußmöglichkeiten. Wenn ich die Krise der organisierten Arbeiterbewegung und der kommunistischen Regime in einer Hinsicht unterschätzt habe, so bezüglich der Geschwindigkeit, mit der sich die Krise entwickelt und bezüglich des Ausmaßes, in dem sie eher zur Zerstörung als zur Transformation der bestehenden Organisationen der Arbeiterklassen geführt haben.

Das heißt nicht, daß die weltweite Arbeiterbewegung keine Zukunft hätte. Sie muß aber im 21. Jahrhundert Strategien und Strukturen entwickeln, die sich von denen des 20. Jahrhunderts unterscheiden, wie dessen Strategien und Strukturen von jenen des 19. Jahrhunderts verschieden waren. Der globale Kapitalismus entwickelt sich beständig weiter, und das gleiche gilt für die Bedingungen, unter denen die arbeitenden Klassen ihre eigene Geschichte machen.

Um die Entwicklung dieser Bedingungen zu verstehen, möchte ich zuerst auf zwei Fehleinschätzungen über die gegenwärtige Krise der Arbeiterbewegung weltweit eingehen. Die erste besagt, daß die Krise in erster Linie auf eine rückläufige Bereitschaft der Arbeiter zurückzuführen sei, für den Schutz und die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen, oder sie sei die Folge der Verlagerung industrieller Aktivitäten aus Ländern mit hohem in solche mit niedrigem Einkommen. Der zweiten Fehleinschätzung zufolge zeigt die Krise die Unfähigkeit der Arbeiterbewegung in der Form, die sie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angenommen hatte, ihre Ziele zu erreichen; während sich der globale Kapitalismus unbegrenzt ausweitet.

Die erste Fehlinterpretation beruht meines Erachtens auf einer eingeschränkten Sichtweise der Arbeiterbewegung in den Kernländern und einer mangelnden Berücksichtigung der weiterführenden und längerfristigen Folgen der Verlagerung industrieller Aktivitäten. Das Kapital, insbesondere das US-Kapital, hat seine Aktivitäten während des gesamten 20. Jahrhunderts beständig in Länder mit niedrigerem Einkommen verlagert. Die US-Konzerne haben sich zu transnationalen Konzernen entwickelt, nachdem sie seit der letzten Jahrhundertwende ihre den eigenen Kontinent umspannende Integration vollendet hatten. 1914 betrugen die direkten Auslandsinvestitionen von US-Firmen bereits sieben Prozent des Bruttosozialprodukts der USA, das ist der gleiche Prozentsatz wie der Ende der 1960er und ein etwas höherer Prozentsatz als der während der frühen 1990er Jahre. [2] Diese Kapitalverlagerungen haben die Verhandlungsmacht und Kampfbereitschaft der US-amerikanischen Arbeiterklasse eingeschränkt und vermindert. Aber diese Konsequenzen wurden auf Weltniveau durch die Stärkung der Verhandlungsposition und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklassen jener Länder, in die die industriellen Aktivitäten verlagert wurden, mehr als aufgewogen. [3]

Weltweite Daten über Arbeiter-Unruhen - aus Berichten der New York Times und der Times (London) - haben gezeigt, daß seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Arbeiter-Unruhen nur in den industriellen Kernländern rückläufige Tendenz zeigen; dagegen nehmen sie in den semiperipheren Ländern während dieser gesamten Periode und in den peripheren Ländern seit den 1970er Jahren zu: [4] »Die Konzerne wurden anfangs von bestimmten Standorten in der Semiperipherie angezogen, weil diese billige und willige Arbeitskräfte boten (z.B. Brasilien, Südafrika, Südkorea). Der daraus erfolgte Zustrom (direkter und indirekter) Auslandsinvestitionen führte in den 1970er und 1980er Jahren zu einer Reihe von 'Wirtschaftswundern' in der Semiperipherie. Aber die Ausweitung kapitalintensiver industrieller Massenproduktion, die diese 'Wirtschaftswunder' begleitet hat, brachte auch militante Arbeiterklassen mit beträchtlichem Störpotential hervor. Die Arbeiter haben diese Macht phasenweise in Kämpfen gezeigt, die alle 'Wirtschaftswunder' der Semiperipherie der 1970er und 1980er Jahre erfaßten - von Brasilien über Südafrika in den 1970er bis Südkorea in den 1980er Jahren.« [5]

Wäre die räumliche Verlagerung die wesentliche Stoßrichtung der beständigen Neustrukturierung des globalen Kapitalismus gewesen, so hätte man in den 1980er und frühen 1990er Jahren weltweit massive Arbeiter-Unruhen erwartet. Das Gegenteil war der Fall, so daß wir heute von einer Krise der weltweiten Arbeiterbewegung sprechen. Den Grund der Krise sehe ich darin, daß die räumliche Verlagerung industrieller Aktivitäten in Länder mit geringerem Einkommen und selbst die beschleunigte Verlagerung, die durch die jüngsten technologischen Entwicklungen ermöglicht wurde, eben nicht der grundlegende Aspekt der kapitalistischen Umstrukturierung während er letzten 25 Jahre war.

Wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe, [6] besteht der Hauptgrund dieser Neustrukturierung im Phasenwechsel von Akkumulationsprozessen im Weltmaßstab, und zwar von einer materiellen zu einer finanziellen Expansion. Diese Veränderung ist Ausdruck der normalen Entwicklung der Akkumulation des Kapitals. Seit ihren Anfängen vor 600 Jahren hat sich die kapitalistische Weltwirtschaft in zwei alternierenden Phasen ausgedehnt: Während einer Phase materieller Expansion wurde jeweils eine zunehmende Masse an Geldkapital in Handel und Produktion geleitet; im Verlauf der Phasen finanzieller Expansion verwandelte sich dagegen eine zunehmende Masse an Kapital in seine Geldform zurück und ging in den Geldverleih, in Anleihen und Spekulation. Fernand Braudel verwies auf die Wiederkehr dieses Musters im 16., 18. und 19. Jahrhundert und bemerkte, daß »jede kapitalistische Entwicklung mit Erreichen des Stadiums der finanziellen Expansion gewissermaßen ihre Reife - ein Anzeichen des Herbstes - anzeigt«. [7]

Als Braudel dies schrieb, begann die große Expansion von Welthandel und -produktion der 1950er und 1960er Jahre - das »goldene Zeitalter des Kapitalismus« - ihre Reife durch den Übergang zur finanziellen Expansion der 1970er und 1980er Jahre anzukündigen. In den 1970er Jahren war die Ausweitung finanzieller Aktivität mit der Ausweitung von Kapitalströmen aus Ländern mit hohem in solche mit niedrigerem Einkommen verbunden. Während der 1980er Jahre sind die internationalen Anleihen weiter exponentiell gestiegen - die Summe internationaler Bankanleihen stieg von 1980 vier Prozent des Bruttosozialprodukts aller OECD-Länder auf 44 Prozent 1991. Aber die Kapitalströme aus Ländern mit hohem in Länder mit niedrigerem Einkommen begannen sich - nach einem einschneidenden Rückgang zu Beginn der 1980er Jahre - erst gegen Ende des Jahrzehnts zu erholen. [8] Das letzte und bevorzugte Ziel des Kapitals, das aus Handel und Industrie der Kern-Standorte abgezogenen wurde, waren nicht die Länder mit geringerem Einkommen, sondern die »verborgnen Orte« der Finanzspekulation, die die Länder mit hohem Einkommen untereinander verbinden. Es war dieser Kapitalabzug und nicht die Verlagerung, der in den 1980er Jahren die Krise der weltweiten Arbeiterbewegung auslöste.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich mächtige Arbeiterorganisationen gewerkschaftlicher, sozialdemokratischer und kommunistischer Spielart gebildet. Unter den Bedingungen fast ununterbrochener Kriegführung oder Kriegsvorbereitung der kapitalistischen Staaten wurden sie zu Schlüsselinstitutionen der Weltgesellschaft. Aber selbst in den kapitalistischen Kernländern kam es zu den größten Arbeiterkämpfen erst gegen Ende der beiden Weltkriege beziehungsweise unmittelbar nach Kriegsende. [9]

Die US-Weltordnung des Kalten Krieges zusammen mit der riesigen Expansion von Welthandel und -produktion, zu der es unter ihrer Ägide kam, war vom zunehmenden Einfluß der organisierten Arbeiterbewegung in den Kernländern und kommunistischen Revolutionen in semiperipheren und peripheren Ländern geprägt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges erschien diese Entwicklung bereits als Bedrohung für den weltweiten Kapitalismus. Wenn dieser Prozeß nicht eingedämmt und rückgängig gemacht würde, so schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, nicht ob der Kapitalismus weltweit überleben, sondern ob er durch Reformen oder Revolutionen untergehen würde. Die US-»Intervention« in Form des Kalten Krieges war in erster Linie eine Antwort auf diese Situation.

Tatsächlich wurden die Erfolge der weltweiten Arbeiterbewegung, so wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden war, durch die Ordnung des Kalten Krieges eingedämmt und schließlich nach einer teilweisen Berücksichtigung ihrer Ziele rückgängig gemacht. Die Staaten des kapitalistischen Zentrums übernahmen die Ziele der Arbeiterbewegung wie Beschäftigungssicherheit (»Vollbeschäftigung«) und hohen Massenkonsum. Den kolonisierten Ländern wurde rechtliche Souveränität gewährt. Ebenso wie andere periphere und semiperiphere Staaten wurden sie auch zu Modernisierungsanstrengung und »Entwicklung« angehalten. Dadurch sollten sie in nicht allzu ferner Zukunft in den Stand gesetzt werden, ihrerseits ihren Arbeiterklassen Beschäftigungssicherheit und hohen Massenkonsum wie in den Kernstaaten zu bieten. [10]

Das Streben nach Wohlfahrt für die Arbeiter der Zentren und nach »Entwicklung« für die Arbeiter außerhalb der Kernländer wurde zentrales Ziel staatlichen Handelns. Es wurde aber auch als Propagandamittel eines antikommunistischen Kreuzzuges genutzt und war damit eingebettet in das um die USA zentrierte System der Militärbündnisse und in den Rüstungswettlauf zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR. Diese Auseinandersetzung in Friedenszeiten war ohne historisches Beispiel. Der Kalte Krieg zwischen den Supermächten ist wirklich »kalt« geblieben und wurde zur Grundlage einer Neuorganisation des Weltkapitalismus mit dem Ziel, einen dauerhaften Frieden zwischen den Nationalstaaten zu garantieren.

Die Bedeutung dieser Reorganisation kann nicht überbetont werden. Seit Präsident Wilson mit seinen Vierzehn Punkten auf Lenins Aufruf zur Weltrevolution geantwortet hatte, [11] hatte das aufgeklärte Bürgertum der USA mit Lenin immer darin übereingestimmt, daß die größte Bedrohung für den globalen Kapitalismus aus seinen inneren Kämpfen um Kolonien und Territorien komme. Es überrascht daher nicht, daß die US-Regierung, nachdem der Zweite Weltkrieg Lenins Hoffnungen und Wilsons Befürchtungen bestätigt hatte, geschickt die Furcht vor einer kommunistischen Revolution ausnutzte, um die westeuropäischen Regierungen dazu zu bewegen, sich vom Kolonialismus loszusagen, eine langfristige militärische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten zu vereinbaren und untereinander ihre nationalen Volkswirtschaften zu einem einzigen gemeinsamen, den gesamten Kontinent umspannenden Markt zusammenzufassen. Dadurch schufen die USA in Westeuropa und in der früheren kolonialen Welt neue Märkte für die profitable Expansion der US-Konzerne. Aber sie schufen auch dauerhafte Strukturen politischer und wirtschaftlicher Kooperation zwischen den westeuropäischen Staaten. Damit wurden deren Neigungen und Fähigkeiten untergraben, gegeneinander Krieg zu führen. [12]

