Marcel van der Linden / Wayne Thorpe: Aufstieg und Niedergang des revolutionären Syndikalismus [1999_syn.htm]


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Aufstieg und Niedergang des revolutionären Syndikalismus

Marcel van der Linden / Wayne Thorpe

aus: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 5. Jg., Juli 1990, Heft 3, S. 9-38 [*]

Revolutionärer Syndikalismus - wir gebrauchen den Begriff hier im weitesten Sinne [1] - war stärker als jede andere Strömung der organisierten Arbeiterbewegung von der Vision der revolutionären Kraft und der Kreativität autonomer Arbeiter, dem Beharren auf ihr Recht auf kollektive Selbstverwaltung und dem Glauben an ihre Fähigkeit, ihre Belange selbständig regeln zu können, beseelt. Es gelang dieser Strömung zwar nie, eine Minderheitenposition zu überwinden und die dominante sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu ersetzen, aber sie war dennoch ein besonderer Ausdruck für die Lehren, die die Arbeiter des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus ihren Erfahrungen zogen und die sich in der Gründung syndikalistischer Organisationen vielerorts manifestierten.

Trotz aller regionalen und nationalen Unterschiede war der Syndikalismus eine internationale Bewegung. Mit Hilfe eines Vergleichs zwischen den syndikalistischen Bewegungen in zwölf Ländern - die in der Aufstellung unten aufgeführt sind - versucht dieser Aufsatz eine Analyse der Faktoren, die zum Aufstieg und Niedergang des Syndikalismus beigetragen haben. [2]

Syndikalistischen Organisationen und Bewegungen waren viele Charakteristika gemeinsam. Ihre Anhänger vertraten klassenkämpferische Positionen und bekannten sich zu revolutionären Zielen. Die unterschiedlichen Klasseninteressen galten als letztendlich unvereinbar und der Klassenkampf daher als unvermeidlich. Langfristig setzten sie sich für die Zerschlagung des Kapitalismus und den Aufbau eines Systems ein, in dem Arbeiter kollektiv produktives Eigentum verwalteten, während ihre Arbeiterorganisationen sich kurzfristig um Verbesserungen für die Situation der Arbeiter innerhalb des herrschenden Systems bemühten. In der kollektiven direkten Aktion von Arbeitern sahen die Syndikalisten das wirksamste Mittel, sowohl kurz- als auch langfristige Ziele zu erreichen. Sie war zwar primär gegen die Unternehmer in der vordersten Front des Klassenkampfes gerichtet, aber generell gegen das ganze gesellschaftspolitische System, das die kapitalistische Wirtschaft stützte. Dabei legten die Syndikalisten besonderen Nachdruck auf die Organisation der Arbeiter in der Produktion selbst, in ihrer Eigenschaft als Arbeiter und in Gewerkschaften, die damit zum wichtigsten Instrument im Kampf um die Erringung sowohl lang- als auch kurzfristiger Ziele wurden. Für die Syndikalisten bildete die Arbeiterklasse die verändernde Kraft, die Ökonomie ihr natürliches Schlachtfeld, die direkte Aktion ihre natürliche Waffe und die autonomen Arbeiterverbände die natürliche Schaltstelle für die Bindung, die Koordinierung und den Einsatz der kollektiven und schließlich revolutionären Kraft der Arbeiter. Die klassenkämpferische Haltung, die revolutionären Ziele, das Primat und die Autonomie der Gewerkschaften, das Plädoyer für direkte Aktion und schließlich die Kontrolle der Arbeiter über eine kollektivierte Wirtschaft: Das waren die Charakteristika, die alle Organisationen, die in diesem Artikel diskutiert werden, wirklich vereinten. Wenn der Begriff »Syndikalismus« hier benutzt wird - gewöhnlich ohne das Adjektiv »revolutionär«, da sowohl im Englischen als auch in den meisten anderen Sprachen, außer im Französischen, der Begriff das Adjektiv beinhaltet - bezeichnet er eine Arbeiterbewegung oder -ideologie, die diese oben skizzierten Wesenszüge trägt. In der inneren Struktur der Organisationen, die sich in der syndikalistischen Bewegung zusammenfanden, gab es viele Unterschiede.

Einige Verbände wie die deutsche Allgemeine Arbeiter-Union Einheitsorganisation und manche russischen Syndikalisten waren radikale Dezentralisten. Die IWW (Industrial Workers of the World) in den USA hingegen hatten eine zentralisierte Struktur, die die wichtigsten Industriegewerkschaften miteinander verband. [3] Sie nahm für sich in Anspruch, »eine höhere Form revolutionärer Arbeiterorganisation als die von den (europäischen) Syndikalisten vertretene« zu repräsentieren, fügte aber hinzu, daß die Wobblies, wie die IWW-Mitglieder manchmal genannt wurden, international mit den Syndikalisten »enger liiert« seien als mit jeder anderen Bewegung. [4] Die Dichotomie zentralistisch-dezentralistisch kann jedoch aus mindestens zwei Gründen irreführend sein. Zum einen konkurrierten auch in einer Organisation wie der IWW trotz zentralistischer Neigungen weiterhin Zentralisten und Dezentralisten miteinander. Zum anderen entschieden sich die europäischen Syndikalisten, obwohl sie Föderalisten waren, im allgemeinen für irgendeine Form von industrieller Organisation.

Der Syndikalismus entwickelte sich zuerst in Frankreich, wo man von den syndikalistischen Gewerkschaften zwar nicht erwartete, ihre Autonomie aufzugeben, aber sich sowohl einer berufsübergreifenden lokalen oder regionalen Gewerkschaft als auch einem Industrieverband anzuschließen, um so in beiden Sektionen der nationalen Organisation, der CGT (Confédération Générale du Travail), vertreten zu sein. Im September 1913 sprach sich der erste internationale syndikalistische Kongreß, der in London stattfand, für Industriegewerkschaften aus, die spanische CNT (Confederación Nacional del Trabajo) machte einen Schritt in dieselbe Richtung, als sie 1918/1919 das »sindicato único« einführte, und sogar die deutsche FAUD unterstützte 1927 widerstrebend eine Organisation auf der Grundlage von Industriezweigen und nicht mehr von Berufen. Und obwohl die Chefs der kanadischen OBU (One Big Union) Industriegewerkschaften, verglichen mit »der einen großen Gewerkschaftsvereinigung« (one big unionism), als unterlegen ablehnten, wurden sie dennoch von vielen der Gründungsmitglieder der OBU klar unterstützt. Auf alle Fälle waren die Syndikalisten, ob Zentralisten oder Föderalisten, Industriegewerkschaftler oder nicht, offensichtlich auf der Suche nach einer Form der Arbeiterorganisation, die die Effizienz der Aktion sichern konnte, ohne die Nähe zu den Arbeitern aufzugeben.

