02.05.2005 [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]


Warum wir Forces of Labor übersetzt haben ...
Vorwort von wildcat & friends im Buch

Als das Buch im Sommer 2003 erschien, haben wir in einer ersten, enthusiastischen Besprechung auf seine Bedeutung hingewiesen und davon gesprochen, dass es "die Diskussionen über die Zukunft des historischen Kapitalismus auf eine neue Grundlage stellt" (wildcat 67, Oktober 2003). Uns war klar, dass eine deutsche Übersetzung die Auseinandersetzung um die Thesen des Buches voranbringen würde. Die "große Erzählung" in dem Buch und die vielen kleinen Erzählungen, die sie umfasst, sind spannend geschriebene Arbeiter- und Weltgeschichte, die weit über akademische Zirkel hinaus auf Interesse stoßen werden. Und zugleich liefert die neue Sicht auf diese Geschichte höchst aktuelle Anstöße zu den Debatten über Krieg, Globalisierung, Kapitalismus und Klassenkampf, die in den letzten Jahren wieder aufgeflammt sind.

Eine besondere Stärke des Buches besteht darin, dass die Geschichten aus Sicht der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter erzählt werden. Nicht im wörtlichen Sinne, denn die Darstellung und Zusammenfassung von etwa anderthalb Jahrhunderten globaler Klassengeschichte muss zwangsläufig die Vogelperspektive bemühen. Forces of Labor arbeitet aber im Zusammenhang heraus, wie die Kämpfe von unten das Handeln der Herrschenden und damit die Entwicklung des Kapitalismus als Weltsystem beeinflussen. Die Arbeiterkämpfe jagen das Kapital um den ganzen Erdball und von einem Industrieprodukt zum nächsten. Und die Gestalt der globalen Weltordnung wurde mit jedem neuen Zyklus von hegemonialer Macht stärker durch den Druck von unten geprägt (diesen langfristigen Befund hat Beverly J. Silver vor allem in dem 1999 zusammen mit Giovanni Arrighi veröffentlichten Band Chaos and Governance in the Modern World System dargelegt).

Diese Herangehensweise in Forces of Labor weist viele Parallelen zu einer heterodoxen marxistischen Strömung in Italien auf, die später als "Operaismus" bekannt wurde - und deren frühe Texte unsere eigene Theoriebildung stark beeinflusst haben. Durch den politischen Bestseller "Empire" von Hardt und Negri ist dieses Etikett wieder bekannt geworden, aber die theoretische Erneuerung der sechziger Jahre ist längst wieder zu Ideologie geronnen. Die Texte und Untersuchungen, die Anfang der sechziger Jahre um die Zeitschrift "Quaderni Rossi" herum entstanden, waren gleichermaßen Kritik der bürgerlichen Industriesoziologie wie eines orthodoxen Marxismus, der die Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Blick verloren hatte. (Zur Geschichte dieser Strömung siehe "Renaissance des Operaismus" in wildcat 64, 1995, und ausführlicher: Steve Wright. Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. 2005. Berlin: Assoziation A.) Sie zielten darauf, die im Marxismus längst vergessene Kritik von Marx am Despotismus der kapitalistischen Produktion in konkreten Untersuchungsprojekten zu aktualisieren. Statt von einem schematischen und identitären Begriff der Arbeiterklasse auszugehen, richteten sie ihre Aufmerksamkeit darauf, wie bestimmte Formen der Produktion zu historisch spezifischen Formen der "Klassenzusammensetzung" führen und mit bestimmten "Rebellionsweisen" verbunden sind. Die Produktionsorganisation und -technologie wurde ihrerseits als "geronnener Klassenkampf" entschlüsselt, als Antworten des Kapitals auf den offenen oder meistens versteckten Widerstand gegen die Arbeit (Silver würde hier von fixes sprechen). Zugleich wurde die Dialektik herausgearbeitet, dass das Kapital dem Arbeiterwiderstand nur mit einer weiteren Vergesellschaftung der Arbeit durch Arbeitsteilung und Maschinerie begegnen kann, die früher oder später zur Grundlage neuer Arbeitermacht wird.

In Forces of Labor finden wir wieder, was Mario Tronti damals als "strategische Wende" innerhalb des Marxismus bezeichnet hat: Statt von einer "Eigengesetzlichkeit" des Kapitals auszugehen, werden seine Bewegungen als ständige Auseinandersetzung mit dem Klassenkampf begriffen. Statt das Kapital zu einem Ding oder das Weltsystem zu einer vorgegebenen Struktur zu mystifizieren, ist die treibende Kraft die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft - das "endemische" Klassenverhältnis, der nicht überwindbare Antagonismus in der Produktion. Tronti nannte dies auch den "Arbeiterstandpunkt".