Diese Veränderungen des weltweiten Kapitalismus durch die USA überstiegen die kühnsten Erwartungen ihrer Befürworter. In den Worten von Thomas McCormick waren die 1950er und 1960er Jahre »die nachhaltigste und profitabelste Periode wirtschaftlichen Wachstums in der Geschichte des weltweiten Kapitalismus«. [13] Die kommunistische Revolution drang in Kuba, in Indochina und in Afrika weiter vor - jedoch in immer peripherer gelegenen Ländern. Mehr noch, die beiden ursprünglichen Zentren der kommunistischen Revolution entwickelten Gegensätze, die es für die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten leichter machten, sie gegeneinander auszuspielen. Und während die kommunistische Revolution an die Peripherie gedrängt und gezähmt wurde, wurden die industriellen Konflikte in den Kernländern zunehmend in Routineabläufe eingebunden und begannen nach einer kurzen Wiederbelebung Ende der 1960er Jahre in ihrer Intensität steil abzufallen.

Aber niemand sollte diese Erholung des weltweiten Kapitalismus dem Versagen der weltweiten Arbeiterbewegung zuschreiben. Auch bedeutet dies keine dauerhafte Lösung der Widersprüche des Kapitalismus. Im Gegenteil, denn die Erholung des weltweiten Kapitalismus beruhte nicht auf der Ablehnung der Ziele der weltweiten Arbeiterbewegung während der letzten fünfzig Jahre, sondern auf ihrer teilweisen Verwirklichung. Diese Zugeständnisse zeigen die Anpassungsfähigkeit des weltweiten Kapitalismus als eines historischen Gesellschaftssystems. Die neuerliche finanzielle Expansion um 1970 zeigt jedoch, daß dieser Anpassungsfähigkeit Grenzen gesetzt sind, und daß die Annäherung an diese Grenzen die Krisentendenzen des Kapitalismus wieder verstärkt.

II

Finanzielle Expansionen sind Zeichen der Krise und grundlegenden Reorganisation der kapitalistischen Weltgesellschaft. Wie bei den finanziellen Expansionen der früheren Jahrhunderte stand hinter der gegenwärtigen Verschiebung des Kapitals aus dem Bereich Kauf und Verkauf von Waren (also Arbeitskraft, Maschinen und Ausrüstung) hin zu Anleihen und Spekulation eine Intensivierung der innerkapitalistischen Konkurrenz. Diese wiederum war eine Konsequenz der vorangegangenen Expansion von Welthandel und -produktion. [14] In dem Maß, wie alte und neue Unternehmen Kapital in den Kauf und Verkauf von Waren investierten, trugen sie zur Verminderung der Profitmargen in ihren Branchen bei. Und in dem Maß, wie eine steigende Anzahl von Unternehmen versuchte, ihrem Ertragsrückgang durch Diversifikation ihrer Aktivitäten an zusätzlichen Standorten und in anderen Branchen entgegenzusteuern, nahmen sie sich gegenseitig ihre Marktnischen weg und intensivierten damit den Konkurrenzdruck und die Unsicherheit in vielen Zweigen des Handels und der Industrie.

Dies führte dazu, daß Kapital aus Handel und Produktion abgezogen wurde. Indem dieses Kapital liquide gehalten wurde, hoffte man, die Risiken und Schwierigkeiten von Investitionen in ein immer mehr unter Konkurrenzdruck geratendes, zusehends unsicheres Geschäftsumfeld zu umgehen. Dieses Überschußkapital - also Kapital, das nicht auf profitable Weise in Kauf und Verkauf von Waren investiert werden kann - legt bereits durch seine bloße Existenz die Anlage in Geldgeschäften und Spekulationen nahe. Historisch waren die Phasen finanzieller Expansionen immer verknüpft mit einer Intensivierung der Konkurrenz zwischen Staaten um das Kapital, das aus Handel und Produktion abgezogen worden war. Mit der Zunahme der Konkurrenz auf den Warenmärkten tendierten die Regierungen dazu, in das Geschehen einzugreifen und um das Kapital zu konkurrieren, das sie benötigten, um rivalisierende Regierungen auszustechen - zumeist, aber nicht ausschließlich über eine Eskalation des Rüstungswettlaufs. Diese Konkurrenz vervielfachte ihrerseits die Chancen, bei der Mobilisierung von Überschußkapital durch Anleihen und Spekulation zu profitieren.

Dieses Muster läßt sich an der gegenwärtigen ebenso wie an früheren finanziellen Expansionen ablesen. Die gesamten 1970er Jahre hindurch wurde das Überschußkapital über Anleihen an semiperiphere wie periphere Länder und in Richtung Währungsspekulation gelenkt. Dies wiederum erhöhte den Konkurrenzdruck und die Unsicherheit in Welthandel und -produktion weiter, ohne daß die Erträge auf den Finanzmärkten stiegen. Reichliche und billige Kredite brachten die semiperipheren und peripheren Länder dazu, ihre Industrialisierungs- und Modernisierungsanstrengungen zu verstärken und damit um Märkte und Ressourcen (vor allem Erdöl) zu konkurrieren, die zuvor privilegierte Domänen der Kernländer gewesen waren. Die Währungsspekulation ihrerseits unterhöhlte zunächst und zerstörte schließlich ganz das System fester Wechselkurse, das zur Stabilität der Weltwirtschaft in den 1950er und 1960er Jahren beigetragen hatte. Die Zunahme des Konkurrenzdrucks und der Unsicherheit führte zu einem weiteren Rückzug des Kapitals aus Handel und Produktion. Das Ungleichgewicht zwischen einem rasch steigenden Angebot und einer stagnierenden Nachfrage nach Überschußkapital wurde so verschärft. Die Gewinne auf den Finanzmärkten wurden dadurch abgesenkt. [15]