Implizierte das syndikalistische Programm, das die direkte Aktion propagierte, die Ablehnung von Politik? Diese Frage sollte man am besten unter dem Aspekt von Ziel und Weg betrachten. Die letztendliche Zielsetzung der Syndikalisten war sicherlich politisch: die Abschaffung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, die Schaffung kollektiver Gesellschaftsstrukturen auf der Basis von Gewerkschaften und die Übertragung der Entscheidungsfindung und Verwaltung auf die Produzenten. In bezug auf den Weg, der zu diesem Ziel führen sollte, stellten die Syndikalisten die direkte Aktion der Arbeiter oben an. Viele von ihnen lehnten die politischen Parteien ab, die für sich in Anspruch nahmen, für die Arbeiter zu sprechen, aber vornehmlich Wähler an die Wahlurnen mobilisieren wollten und von bloßem wahlpolitischem Interesse und den entsprechenden Kompromissen bestimmt waren. Faktisch alle Syndikalisten konnten Léon Jouhaux, dem Sekretär der französischen CGT, zustimmen, der gegenüber ausländischen Gewerkschaftsführern sozialdemokratischer Couleur auf einer internationalen Gewerkschaftskonferenz in Paris bemerkte: »Für Euch mag die politische Organisation ja ein großes Schiff sein und die wirtschaftliche Organisation nur ein kleines Boot in seinem Schlepptau. Für uns ist die Gewerkschaftsorganisation das große Schiff; man muß die politische Aktion der Gewerkschaftsaktion unterordnen.« [5] In ihren realen Beziehungen zu den politischen Parteien verhielten sich die Syndikalisten bemerkenswert unterschiedlich. Die CGT bekannte sich in der »Charta von Amiens« 1906 zu politischer Neutralität. Die Charta gestand allen politischen Parteien zu, soziale Veränderungen zu erstreben, allerdings unabhängig von der CGT, und gab CGT-Mitgliedern die Freiheit, entsprechend ihren politischen Überzeugungen zu handeln, allerdings außerhalb der Gewerkschaften. Sie war darauf angelegt, politischen Dissens in den Gewerkschaften, die sich ausschließlich auf wirtschaftliche Auseinandersetzungen konzentrieren sollten, so weit wie möglich zu verringern. Die CGT-Delegierten nahmen die Charta mit überwältigender Mehrheit an, einschließlich derer, die selbst politisch Sozialisten waren. In der Praxis war die Linie aber nie so klar. Erstreckte sich die Freiheit, außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens entsprechend eigenen politischen Ansichten zu handeln, über die Mitglieder hinaus auch auf die offziellen Vertreter der politisch neutralen CGT?

Einige dieser Funktionäre waren als Sozialisten in das Abgeordnetenhaus gewählt worden. 1911 hinderte ein Machtwechsel CGT-Funktionäre daran, sich um ein politisches Amt zu bewerben. Die Schriften der CGT und die Verlautbarungen einiger ihrer höchsten Funktionäre waren oft jedoch kritischer und abweisender gegenüber politischen Parteien als es die Neutralität der Charta von Amiens vermuten läßt.

Man sollte die Opposition gegenüber politischen Parteien allerdings nicht als Wesenszug des Syndikalismus begreifen. Viele Syndikalisten lehnten die »politische« Aktion ab, weil Wahl- und Parlamentspolitik ihrer Meinung nach grundsätzlich in eine Sackgasse führen mußten. Frank Little, ein Organisator und schließlich ein Märtyrer der IWW, verfocht diese Einstellung, als er sagte, daß Arbeiter ihre Ziele niemals »durch eine reine und einfache politische Stimmzettelpartei (...)« erreichen könnten. »Wir können es nie schaffen, solange wir uns darauf verlassen, einfach hinzugehen und ein weißes Stück Papier in eine kapitalistische Wahlurne zu stecken.« [6] Einige politische Sozialisten teilten diese Auffassung. Charles Kerr, Mitglied der sozialistischen Partei und Herausgeber der in Chicago ansässigen »International Socialist Review« teilte Littles Ansicht: »Man braucht schon etwas mehr als eine Stimmabgabe, um den Kapitalismus zu überwinden, und die revolutionären Gewerkschaften sind dieses Mehr.« [7] Kurz, eine Zusammenarbeit zwischen Syndikalisten, politischen Sozialisten und Parteien, die selbst den Parlamentarismus ablehnten, war nicht ausgeschlossen. Unter den führenden Aktivisten der OBU befanden sich Mitglieder der sozialistischen Partei Kanadas, die sich gegen eine vom Wahlkampf diktierte Politik aussprachen. In Deutschland waren die syndikalistischen Organisationen nach dem Ersten Weltkrieg bereit, mit ultralinken Parteien zusammenzuarbeiten, die dem Parlamentarismus eine Absage erteilt hatten. Und beinahe überall unterstützten die syndikalistischen Organisationen den kommunistischen Internationalismus in seiner Anfangsphase mit großer Begeisterung, bis klar wurde, daß die Komintern auf dem Parlamentarismus und der Subordination der revolutionären Gewerkschaften unter die kommunistischen Parteien insistierte, was bei vielen von ihnen zum Bruch mit Moskau führte.