Nach zwei Seiten hin, mikro- wie makrokosmisch, liefert Forces of Labor wichtige Anstöße für die Aktualisierung dieser "operaistischen" Sichtweise, oder sagen wir in Anlehnung an Steve Wright besser: der "Schule der Klassenzusammensetzung", um Verwechslungen mit dem ideologischen "Multituden-Operaismus" zu vermeiden. Denn die Art, wie in Forces of Labor einige der neuen kapitalistischen Sektoren auf ihre Bedeutung für die Arbeitermacht hin abgeklopft werden, steht in deutlichem Gegensatz zu jenem leichtfertigen Triumphalismus, mit dem zum Beispiel Hardt und Negri ihre neuen Subjekte aus dem Hut zaubern. Silver geht nicht von neuen Kapitalideologien wie der "Informationsgesellschaft" und ihrer "immateriellen" Arbeit aus, sondern nimmt die diversen neuen "Postfordismen" kritisch unter die Lupe und schaut präzise, was sich innerhalb des Produktionsprozesses verändert. Sie kommt zu keinen definitiven Antworten über die voraussichtliche Entwicklung der Arbeitermacht, und wahrscheinlich ist dies in einer welthistorischen Umbruchphase wie der heutigen auch nicht möglich. Solange sich weder in der Kapitalakkumulation noch in den Klassenkämpfen neue zentrale Sektoren und Arbeiterfiguren abzeichnen, ist jede Auswahl von "neuen" Sektoren mit einer gewissen Zufälligkeit behaftet. Aber sie zeigt uns, wie weitere Untersuchungen entwickelt werden können, wonach sie fragen müssen, welche weitgespannten Zusammenhänge zu beachten sind. Hier gibt das Buch eine Fülle von Hinweisen und Anregungen im Detail, die nach weiteren kollektiven Anstrengungen geradezu rufen.

Die makrokosmischen Anregungen zur Erweiterung und Aktualisierung des Arbeiterstandpunkts sind offensichtlich: die historische Ausweitung auf hier 150, in Chaos and Governance gar 500 Jahre, und die damit verbundene welthistorische Sichtweise. Dass dieser Vorstoß zur Berücksichtigung des Klassenkampfs und der Arbeitersubjektivität in der Geschichte ausgerechnet aus der "Weltsystemschule" kommt, mag für einige überraschend sein. Denn gerade dieser Schule wurde nicht zu unrecht immer wieder ihr Strukturalismus zum Vorwurf gemacht. Im ersten Kapitel wird dieses Problem von Silver genauer diskutiert, und sie erläutert, wie das ganze Untersuchungsprojekt aus der Kritik an einem gewissen "Dampfwalzen"-Strukturalismus der Weltsystemschule entstanden ist.

Dieser Entstehungszusammenhang hat für uns aber den großen Vorzug, dass damit von Anfang an der Zusammenhang zwischen den Arbeiterkämpfen und dem Weltsystem aus kapitalistischer und staatlicher Macht in den Blick genommen wurde. In vielen Diskussionen über den "Imperialismus" werden die sozialen Gegensätze zwischen Klassen und die politisch-militärischen Gegensätze zwischen Staaten als einander ausschließende Sichtweisen behandelt - der "anti-imperialistische" Standpunkt opfert der "nationalen Befreiung" die soziale Emanzipation, und umgekehrt tendiert der "sozialrevolutionäre" Standpunkt dazu, die Gegensätze innerhalb des globalen Staatensystems zu ignorieren. In Forces of Labor werden die Zusammenhänge und Wechselbeziehungen beider Ebenen analysiert. Krieg und vor allem Weltkriege werden damit als integrale Bestandteile des weltpolitisch wirksamen Klassenantagonismus im Kapitalismus betrachtet.

Dies macht unverkennbar die Aktualität dieses Buches aus. Der Blick über die Jahrhunderte lässt sowohl den allgemeinen Charakter wie die historische Neuartigkeit der Situation erkennen, in der wir uns heute befinden. Gefragt wird nicht nach dem Immer-Wiederkehrenden in der Geschichte, sondern nach den Verschiebungen, die sich durch die Zyklen hindurch vollziehen. Wo werden bisherige, scheinbar feststehende Entwicklungspfade des Systems verlassen oder aufgesprengt? Dies betrifft in zentraler Weise wieder die Dialektik von Krieg und Klassenkampf: Kann es noch einmal gelingen, die gesellschaftlichen Widersprüche zumindest zeitweilig durch Weltkrieg oder einen weltweiten "Krieg gegen den Terror" zuzudecken und emanzipatorische Kämpfe abzublocken? Oder eröffnet die weltweite Macht der Proletarisierten erstmals in der Geschichte die Möglichkeit, schon den Zerfall der herrschenden Weltordnung soweit zu beeinflussen, dass ein erneutes Versinken der Welt in jahrzehntelangem Krieg und Massenmorden - bisher Kennzeichen jeden globalen Herrschaftswechsels - verhindert werden kann? Forces of Labor ist eine Anregung wie eine Aufforderung, diese Fragen theoretisch und praktisch anzupacken.

wildcat & friends
März 2005


Veranstaltungsreihe zu "Forces of Labor" und "Den Himmel stürmen"

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