Erst nach 1979 unternahm die US-Regierung zunächst unter Carter und entschiedener unter Reagan Schritte, um günstige Bedingungen für die laufende finanzielle Expansion zu schaffen. Diese Maßnahmen standen im Zusammenhang mit einer Eskalation der ideologischen Auseinandersetzung und des Rüstungswettlaufs mit der UdSSR - was Fred Halliday als den zweiten Kalten Krieg charakterisiert hat. [16] Die US-Regierung reagierte auf den Verfall von Macht und Prestige der Vereinigten Staaten infolge der militärischen Niederlage in Indochina und der diplomatischen Niederlage im Iran und stützte den angegriffenen Dollar, indem sie die Realzinsen auf den Weltfinanzmärkten in die Höhe trieb. Sie nutzte die scheinbar unbegrenzte Kreditlinie, die sie durch diese Maßnahmen gewonnen hatte, um den Rüstungswettlauf mit der UdSSR - über deren Möglichkeiten hinaus - zu verschärfen und gleichzeitig die Steuern zu senken, um sich so die Unterstützung der Wähler für diese neue antikommunistische Politik zu sichern.

Die Folge dieser Politik war ein Anwachsen der Staatsschuld der USA, die ohne historischen Vergleich war und dem einheimischen und ausländischen Überschußkapital eine weit sicherere und ertragreichere Anlagemöglichkeit als zu Beginn der finanziellen Expansion bot. [17]

Die Eskalation dieses zwischenstaatlichen Machtkampfes spielte bei der Aufrechterhaltung der finanziellen Expansion eine ebenso entscheidende Rolle wie in der Vergangenheit. Doch wie wir sehen werden, unterscheidet sich die Dynamik der gegenwärtigen finanziellen Expansion deutlich von früheren Erfahrungen. Zuvor möchte ich jedoch auf zwei weitere Analogien eingehen, die für unseren Versuch, die gegenwärtige Umstrukturierung des weltweiten Kapitalismus zu verstehen, eine unmittelbare Bedeutung haben.

Beide Analogien beziehen sich auf die Tatsache, daß alle früheren Expansionen auf dem Finanzsektor nicht nur die »Abschlußphase« einer enormen materiellen Expansion der kapitalistischen Weltwirtschaft waren. Die Intensivierung der Konkurrenz zwischen den Kapitalgruppen, die den Expansionen auf dem Finanzmarkt zugrunde lag, bewirkte auch in der räumlichen Ausdehnung und in der Organisation der Prozesse der Kapitalakkumulation auf Weltebene einschneidende Veränderungen - Veränderungen, die in eine neue Phase der Expansion des weltweiten Handels und der Produktion überleiteten. Epochale Veränderungen dieser Art geschehen immer nur über lange Zeitperioden - in der Regel über mehr als ein halbes Jahrhundert. Das dominierende Zentrum verfügt anfangs immer über die Mittel, aus der Intensivierung der Konkurrenz Nutzen zu ziehen. So schrieb Halford MacKinder bereits 1899 über den relativen Verlust der industriellen Konkurrenzfähigkeit Großbritanniens, »wir [die Briten] sind vor allem ein Volk mit Kapital, und diejenigen, die Kapital haben, haben immer auch Teil an der Tätigkeit der Hirne und Muskeln anderer Länder«. [18]

Im Laufe der Zeit vermochte selbst »das größte Kapitaleigentum« eines ehemaligen Zentrums nicht, die Kosten für den eskalierenden Konkurrenzkampf und seine Folgen aufzubringen, von denen immer mehr die neu aufsteigenden Zentren profitierten. So leiteten die hohen Anleihen, die Großbritannien während des Ersten Weltkrieges bei den Vereinigten Staaten aufnahm, jene Wachablösung zwischen den beiden Ländern innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft ein, die mit weiteren Anleihen während des Zweiten Weltkrieges abgeschlossen wurde. Auch wenn man die Parallele nicht überstrapazieren sollte, scheint in den 1980er Jahren Ähnliches geschehen zu sein. Denn ungeachtet der spektakulären Erfolge infolge der Neubelebung der US-Ökonomie und des Bankrotts der UdSSR könnten die USA mit der ungeheuren Aufblähung ihrer Staatsschulden einen analogen Weg des Niedergangs wie Großbritannien beschritten haben. Kevin Philips schreibt: »Einstmals weltweit führender Gläubiger, haben die USA soviel Geld in Übersee aufgenommen - Schatten wie aus Großbritannien in den Jahren 1914 bis 1945 -, um zum führenden Schuldner der Welt aufzusteigen.« [19]

Diese Wandlung der Vereinigten Staaten zur führenden Schuldner-Nation der Welt war vom spektakulären Aufstieg der ostasiatischen Region begleitet - nicht nur ein Weltzentrum der Produktivität, sondern auch der Kapitalliquidität: Japan und die überseeische chinesische Diaspora, die von Hongkong, Singapur und Taiwan aus operiert. Der Sieg Großbritanniens in beiden Weltkriegen hat die Verlagerung des geopolitischen Zentrums der Kapitalakkumulation auf Weltniveau vom nordwestlichen Europa nach Nordamerika nicht verlangsamt, sondern beschleunigt. Der Sieg der USA im Kalten Krieg könnte eine ähnliche Verlagerung, diesmal von Nordamerika nach Ostasien mit sich bringen.