 

Aufstieg und Niedergang syndikalistischer Organisationen
Bewegung/LandGründungsjahrHöhepunkte der Einflußnahme (1)spätere Entwicklung
Nationaal Arbeids Secretariaat (NAS, Niederlande)1893ca. 1920 1940 während der Besetzung der Niederlande durch die Nazis aufgelöst
Confédération Générale du Travail (CGT, Frankreich)1902 (2)1909-10ab 1914 war sie nicht länger syndikalistisch
Industrial Workers of the World (IWN, USA)19051916-17marginalisiert
Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC, Schweden)19101924-34marginalisiert; kooperiert seit 1954 mit dem Staat
»Labour unrest« (Großbritannien)19101910-14größtenteils nicht institutionalisiert
Confederación Nacional des Trabajo (CNT, Spanien)19111936-37vom Franco-Regime unterdrückt; marginalisiert und gespalten
Unione Sindacale Italiana (USI, Italien)1912ca. 1920vom Faschismus liquidiert
Casa del Obrero Mundial (Mexiko)19141914-16unterdrückt und marginalisiert
Federación Obrera Regional Argentina (FORA IX, Argentinien)19141915-20von der Union Sindical Argentina 1922 geschluckt
One Big Union (OBU, Kanada)19191919-20marginalisiert; 1956 vom All-Canadian Congress of Labour geschluckt
Confederacao General do Trabajo (CGT, Portugal)19191919-20vom Salazar-Regime unterdrückt
Arbeiterunionen (3) (Deutschland)1920-241922-24marginalisiert; vom Nazi-Regime zerschlagen

(1) Trotz der oft nachlässigen Administration syndikalistischer Gewerkschaften und der Tatsache, daß sich viele Arbeiter als Mitglieder betrachteten, ohne Mitgliedsbeiträge zu zahlen, haben wir in den meisten Fällen die Mitgliederzahl (die sicherste uns zur Verfügung stehende Maßeinheit) als den entscheidenden Faktor für die Bestimmung der Phase maximalen Einflusses gewählt.

(2) Wir gaben das Jahr an, in dem sich die CGT (die eigentlich 1895 gegründet wurde) mit den Bourses du Travail zusammenschloß.

(3) Ihr Vorläufer war die »Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften«, die 1897 gegründet worden war, und schon vor 1914 syndikalistisch wurde.

 

Die Aufstellung zeigt deutlich, daß international gesehen der für den Syndikalismus wichtige Zeitabschnitt zwischen den Jahren 1900 bis 1940 liegt, was auch auf die syndikalistischen Bewegungen zutrifft, die wir hier nicht diskutieren, wie zum Beispiel die »Federación Obrera Regional Uruguaya«, die chilenische IWW, die »Norske Fagopposition« (Norwegische Gewerkschaftsopposition), die »Allrussische Konföderation der Anarchosyndikalisten« und die australischen Wobblies. Außerdem wird aus der Aufstellung deutlich, daß der Syndikalismus unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg, von 1910 ab bis in die frühen 20er Jahre, eine sehr lebendige Bewegung war, nur in Spanien und Schweden erreichte er seinen Höhepunkt später.

Es ist durchaus kein Zufall, daß der Syndikalismus während der sogenannten zweiten industriellen Revolution entstand. Die Einführung neuer Energiequellen, insbesondere die vermehrte Nutzung der Elektrizität und des Verbrennungsmotors, Veränderungen in der relativen Bedeutung bereits existierender und das Auftreten neuer Industrien, aber vor allem die weitverbreitete technologische Innovation veränderten das Wesen der Wirtschaft und ihrer industriellen Prozesse und folglich auch Arbeits- und Lebensbedingungen. Obwohl man ein so komplexes Phänomen wie die zweite industrielle Revolution nur annähernd datieren kann, stimmen die Wissenschaftler darin überein, daß sie im späten 19. Jahrhundert einsetzte (dabei wird oft das Jahr 1890 genannt). In diese Zeitspanne, in der ihre Auswirkungen immer spürbarer wurden, fiel auch die Geburtsstunde des Syndikalismus. [8]

Auf die komplizierte Frage, warum syndikalistische Bewegungen während dieser besonderen Phase wirtschaftlicher Entwicklung an so vielen Orten entstanden, können wir nur eine erste Antwort geben. Eine Erklärung sollte mindestens fünf miteinander verknüpfte Faktoren berücksichtigen: die Veränderung von Arbeitsprozessen und Arbeitsbeziehungen; die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Strategie; die praktische Möglichkeit von Generalstreiks; räumliche oder geographische Einflüsse; und das Aufkommen einer radikalen Stimmung in der Arbeiterklasse.

1. Wachsende Radikalisierung:

Die zunehmend radikale Stimmung unter den Arbeitern ist offensichtlich nur durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu erklären, von denen wir einige schon kurz erwähnt haben.

Die Matrix dieser Faktoren und die entsprechende Radikalisierung nahmen allerdings in Relation zu unterschiedlichen beruflichen, regionalen und nationalen Gegebenheiten verschiedene Färbungen an. Ein wenn auch unvollkommener Beweis für das Aufbegehren ist allein schon die Ausbreitung einer ganzen Reihe von erklärt revolutionär syndikalistischen Arbeiterorganisationen.

Der Krieg selbst bietet nur eine unzureichende Erklärung für die weitverbreitete Unruhe unter den Arbeitern. Auch wenn man ihm einen Einfluß nicht absprechen kann, so ist doch auffällig, daß sich international in der Zeit zwischen 1910 und 1920, das heißt schon vor dem Krieg, eine Häufung sehr militanter, partiell revolutionärer Arbeiterkämpfe beobachten läßt. Wenn man die Teilnahme an Streiks als die vielleicht zuverlässigste Maßeinheit für die Unruhe unter den Arbeitern heranzieht, so stellt man fest, daß in dem Jahrzehnt ab 1910 die Streikaktivitäten international außergewöhnlich stark zunahmen (gemessen an der Häufigkeit der Streiks, der Anzahl der Streikenden, der Zahl der verlorenen Arbeitstage), wobei der Krieg selbst diese Tendenz nur zeitweilig unterbrach, die dann mit zeitlicher Verzögerung und verstärkt wieder auftrat. [9]

Ernesto Screpanti kommt in seiner Studie über das Muster, nach dem langfristige Streiks ablaufen, zu dem Schluß, daß der plötzliche steile Anstieg der Streikaktivitäten in der Phase von 1910-1920 sich nur mit den großen internationalen Streikwellen von 1869 bis 1875 und 1968 bis 1974 vergleichen läßt. [10] Screpanti begrenzt seine Analyse auf Daten aus Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und den USA. Naheliegende Hinweise aus anderen Ländern, wie die skandinavische Streikwelle zwischen 1909 und der Mitte der zwanziger Jahre, die großen russischen Arbeiterunruhen von 1917, die Streiks in Argentinien, die 1919 ein dramatisches Ausmaß erreichten, oder die Militanz der mexikanischen syndikalistischen Arbeiterorganisationen, die 1915/16 dem bestehenden System in einer Weise die Stirn boten, wie der amerikanische Kontinent es nie zuvor erlebt hatte und auch nicht wieder erlebte, bezog er nicht in seine Betrachtungen ein.