Im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung sind meines Erachtens die Hartnäckigkeit der Wirtschaftskrise in Japan nach dem Crash der Tokyoter Börse 1990-1992 und ihre Transformation 1997-1998 in eine Ost-Asien-Krise noch keine Anzeichen dafür, daß die Verlagerung rückläufig wäre. Denn die historischen Erfahrungen Londons und Englands im späten 18. Jahrhundert und erst recht die von New York und den USA in den 1930er Jahren lassen sich mit denen Japans und Ostasiens im späten 20. Jahrhundert vergleichen. Zu behaupten, die japanische und die ostasiatische Krise der 1990er Jahre zeigten, daß das Epizentrum der globalen Kapitalakkumulation nicht von den USA nach Ostasien gewandert sei, ist so wenig überzeugend, wie die Behauptung, der Crash der Wall Street in den Jahren 1920 bis 1931 und die anschließende US-Wirtschaftskrise habe gezeigt, daß das Epizentrum der globalen Kapitalakkumulation nicht vom Vereinigten Königreich in die Vereinigten Staaten gewandert sei. [20]

Dagegen legt eine weitere Analogie zwischen der gegenwärtigen und früheren finanziellen Expansionen die Vermutung nahe, daß sich das Epizentrum der globalen Wirtschaft in der Tat nach Ostasien verlagert. Wie Theoretiker der »Informalisierung« und der »flexiblen Spezialisierung« unterstreichen, war der relative Niedergang der Wirtschaftsmacht der USA seit etwa 1970 mit einer deutlichen Umkehr in der organisatorischen Stoßrichtung des Kapitalismus während des vorangegangenen Jahrhunderts verknüpft. So schreiben Manuel Castells und Alejandro Portes: »Der große Konzern mit seiner nationalen, vertikalen Struktur und der funktionalen Trennung zwischen Stab und Linie erscheint nicht mehr als das letzte Stadium einer notwendigen Evolution zu einem rationalisierten industriellen Management. Netzwerke von Wirtschaftstätigkeiten, Netzwerke von Firmen und koordinierte Gruppierungen von Arbeitern scheinen ein sich herausbildendes Modell erfolgreicher Produktion und Verteilung auszumachen«. [21] Ähnlich haben Michael Piore und Charles Sabel argumentiert: »... die Technologien und Produktionsverfahren der meisten modernen Konzerne, die Formen der Kontrolle über den Arbeitsmarkt, die noch von großen Teilen der Arbeiterbewegung verteidigt werden, die von den Bürokraten und Ökonomen in den Wohlfahrtsstaaten entwickelten Instrumente der volkswirtschaftlichen Steuerung, die Regeln der internationalen Finanz- und Handelssysteme - all dies muß verändert und sogar aufgegeben werden, wenn die chronischen ökonomischen Gebrechen unserer Zeit geheilt werden sollen«. [22]

Eine Veränderung der Organisationsstruktur des weltweiten Kapitalismus ist keine Besonderheit des späten 20. Jahrhunderts. Schon vor fast neunzig Jahren hat Henri Pirenne auf die große Regelmäßigkeit hingewiesen, mit der in der Sozialgeschichte des europäischen Kapitalismus Phasen »wirtschaftlicher Freiheit« auf Phasen »wirtschaftlicher Regulation« folgten. Wie er feststellte, führte jede Veränderung der kapitalistischen Organisationsstruktur in die eine Richtung zu einer Bewegung in die entgegengesetzte Richtung, die die kapitalistische Entwicklung in der folgenden Phase dominierte. So führte die »wirtschaftliche Freiheit« im 16. Jahrhundert zur »wirtschaftlichen Regulation« im 17. und 18. Jahrhundert. Darauf folgte wieder »wirtschaftliche Freiheit« im 19. Jahrhundert, die von »wirtschaftlicher Regulation« im 20. Jahrhundert abgelöst wurde. [23]

All diese Kehrtwendungen in der Organisationsstruktur des Kapitalismus lassen sich in Perioden finanzieller Expansion beobachten, und sie waren mit einer geopolitischen Veränderung der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab verbunden. Der von Pirenne unterstrichene Wechsel zwischen »deregulierenden« und »regulierenden« Schüben ist nur ein Aspekt dieser Phasenverschiebungen. Andere und ebenso wichtige Aspekte können mit Gegensatzpaaren wie »Informalisierung - Formalisierung«, »flexible - starre Spezialisierung«, »extensive - intensive Akkumulation«, »Markt- - organisierter Kapitalismus« beschrieben werden. [24]

Wie Theoretiker der Informalisierung und der flexiblen Spezialisierung unterstreichen, gibt es viele Belege dafür, daß sich gegenwärtig der Trend des vergangenen Jahrhunderts hin zu formal organisierten und rigide spezialisierten Strukturen in Verwaltung und Wirtschaft umkehrt. Aber nicht alle Regionen der Welt haben gleiche Chancen, von dem sich gegenwärtig abzeichnenden Trend zur Informalisierung und flexibler Spezialisierung zu profitieren und nicht dabei zu verlieren. Nach 600 Jahren, in denen die »Geschenke« der Geschichte und der Geographie den Westen zum hauptsächlichen Ort des Kapitalismus gemacht haben, sieht es jetzt so aus, als befänden sich die Zivilisation(en) Ostasiens in der günstigeren Position, um sich die neueste organisatorische Veränderung des weltweiten Kapitalismus zunutze zu machen. [25]

Dies ist ein erster wichtiger Unterschied zwischen der gegenwärtigen Expansion der Finanzmärkte und früheren Phasen. Während sich früher das geopolitische Zentrum der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab von einer Region zur anderen innerhalb der westlichen Welt verlagerte, scheint das Zentrum jetzt in eine Region der nicht-westlichen Welt zu wandern.

Ebenso wichtig ist ein weiterer Aspekt, der die jüngste Verlagerung des geopolitischen Zentrums der weltweiten Kapitalakkumulation als anormal erscheinen läßt. In der Vergangenheit waren solche Verlagerungen mit der Formierung der kapitalistischen Weltwirtschaft verbunden, und zwar war das neue Zentrum militärisch und finanziell mächtiger als das alte: Dies trifft zu auf die staatlichen und wirtschaftlichen Organisationen der USA im Vergleich zu Großbritannien, Großbritanniens im Vergleich zu den Niederlanden und im Vergleich der Niederlande zu den Stadtstaaten Italiens. Frühere finanzielle Expansionen und die ihnen zugrundeliegenden Konkurrenzkämpfe führten zu einer Verschmelzung von militärischer und finanzieller Weltmacht innerhalb des hegemonischen Zentrums. Demgegenüber hat die gegenwärtige finanzielle Expansion bisher zu einer Aufspaltung dieser beiden Formen von Macht geführt. Während die finanzielle Macht zunehmend in ostasiatischen Händen konzentriert ist, liegt die militärische Macht mehr denn je in Händen der USA. [26]