In den zwanzig bis dreißig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entstand durch Faktoren, die noch diskutiert werden, und andere, die dieser Periode eigen waren, wie die beispiellose Urbanisierung der Arbeiterklasse, eine deutlich explosive Situation. Arbeiter konzentrierten sich in Europa und in gewissem Maße auch auf dem amerikanischen Kontinent in Städten, die soweit voneinander entfernt waren wie Kristiania und Buenos Aires, in mehr und mehr abgetrennten, homogenen Wohnsiedlungen, die das Klassenbewußtsein und die Solidarität unter den Arbeitern verstärkten. Ein anderes Merkmal dieses Zeitabschnittes war die erfolgreiche Kapitalakkumulation, die den Einkommenszuwachs aller Arbeiter um ein Vielfaches übertraf.

Das allgemeine Bild, das sich uns, abgesehen von den unvermeidlichen nationalen und beruflichen Unterschieden in den Einkommensverhältnissen, bietet, zeigt nicht nur einfach eine »relative Deprivation« der Arbeiter, sondern eine weit verbreitete Stagnation oder sogar einen Rückgang in der Höhe der Reallöhne um die Jahrhundertwende, insbesondere etwa nach 1910. [11] Das Zusammentreffen dieser und ihnen verwandter Faktoren führte zu einer breiten Radikalisierung während der letzten Vorkriegsjahre, die in vielen Ländern gegen Kriegsende in eine revolutionäre oder revolutionsähnliche Situation umschlug. Die Verbreitung syndikalistischer Positionen und Organisationen war in keiner Weise mit diesem sprunghaften Anstieg der Militanz bei Arbeitern identisch, die viele Ausdrucksformen fand, aber sie war ein untrennbarer Bestandteil dieser Radikalisierung insgesamt und eine ihrer hervorstechendsten Manifestationen. Bestimmte Entwicklungen im Arbeitsprozeß und in den Arbeitsbeziehungen trugen nicht nur zur steigenden Radikalisierung der Arbeiter, sondern auch zur Attraktivität des Syndikalismus bei.

2. Der Arbeitsprozeß und die Arbeitsbeziehungen:

Bezüglich der beruflichen Zusammensetzung der syndikalistischen Bewegungen waren zwei Kategorien von Arbeitern besonders stark vertreten. Zur ersten Kategorie gehörten die Gelegenheits-, Saison- und Auftragsarbeiter, deren Arbeitsleben von Diskontinuitäten bestimmt war: episodenhafte Arbeitsperioden, häufiger Wechsel des Dienstherren und der Arbeitsstelle sowie geographischer Örtlichkeiten. Landarbeiter, Bauarbeiter, Hafenarbeiter und Gaswerker sind die Repräsentanten der ersten Kategorie.

Die große Anzahl der Landarbeiter war für einige syndikalistische Organisationen besonders typisch. Die Landarbeiter ohne Land in Italien, die braccianti in der Emilia-Romagna in Mittelitalien zum Beispiel oder die giornatari in Apulien im Süden, gehörten zum harten Kern der syndikalistischen Bewegung. Diese landlosen Arbeiter, die täglich auf den frühmorgendlichen Arbeitsmärkten angeworben wurden, waren nicht fest an einen bestimmten padrone gebunden. Die Arbeit für eine Vielzahl von Dienstherren dehnte die Kontakte unter diesen Arbeitern aus und förderte das Erkennen von gemeinsamen Interessen und möglichen gemeinsamen Aktionen. Eine ähnliche Beschreibung paßt auch auf die landlosen Tagelöhner im portugiesischen Alentejo und im spanischen Andalusien, auf die Erntearbeiter im amerikanischen »grain belt« und auf die Traubenpflücker im südöstlichen Frankreich. [12]

In der syndikalistischen Bewegung waren Bau- und Hafenarbeiter besonders aktiv. Die Arbeiter aus dem Baugewerbe bildeten innerhalb der französischen CGT eine bemerkenswert militante Föderation und spielten in vielen anderen syndikalistischen Organisationen eine wichtige Rolle, vor allem in Schweden, den Niederlanden, in Deutschland, Großbritannien und Portugal.

Ihre Zahl wuchs mit dem rasch fortschreitenden Prozeß der Urbanisierung, während sich zugleich die Arbeitsbeziehungen in der Industrie im neuen Jahrhundert veränderten, insbesondere durch die zunehmende Kommerzialisierung und durch spekulative Bauprojekte, mit denen die ausufernde Zunahme der Zahl miteinander konkurrierender Groß- und Subunternehmer einherging. Charakteristisch für die neue Situation war, daß Maurer, Maler und andere Bauarbeiter für jede Baustelle neu angeworben wurden und deshalb immer stärker Arbeitsbedingungen unterworfen waren, die denen von Gelegenheitsarbeitern ähnelten. Die job control (d.h. Arbeiter bestimmen ihre Arbeitsbedingungen selbst) wurde durch die Absicht der Unternehmer, wenn möglich von gelernten zu ungelernten Arbeitern überzugehen oder nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter einzustellen, bedroht. Im Baugewerbe waren Streiks gegen die Beschäftigung solcher Arbeiter nichts Ungewöhnliches. [13] Die Hafenarbeiter waren ebenso an vielen Orten für die syndikalistische Bewegung wichtig, so in San Francisco, Buenos Aires, Hull und Amsterdam. Ihre Jobs waren von sehr kurzer Dauer. »In keiner anderen Industrie waren die typischen Arbeitsverhältnisse so kurz.« [14] Die Männer wurden eingestellt, um ein einziges Schiff zu be- oder entladen, und wurden deshalb in dem Augenblick, in dem sie ihre Arbeit beendet hatten, auch wieder arbeitslos. [15]