Diese zweite Besonderheit der gegenwärtigen finanziellen Expansion steht in enger Beziehung zu einer dritten. Im Gegensatz zu früheren finanziellen Expansionen ist die Eskalation zwischenstaatlicher Machtkämpfe in den 1980er Jahren nicht in offenen Krieg umgeschlagen. Die Vereinigten Staaten »gewannen« mit finanziellen Mitteln einen kalten Krieg, den sie mit militärischen und diplomatischen Mitteln nicht hätten gewinnen können, aber dieser Krieg ist »kalt« geblieben. Zwar kam es während und nach diesem zweiten Kalten Krieg zu »heißen« Kriegen in den meisten peripheren und semiperipheren Regionen der Weltwirtschaft - in Lateinamerika und der Karibik, Afrika, Südosteuropa, West-, Süd- und Zentralasien, oft unter direkter Beteiligung von kapitalistischen Kernstaaten. Diese Kriege blieben jedoch begrenzt.

Diese Besonderheiten der gegenwärtigen finanziellen Expansion können als Ausdruck einer langfristigen Tendenz des historischen Kapitalismus verstanden werden, durch die Herausbildung politischer Organisationen zu expandieren, die mit größerer militärischer Macht ausgestattet sind als in früheren Zeiten. Historisch entstanden diese immer mächtiger werdenden politischen Organisationen als Folge der Auseinandersetzungen und Kriege zwischen den aufsteigenden und niedergehenden kapitalistischen Staaten. Am Ende eines solchen Prozesses stehen Organisationen, die so mächtig sind, daß sie durch die neu auftretenden kapitalistischen Staaten nicht herausgefordert werden können. Es könnte sein, daß der Weltkapitalismus unter der Hegemonie der USA diese Grenzen und eine solche Konzentration militärischer Macht in den Händen der Vereinigten Staaten und ihrer engsten Verbündeten erreicht hat, daß zwischenstaatliche Kriegführung zu einem obsoleten Mittel kapitalistischer Konkurrenz geworden ist.

Das heißt jedoch nicht, die Vereinigten Staaten wären nun gegen die Folgen der kapitalistischen Konkurrenz - bezüglich anderer als zwischenstaatlicher Kriege oder auch der Ausbreitung lokaler Kriege in den peripheren und semiperipheren Ländern - gefeit. Im Gegenteil, die Konsolidierung des Quasi-Monopols der USA hat an globaler, im Unterschied zu bloß lokaler oder regionaler, militärischer Macht während des zweiten Kalten Krieges eine Erbschaft an festen Kosten und eingefahrenen Bahnen des Denkens hinterlassen, welche ernstlich die Fähigkeit von US-amerikanischen Regierungs- und Wirtschaftsinstitutionen behindert, sich wirkungsvoll am Konkurrenzkampf in einer globalen Wirtschaft zu beteiligen, deren Größenordnung, Horizont und Dichte vorher nie dagewesene Ausmaße erreicht hat. Das gilt besonders im Verhältnis zu Regierungs- und Wirtschaftsinstitutionen in Regionen wie Ostasien, die aufgrund von Geschichte und Geographie niedrige Schutz- und Reproduktionskosten benötigen. Ironischerweise kann daher die nie dagewesene militärische Macht, die sich in den Händen der USA akkumuliert hat, die »Migration« des geopolitischen Zentrums der Prozesse der kapitalistischen Akkumulation im Weltmaßstab auf die andere Seite des Pazifik nicht aufhalten, sondern sie sogar unterstützen.

III

Kehren wir jetzt zu der Frage zurück, welche Veränderungen für die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter aufgrund der augenblicklichen Neustrukturierung und Reorganisierung des weltweiten Kapitalismus zu erwarten sind. Die weltweite Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts entwickelte sich als Reaktion auf die Krise des weltweiten Kapitalismus, wie er sich unter britischer Hegemonie herausgebildet hatte. Welches sind die Chancen, die der »Herbst« des weltweiten Kapitalismus, wie er sich unter der US-Hegemonie etabliert hat, für eine Arbeiterbewegung mit sich bringt, daß sie so wirkungsvoll sein wird wie ihre Vorgängerin? Und wie würde eine solche Arbeiterbewegung aussehen?

Sicher ist es noch zu früh, etwas Genaueres zu sagen. Die ersten 25 Jahre der finanziellen Expansion des 19. Jahrhunderts waren in den meisten Ländern durch eine extreme Instabilität der Organisationen und durch wesentlich mehr Niederlagen als Siege der Arbeiterklassen charakterisiert. Es brauchte weitere 25 Jahre, bevor sich die ideologischen und organisatorischen Konturen der weltweiten Arbeiterbewegung herauszukristallisieren und erkennbar zu werden begannen, und noch einmal weitere 25 Jahre, bevor diese Bewegung mächtig genug wurde, um den weltweiten Kapitalismus zur Übernahme einiger ihrer Zielsetzungen zu zwingen. [27] Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß die weltweite Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts sich so langsam wie ihre Vorgängerin im 20. Jahrhundert entwickeln wird. Aber ob sie sich tatsächlich herausbildet, welche Form sie annehmen und wie wirksam sie sein wird - dies sind Fragen, die nicht aufgrund der Tendenzen der letzten, und noch nicht einmal der nächsten 15 bis 20 Jahre entschieden werden können.

Meines Erachtens läßt sich dennoch festhalten, daß die Bedingungen, unter denen die Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit ihre eigenen Geschicke im 21. Jahrhundert in die Hand nehmen werden, sich grundlegend von den Bedingungen des vergangenen Jahrhunderts unterscheiden werden. Denn die gegenwärtige finanzielle Expansion bezeichnet, wie die vorhergehende auch, den Anfang einer Veränderung des weltweiten Kapitalismus bezogen auf seine geographische Verortung ebenso wie auf seine organisatorischen Strukturen. Jeder dieser Übergänge hatte seine eigenen Besonderheiten bezüglich der Bedingungen der Kämpfe der Arbeiterklassen und unterschied sich vom vorhergehenden Übergang darin.