Diesen und ähnlichen Gruppen von Arbeitern [16] waren bestimmte Charakteristika gemeinsam, die ihre Unterstützung für den Syndikalismus erklären. Erstens wechselten sie häufig ihre Jobs und waren nicht an eine bestimmte Art von Lohnarbeit gebunden. Wenn sich die Nachfrage nach Arbeitskräften in einem bestimmten Arbeitsbereich verringerte, am Ende eines speziellen Auftrags oder einer Saison, machten sie sich auf die Suche nach einer anderen Art von Arbeit (obwohl für Landarbeiter die Alternativen häufig begrenzt waren). In der Bauindustrie und im Hafen zum Beispiel war ein Wechsel zwischen den Arbeitsplätzen nichts Ungewöhnliches. In seinem Untersuchungsbericht von 1916 über Arbeiter in den Londoner Docks, wo die Nachfrage nach Arbeitskräften typischerweise im Dezember, Januar und Juli besonders groß war, im Spätsommer aber zurückging, führt H.A. Mess Beispiele für Gelegenheitsarbeiter an, die zwischen verschiedenen Jobs wechselten: »Die Bauarbeiter kommen im Winter in die Docks, wenn ihr eigenes Gewerbe Flaute hat. Gaswerker stehen im Juli zur Verfügung. (...) Andererseits arbeiten viele Docker im August und September als Hopfenpflücker oder Erntearbeiter.« [17]

Diese periodische berufsübergreifende Wanderung stimulierte den Versuch, Arbeiterorganisationen zu gründen, die mehr als einen Berufszweig umfaßten.

Da diese Arbeiter zweitens nicht langfristig an einen Unternehmer gebunden waren, waren sie nicht durch informelle Zwänge, wie sie dem Klient-Patron-Verhältnis innewohnen, belastet. Das bedeutete, daß sie sich zwar bei der Arbeit in einer deutlich abhängigen Position befanden, die Risiken beim Streik aber geringer waren, da Arbeiter, die häufig den Arbeitsplatz wechseln müssen, weniger Angst vor Entlassung haben als die, die beinahe ständig für denselben Unternehmer arbeiten. [18]

Wenn drittens Schwierigkeiten bei einem solchen Job auftraten, wirkten die zeitlichen Zwänge sehr einschränkend. Die Arbeiter waren gezwungen, sofort aktiv zu werden, wenn sie etwas erreichen wollten, bevor eine bestimmte Ernte eingebracht, ein Bauprojekt abgeschlossen oder der Arbeitsauftrag erledigt worden war. Es gab keine Gelegenheit, Widerstand langfristig zu planen, einen Streikfonds einzurichten, eine starke Gewerkschaftsorganisation aufzubauen oder sich auf so zeitraubende Prozeduren wie Vermittlung oder Schlichtungsverfahren einzulassen. Solche Arbeitsbedingungen begünstigten natürlich eine Taktik unmittelbarer ökonomischer Aktion gegen die Unternehmer. Die Anziehungskraft, die das syndikalistische Programm »direkter Aktion« auf solche Saison-, Gelegenheits- oder Auftragsarbeiter ausüben mußte, ist nicht zu übersehen.

Die zweite Kategorie von Arbeitern, die besonders stark in syndikalistischen Organisationen vertreten waren, umfaßte Bergarbeiter, Eisenbahnarbeiter und Fabrikarbeiter. Ihre Arbeitsplätze waren im Kontext der zweiten industriellen Revolution, die sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ausbreitete, umstrukturiert worden. Eine Unzahl technischer und organisatorischer Veränderungen bedrohte die mit Mühe erworbenen fachlichen Fähigkeiten, veränderte den Arbeitsprozeß und intensivierte seine Anforderungen.

1910 hielt die US-amerikanische Einwanderungsbehörde schriftlich fest, daß es »nur durch die Erfindung mechanischer Vorrichtungen und Prozesse, die die vormals bei vielen Beschäftigungen erforderliche Geschicklichkeit und Erfahrung überflüssig gemacht haben, möglich war«, die großen Massen der ungelernten, ländlichen Immigranten aus Ost- und Südeuropa aufzunehmen. [19]

Die Kommission führte Beispiele aus dem Bergbau, der Textilindustrie, der Glas- und Stahlproduktion an. Die Arbeiter der ersten Kategorie waren natürlich auch nicht gegen die Auswirkungen der technologischen Veränderungen gefeit. Im Baugewerbe zum Beispiel wurden die Zimmerleute mit Neuerungen wie vorfabrizierten Holzeinheiten und mechanischen Sägen konfrontiert, während die Fähigkeiten der Steinmetze desto weniger gefragt waren, je mehr sich der Gebrauch von Eisen und Stahl und der Einsatz mechanischer Geräte für die Bearbeitung von Steinen durchsetzten. Die Entprofessionalisierung und die wachsende Zahl der Arbeitssuchenden als Ergebnis des wirtschaftlichen Wandels und der technologischen Innovation waren jedoch für die Arbeiter der zweiten Kategorie besonders typisch, die dadurch radikalisiert wurden und unter denen der Syndikalismus immer mehr Anhänger fand. Handwerkliche Fähigkeiten zum Beispiel wurden in der Stahlindustrie nicht mehr benötigt, nachdem man in der Produktion die Bandmethode eingeführt hatte.

Im Vorkriegsgroßbritannien unterstützte die Zeitung »The Industrial Syndicalist« die Gründung einer neuen Zeitung, »The Syndicalist Railman«, mit dem Hinweis darauf, daß die Eisenbahngesellschaften »automatische Vorrichtungen benutzen, um die Stellenwärter und andere zu ersetzen. Und wenn einmal die Eisenbahnlinien elektrifiziert sein werden, werden diese automatischen Prozesse wahrscheinlich noch extensiver genutzt werden.« [20] Im Bergbau hatte der mechanische Untertagebau den Abbau mit der Spitzhacke verdrängt. Melvyn Dubofskys Beschreibung des US-amerikanischen Westens im späten 19. Jahrhundert trifft mit kleinen Abänderungen auch für viele Bergbaugemeinden anderswo zu: »Technologische Innovationen erhöhten die Produktivität, schmälerten aber gleichzeitig die Bedeutung traditioneller Fertigkeiten und zerstörten vorhandene Arbeitsmodelle. (Sie...) tendierten dazu, einige der früheren gelernten Arbeiter auf den Status Ungelernter mit geringerer Entlohnung zu reduzieren. (...Alle) westlichen Bergbau-Communities erlebten einen ähnlichen Druck in bezug auf die Stückrate, das Qualifikationsniveau und die vorhandenen Fertigkeiten.« [21]

Darüber hinaus erhöhten die breitgefächerte Einführung technischer Veränderungen, die den Bedarf an fachlichen Fertigkeiten verringerte, und die damit einhergehende Standardisierung des Maschinenparks die Mobilität der relativ ungelernten Arbeiter, die von der Werkstatt in die Fabrik und von einem leicht zu erlernenden Job zum nächsten wechselten. [22] Eine Folge dieser Veränderungen war, daß die Arbeitsbedingungen von gelernten und angelernten Arbeitern in diesen Sektoren zumindest auf den ersten Blick allmählich denen der Gelegenheitsarbeiter ähnelten. Diese Tendenz war schon lange zu beobachten. 1921 schrieb Paul H. Douglas, einer der führenden Wissenschaftler der Universität Chicago auf dem Gebiet der beruflichen Ausbildung: »Der Prozeß der Mechanisierung an sich, der die Arbeit stärker spezialisierte, machte den Arbeiter selbst weniger spezialisiert. Er war jetzt auswechselbar. Die Arbeitsgeschichte des typischen Handwerkers illustriert das. Er wechselt von der Schuhfabrik zur Baumwollspinnerei, von der Baumwollspinnerei zur Maschinenhalle und so weiter. Ein Maschinenwärter, der prinzipiell gelernt hat, wie man sich einer Maschine annimmt, kann sowohl einen Bandwebstuhl als auch Maschinen zur Schuhproduktion warten. Er ist wirklich ein austauschbarer Bestandteil des industriellen Mechanismus.«

Eine solche Mobilität sprach augenscheinlich gegen die Abschottung der Berufszweige voneinander und gegen die Identifizierung der Arbeiter mit dem erlernten Handwerk. Sie erleichterte stattdessen eine globalere Sicht der Interessen der Arbeiter und der Herausforderungen, denen sie sich stellen mußten.

»In den Reihen dieser fluktuierenden Arbeitermassen, die von einem Industriezweig zum nächsten wandern, haben die Theorien des Syndikalismus ihre meisten Anhänger gefunden« [23], fügte Douglas hinzu.

Die tiefgreifende technische Restrukturierung der Arbeitskraft und der Verlust an potentieller job control sowie damit einhergehend die abnehmende Bedeutung von Facharbeit zugunsten der Zerlegung des Arbeitsprozesses in Arbeitsgänge, deren Ausführung nur geringe Fachkenntnisse erforderte (dilution), war ein langfristiger Trend, der durch den Ersten Weltkrieg noch beschleunigt wurde. Er machte sich besonders in der Metall- und in der Rüstungsindustrie bemerkbar, was ein Grund dafür ist, daß die Metallarbeiter »in den meisten Ländern der Welt die charakteristischen Führer der militanten Arbeiterorganisationen wurden«. [24]

Zusätzlich zu den Veränderungen technischer Natur wurden Neuerungen eingeführt, die die Arbeitsorganisation betrafen. Diese beiden Arten von Veränderungen erfolgten weder immer gleichzeitig, noch war die neue Arbeitsorganisation einfach ein Attribut des technischen Wandels. Sie geht vielmehr auf die Absicht der Unternehmer zurück, ihre Kontrolle über den Arbeitsprozeß auszudehnen. Das bedeutet, daß die technologische Innovation keineswegs eine spezifische Art von Arbeitsorganisation vorschrieb, aber - zumeist durch die Reduzierung der Bedeutung fachspezifischer Fähigkeiten - Veränderungen in einer bestimmten Richtung erleichterte, weil sie es den Unternehmern ermöglichte, die Zusammenarbeit der Arbeiter in der Produktion einzuschränken. Es wurden neue Managementtechniken eingeführt, die zum Beispiel das System des »internal contract and indirect employment« ersetzten, in dessen Rahmen die gelernten Arbeiter ihre Hilfs- und Zuarbeiter selbst einstellten, bezahlten und beaufsichtigten oder die Gruppenleiter einen Vertrag mit einem Unternehmer eingingen, aber selbst das Arbeitsteam zusammenstellten, überwachten und ausbezahlten. Die Einstellung geschah direkt, ohne bürokratische Kontrolle. Was einmal als eine Ausprägung innerbetrieblicher Vertragsabschlüsse (internal contracting), eine Art Co-Management von Arbeitern und Kapital, in der Textil- und Metallindustrie, im Berg- und Schiffsbau weitverbreitet gewesen, aber auch in anderen Industrien durchaus nicht ungewöhnlich war, ging um die Jahrhundertwende in Europa und Nordamerika merklich zurück. Zusätzlich zu der verstärkten direkten Kontrolle führten die Unternehmer verschiedene andere Methoden wie zum Beispiel Akkordarbeit, Leistungsprämien, Modelle interner Beförderung und Arbeitshierarchien ein, um aus den Arbeitern mehr Leistung, Fügsamkeit und Loyalität herauszupressen. [25]