Ein erster Unterschied besteht darin, daß die veränderte geographische Lage der kapitalistischen Weltwirtschaft voraussichtlich das Epizentrum der Kämpfe der Arbeiterklassen in die peripheren und semiperipheren Länder, insbesondere nach Ostasien verschieben wird. Mir scheint es ein Mythos zu sein, daß die weltweite Arbeiterbewegung durch eine massive Verlagerung der industriellen Aktivitäten aus Ländern mit hohem in Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen geschwächt worden sei. Denn wenn es wirklich zu einer solchen massiven Verlagerung gekommen wäre, hätte man damit rechnen können, daß sich die weltweite Arbeiterbewegung wiederbelebt hätte. Der wesentliche Grund, warum dies nicht geschah, besteht meines Erachtens darin, daß während der 1980er Jahre das Ziel der Kapitalflucht in erster Linie nicht die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, sondern die off-shore-Finanzmärkte waren.

Von dieser Entwicklung ausgenommen war Ostasien, wo die finanzielle Expansion von einem schnellen Wachstum von Handel und Produktion begleitet war. Sollte diese Tendenz anhalten, so kann es meiner Einschätzung nach wenig Zweifel geben, daß in dieser Region unter Einschluß Chinas eine lebhafte Arbeiterbewegung entstehen wird. Und in dem Ausmaß, in dem die regionale Wirtschaft Ostasiens sich mit ausreichender Dynamik entwickeln, und so zu einer neuerlichen Expansion der gesamten globalen Wirtschaft führen wird, könnte diese aktive Arbeiterbewegung globale Ausmaße erreichen.

Ein zweiter Unterschied, besteht darin, daß vermutlich die Veränderungen der formell organisierten und starr spezialisierten Staats- und Wirtschaftsstrukturen des vergangenen Jahrhunderts auch die Hauptstoßrichtung der weltweiten Arbeiterbewegung beeinflussen wird. Die zunehmende Bürokratisierung des Kapitals in dem Jahrhundert nach 1870 begünstigte auch die Bürokratisierung der Arbeiterbewegungen. Es ist durchaus möglich, daß die Umkehr dieser Tendenz eine Neubelebung von flexibleren und informelleren Organisationsstrukturen, wie sie für die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts typisch waren, mit sich bringen wird.

Sollte es zu dieser Entwicklung kommen, können wir auch mit einer Veränderung in der ethnisch/rassischen und in der geschlechtsspezifischen Zusammensetzung der weltweiten Arbeiterbewegung rechnen. Die Bürokratisierung von Kapital und Arbeit im 20. Jahrhundert kam vor allem den weißen, männlichen Kernbelegschaften zugute. In dem Maß, wie die Arbeits- und Warenmärkte innerhalb der bürokratischen Strukturen der kapitalistischen Kernbereiche »internalisiert« [28] und die Ziele der »Vollbeschäftigung« und des hohen Massenkonsums von den Regierungen der kapitalistischen Kernländer übernommen wurden, gelang es den weißen, männlichen Arbeitern, die besser bezahlten und sichereren Jobs für sich zu monopolisieren. Aber die Intensivierung der zwischenkapitalistischen Konkurrenz seit etwa 1970 machte es für das Kapital sinnvoll, nach billigeren und flexibleren Quellen von Arbeitskraft zu suchen, nicht allein in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, sondern auch unter den Frauen und nicht-weißen Männern weltweit. Unmittelbar wirkte sich diese Tendenz in einer verstärkten »Versagensangst« der weißen, männlichen Arbeiter in den Kernländern aus. Auf längere Sicht könnte eine weltweite Arbeiterbewegung entstehen, in der Frauen und farbige Menschen (people of color) ein weit größeres Gewicht als in der Vergangenheit hätten.

Schließlich kann man mit Veränderungen aufgrund der Tatsache rechnen, daß Kriege zwischen Staaten als Mittel kapitalistischer Konkurrenz obsolet geworden sind. Dies dürfte die nationalistische und etatistische Orientierung der Arbeiterbewegung weltweit abschwächen. Wie bereits erwähnt, entwickelte sich die weltweite Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen einer fast ununterbrochenen Kriegführung zwischen den kapitalistischen Staaten, zumindest aber der Kriegsvorbereitung. Unter diesen Umständen ließ sich die militärische Macht seitens der herrschenden Klassen als zentral für nationalen Reichtum und Wohlstand darstellen und wurde von den unteren Klassen (einschließlich der Arbeiter) auch so aufgefaßt. Die Folge war, daß im 20. Jahrhundert der Nationalismus fast überall auf der Welt zu einem integrierenden Element der Arbeiterbewegung wurde und daß sich die Klassenkämpfe mit den Machtkämpfen zwischen den Staaten überlagerten.

In dem Maß, wie Kriege zwischen Staaten als Instrument kapitalistischer Konkurrenz obsolet werden, werden Klassenkämpfe sich von Machtkämpfen zwischen den Staaten abkoppeln. Jedoch gibt es keine Garantie, daß diese Abkoppelung zu einer stärker internationalistischen anstelle einer »tribalistischen« Einstellung unter den Arbeiterinnen und Arbeitern weltweit führen wird. Die Konstruktion neuer oder die Konsolidierung alter »vorgestellter Gemeinschaften« auf ethnischer oder religiöser Grundlage ist wahrscheinlich eine einfachere und schnellere Reaktion auf die Intensivierung der Konkurrenz auf dem Weltmarkt und auf den Zusammenbruch staatlicher Strukturen als die Schaffung von Klassensolidarität über Grenzen und kulturelle Unterschiede hinweg. Wie die Erfahrung des früheren Jugoslawien in tragischer Weise illustriert, kann aber diese Reaktion sehr wohl eine Kur sein, die schlimmer ist als die Krankheit.

Die kroatischen und serbischen Milizen könnten deshalb durchaus Vorläufer für typische Formen proletarischer Organisationen im 21. Jahrhundert sein. Aber es besteht eine zumindest gleich große Chance, daß die Art von Arbeiterklassen-Kooperation, wie sie langsam und von unten her über die Grenze zwischen den USA und Mexiko hinweg organisiert wird, für das neue Jahrhundert typisch wird. Ob der momentan schwächere Internationalismus schließlich die Oberhand über den »Tribalismus« gewinnen wird -, das liegt letzten Endes in den Händen der Arbeiterinnen und Arbeiter aller Länder selbst.

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Reinhart Kößler


Fußnoten:

[1] Giovanni Arrighi, Marxist Century, American Century: The Making and Remaking of the World Labor Movement, in: New Left Review, 179 (1990), S. 55.

[2] Stephen Hymer, The Multinational Corporation and the Law of Uneven Development, in: J. N. Bhagwati (Ed.), Economic and World Order, New York 1972, S. 121; Mira Wilkins, The Emergence of Multinational Enterprise, Cambridge 1970, S. 201-202; Ethan Kapstein, We Are Us: The Myth of the Multinational, in: The National Interest, 1991/92, S. 57. In Großbritannien und Frankreich war der Betrag der ausländischen Direktinvestitionen als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts 1914 beträchtlich höher als 1994. Siehe David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, Global Transformations. Politics, Economics and Culture, Stanford, CA 1999.

[3] Giovanni Arrighi/Beverly J. Silver, Labor Movements and Capital Migration: The United States and Western Europe in World Historical Perspective, in: C. Bergquist (Ed.), Labor in the Capitalist World-Economy, Beverly Hills 1984.

[4] Beverly J. Silver, World-Scale Patterns of Labor-Capital Conflict: Labor Unrest, Long Waves, and Cycles of Hegemony, in: Review (Fernand Braudel Center), 18 (1995), 1, S. 177ff.

[5] Beverly J. Silver, World-Scale Patterns (Anm. 4), S. 182. Siehe auch Beverly J. Silver, A Turning Points of Workers-Militancy in the World Automobile Industry, 1930's-1990's, in: Research in the Sociology of Work, 6 (1997), S. 43-71.

[6] Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century. Money, Power, and the Origins of Our Times, London 1994; Giovanni Arrighi/Beverly J. Silver, Chaos and Governance in the Modern World System, Minneapolis 1999.

[7] Fernand Braudel, The Perspective of the World, New York 1984, S. 246.

[8] The Economist, World Economy/Survey, September 19,1992, S. 6-9 und 14-17.

[9] Beverly J. Silver, World-Scale Patterns (Anm. 4), S. 158-173,177.

[10] Giovanni Arrighi/Beverly J. Silver, Chaos and Governance (Anm. 6), vgl. Einleitung und Kapitel 3.

[11] Geoffrey Barraclough, An Introduction to Contemporary History, Harmondsworth 1967, S. 127.

[12] Giovanni Arrighi/Beverly J. Silver, Chaos and Governance (Anm. 6), vgl. Kapitel 1 und 2.

[13] Thomas J. McCormick, America's Half Century. United States Foreign Policy in the Cold War, Baltimore, MD 1989, S. 99.

[14] Für eine ausführlichere und dokumentierte Darstellung des folgenden siehe Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century (Anm. 6), und Giovanni Arrighi/Beverly J. Silver, Chaos and Governance (Anm. 6).

[15] Mitte der 1970er Jahre fielen die Realzinsen in den Vereinigten Staaten offenbar unter Null. Siehe World Bank, World Development Report, New York 1985, S. 5.

[16] The Making of the Second Cold War, London 1986.

[17] Zwischen 1981, dem Regierungsantritt Reagans, und 1991 stieg das Budgetdefizit der USA von 74 Milliarden Dollar auf 300 Milliarden pro Jahr und die Staatsschuld der USA von 1 Billion Dollar auf 4 Billionen. Die Folge war eine Explosion der Nettozinszahlungen der US-Regierung auf jährlich 195 Milliarden Dollar, mehr als zehnmal soviel wie Mitte der 1970er Jahre. Kevin Phillips, Boiling Point. Republicans, Democrats, and the Decline of Middle-class Prosperity, New York 1993, S. 210, 220; Paul Kennedy, Preparing for the Twenty-First Century, New York 1993, S. 297.

[18] Hier zit. nach Peter J. Hugill, World Trade since 1431. Geography, Technology, and Capitalism, Baltimore, MD 1993, S. 305.

[19] Kevin Philips, Boiling Point (Anm. 17), S. 220.

[20] Giovanni Arrighi/Beverly J. Silver, Chaos and Governance (Anm. 6), vgl. Kapitel 1 und Schluß.

[21] World Underneath: The Origins, Dynamics, and Effects of the Informal Economy. In: A. Portes/M. Castells/L. A. Benton (Ed.), The Informal Economy. Studies in Advanced and Less Developed Countries, Baltimore, MD 1989, S. 29f.

[22] Michael J. Piore/Charles F. Sable, Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Berlin (W) 1985, S. 11f.

[23] Henri Pirenne, Stages in the Social History of Capitalism. In: R. Bendix/S. Lipset (Ed.), Class, Status and Power: A Reader in Social Stratification, Glencoe, IL 1953, S. 515-516.

[24] Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century (Anm. 6), S. 127-174, 239-300.

[25] Ebenda, vgl. Epilog; Giovanni Arrighi/Beverly J. Silver, Chaos and Governance (Anm. 6), vgl. Kapitel 2 und Schluß.

[26] Ebenda, vgl. Kapitel 1 und Schluß.

[27] Vgl. Giovanni Arrighi, Marxist Century, American Century (Anm. 1), S. 24-47.

[28] Zur »Internalisierung« von Märkten siehe Peter B. Doeringer/Michael J. Piore, Internal Labor Markets and Manpower Analysis, Lexington, MA 1971, und Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century (Anm. 6), S. 239-242, 287-289.

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