Trotz beachtlicher Unterschiede von Land zu Land und Industrie zu Industrie war den neuen Managementmethoden vor allem die verstärkte Kontrolle über den Arbeitsprozeß gemeinsam, was den Transfer des Produktionswissens von den Arbeitern an die Unternehmer einschloß und damit unvermeidlich auf Widerstand stoßen mußte. Craig R. Littler stellt fest, daß in Großbritannien gegen Ende des 19. Jahrhunderts »neue Ideen, neue Methoden und neue Technologie viele Unternehmer dazu brachten, sich um mehr Kontrolle im Betrieb zu bemühen«. Vor 1914, fügt er hinzu, »erfolgte eine Veränderung hin zu direktangestellten und direktkontrollierten Arbeitskräften, was aber nicht zur Schaffung von sicheren Arbeitsverhältnissen beitrug. Im Gegenteil nahm, soweit man das rekonstruieren kann, Gelegenheitsarbeit zu«. [26]

Die zunehmende direkte Kontrolle des Managements über den Arbeitsprozeß schließt eine Zunahme des Aufsichtspersonals im Verhältnis zu den Arbeitern mit ein. Ein grober Zahlenüberblick aus dem Fabriksektor der US-amerikanischen Wirtschaft bestätigt diese Annahme. 1900 betrug das Verhältnis Arbeiter-Vorarbeiter 16:1, um 1910 14:1 und 1920 nur noch 10:1. [27] In diesem Zeitraum expandierten die Massenproduktionsindustrien in den USA in einem atemberaubenden Tempo, wobei nach William H. Lazonick »erfolgreiches planmäßiges Management nicht nur einfach die Standardisierung, Beschleunigung und Koordination der Kapitalströme mit sich brachte, sondern auch die Standardisierung, die Erhöhung des Arbeitstempos und die Kontrolle der Arbeiter bedeutete. Die beruflichen Fähigkeiten und das berufliche Urteilsvermögen der Arbeiter mußten genauso wie die Kontrolle der Arbeiter über das Arbeitstempo soweit wie möglich überflüssig gemacht und zurückgedrängt werden«.

Die Frustration der Arbeiter fand ihren Ausdruck in informellen und formellen Widerstandsformen, wie »starke Fluktuation, Absentismus, verminderte Produktion und dem Erstarken radikaler Gewerkschaften«. [28]

Flemming Mikkelsen schreibt, daß die größten Streiks, die in den 15 Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchgeführt wurden, meistens eher um »das Recht, Arbeit zu leiten und zu verteilen«, gingen als um Lohnfragen. [29]

Frankreich durchlebte in dem Vierteljahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg mit Auftreten des Syndikalismus das, was Michael P. Hanagan »einen Industriekrieg« nennt. »Im ganzen Land tobte in den Werkstätten und Fabriken ein erbitterter Kampf um die Kontrolle über den Produktionsprozeß. Überall versuchten die Unternehmer, sich die Kontrolle über die Betriebe anzueignen und das Wissen über den Herstellungsprozeß in ihre Hände zu bekommen; überall boten die gelernten Arbeiter diesen Versuchen die Stirn.« [30]

Diese Veränderungen in Technologie und Arbeitsorganisation führten dazu, daß der Einfluß der Berufsgewerkschaften zurückging und Handwerker sich manchmal mit Industriearbeitern zusammenschlossen. Sie bildeten einen starken Anreiz für die gewerkschaftliche Organisierung, die die Vereinigung und Mobilisierung aller Arbeiter in einem bestimmten Industriezweig zum Ziel hatte.

Zwischen 1900 und 1940 wurde in vielen Ländern das Tarifvertragssystem als ein Mittel zur Institutionalisierung des Klassenantagonismus eingeführt. Daraus ergaben sich eine Reihe schwerwiegender Konsequenzen. Die Gewerkschaften wurden erstens für die Vertragsdauer zu Mitverantwortlichen für die Disziplinierung der Arbeiter. Zweitens begannen die Gewerkschaftsfunktionäre, die Rolle eines Puffers zwischen Kapitalisten und Arbeitern zu spielen, was sie, weil ihre ursprüngliche Zielsetzung verändert wurde, konservativer werden ließ. Das Gefüge der Nominallöhne wurde drittens für eine bestimmte Zeitspanne festgesetzt; sie konnte mehrere Jahre betragen, was abhängig von der Wirtschaftslage zugunsten oder zuungunsten der Arbeiter zu Buche schlagen konnte. Sogar dringende Arbeiterforderungen konnten viertens nur noch mit langer Verzögerung zum Gegenstand eines Arbeitskampfes gemacht werden, außer im Falle einer Vertragsverletzung. Und obwohl Arbeitsverhältnisse gewöhnlich durch Tarifverträge geregelt wurden, schienen sie für einige Teile der Arbeiterklasse in der Praxis mehr Nachteile als Vorteile zu bringen, insbesondere zu Zeiten »relativer Verarmung«. [31]

3. Die Ablehnung der in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Strategie:

Einige Arbeiter fühlten sich durch den Nachdruck, den die Syndikalisten auf die direkte industrielle Aktion legten, angesprochen. Sie versuchten, ihre kurz- und langfristigen Ziele mit Hilfe revolutionärer Gewerkschaften als klare Alternative zu der in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Strategie, wie sie von sozialistischen Arbeiterparteien und den reformistischen Gewerkschaften vertreten wurde, durchzusetzen. In dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg hatten sie Gelegenheit gehabt, das Vorgehen dieser Parteien und Gewerkschaften im Namen der Arbeiter zu studieren, und es unzulänglich gefunden.

Überall in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent waren schon lange vor der Jahrhundertwende unterschiedlich starke sozialistische Parteien gegründet worden. Manche von ihnen hatten keine besonderen Glanzleistungen aufzuweisen, und es gab Länder, in denen die große Bewegung des politischen Sozialismus Fehler und Ungereimtheiten beging, zeitweise gespalten und von Konflikten gebeutelt war. Der Wunsch, dem Zeit und Kraft raubenden Gezanke zwischen den sozialistischen Gruppierungen aus dem Weg zu gehen, war einer der Faktoren, die radikale Arbeiterorganisationen wie das holländische NAS oder die US-amerikanische IWW dazu bewegten, ihre Unabhängigkeit von den politischen Parteien zu erklären. In Frankreich hatten sich viele Gewerkschaften schon früh zu einer Politik der politischen Neutralität gegenüber einer gründlich gespaltenen und ineffektiven sozialistischen Bewegung bekannt, größtenteils um zu vermeiden, daß der politische Dissens die Gewerkschaften schwächte, und um den streitsüchtigen sozialistischen Fraktionen, die ein so augenscheinliches Interesse an der Vereinnahmung der Gewerkschaften demonstrierten, Grenzen zu setzen.

Besondere Bedingungen herrschten in anderen Fällen, wie zum Beispiel vor dem Ersten Weltkrieg in Argentinien, wo die organisierte Arbeiterbewegung von Arbeitsimmigranten, denen man das Wahlrecht verweigerte, beherrscht wurde. Länder wie Italien oder Deutschland jedoch konnten mit Stolz auf große Arbeiterparteien mit einer langen eindrucksvollen Geschichte schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verweisen. Die deutsche Sozialdemokratie, die ab 1912 die stärkste der deutschen Parteien war, nahm unter ihnen einen Ehrenplatz ein. Aber selbst da, wo die Arbeiterparteien deutlich an Stärke gewonnen hatten, standen die Positiva aus der Bilanz ihres Erstarkens in den Augen vieler Militanter in keinem Verhältnis zu den Energien, die die Arbeiterklasse für sie aufgewandt hatte. Einige Dissidenten argumentierten, daß die zahlenmäßige Größe einer Partei nicht unbedingt Ausdruck wirklicher Fortschritte im Klassenkampf sei, der anscheinend einer übermäßigen Beschäftigung mit der inneren Parteiorganisation, der Wahlpropaganda und dem parlamentarischen Procedere geopfert worden war. Andere hatten den Eindruck, daß die Parteien ihres ursprünglichen revolutionären Schwungs und ihrer Absichten verlustig gegangen waren und sich der Stärkung und dem Ausbau ihrer Position im bestehenden gesellschaftspolitischen System zugewandt hatten, statt um eine tiefgreifende Veränderung zu ringen.

Es gibt eine Vielzahl von Beispielen für die zunehmende Ungeduld der radikalen Aktivisten in den Arbeiterparteien, die manchmal bis zum Bruch und zur Gründung syndikalistischer Organisationen führte. In Süditalien disqualifizierten Syndikalisten die Politik der sozialistischen Partei während der Vorkriegsära als »monarchistischen Reformismus«. Die Syndikalisten in Apulien »lehnten die Bürokratisierung und den Mangel an innerer Demokratie« in der Partei, »den parlamentarischen Weg zum Sozialismus und die Strategie der Kollaboration mit (Premierminister) Giovanni Giolitti, den die Apulier einen 'Mafia-Boß' nannten«, ab. [32] In Norwegen trat vor dem Krieg - zeitweise stark unterstützt von Bau- und Bergarbeitern - eine Oppositionsgruppe in Erscheinung, die die direkte Aktion befürwortete, und die, wie Sten Sparre Nilson schreibt, »die etablierten Führer der Arbeiter-Partei, deren geduldiges Bemühen, das Parlament und die kommunalen Körperschaften zu beeinflussen, als vielzu langwierig und ineffektiv angegriffen wurde« [33], ablehnte. Die völlig reformorientierte Labour Partei in Großbritannien war erst zu Beginn des Jahrhunderts gegründet worden. Obwohl sie sogar noch während der Arbeiterunruhen vor dem Ersten Weltkrieg allmählich weiter erstarkte, setzten viele Aktivisten viel mehr auf die Politik der bestehenden, sich zusammenschließenden und revolutionierenden Gewerkschaften als auf die parlamentarischen Aktivitäten der Labour Partei.

»Das älteste Mitglied des Redaktionsstabs konnte sich an Leute erinnern, die vor Jahren über eine Labour Partei redeten«, höhnte der militante Daily Herald im September 1913. Und im Hinblick auf den Beitrag von fünf Shilling für den bevorstehenden Parteitag fügte der Herald hinzu: »Kein Gewerkschaftler würde den Wert von sechzig Pence aus der Labour Partei herausschinden. Es wäre eine ausgesprochen schlechte Investition.« [34] Ungefähr zum selben Zeitpunkt verteidigte die SAC in Schweden, die der internationalen Verbreitung des Syndikalismus Beifall zollte, ihr auf den Gewerkschaften basierendes Prinzip der direkten Aktion, das die »zahnlosen, politischen, sozialdemokratischen, alten Marktweiber zugunsten ihres eigenen Schunds in Mißkredit zu bringen suchten«. [35] Man ging mit den bestehenden reformistischen Gewerkschaften, die häufig mit den Arbeiterparteien alliiert waren, wegen ihrer ineffizienten Vertretung von Arbeiterinteressen scharf ins Gericht. Unzufriedene Arbeiter beschuldigten sie wiederholt, den Wahlunternehmungen der Parteien offiziell oder inoffiziell das Placet zu geben und oft den Klassenkampf nicht direkt und vehement genug in ihrer Eigenschaft als Gewerkschaften zu betreiben und die Interessen der breiten Arbeitermassen hinter die organisierter Berufs- oder Gruppeninteressen zurückzustellen.

Kritiker führten ins Feld, daß sogar das eindrucksvolle zahlenmäßige Anwachsen, das einige Gewerkschaften vorzuweisen hatten, den Klassenkampf behinderte, wenn es mit einer Zunahme der von Verwaltungsmentalität und Vorsicht geprägten Funktionärsschicht und einer lähmenden Zentralisierung, die allen revolutionären Initiativen von unten entgegenarbeitete, einherging. Gemessen an Größe und administrativem Apparat waren die deutschen »Freien Gewerkschaften«, die mit der SPD verbündet waren, die erfolgreichsten in Europa. Zwischen 1902 und 1913 stieg ihre Mitgliederzahl um nahezu 350 Prozent, während ihr bürokratischer Apparat um 1900 Prozent anwuchs. Im selben Zeitraum wurden die »Freien Gewerkschaften« viel konservativer. [36]

Die unabhängig organisierte syndikalistische Organisation in Deutschland vor 1914, der stimmgewaltige Erzfeind der Freien Gewerkschaften, war verglichen mit ihrem sozialdemokratischen Rivalen ein Winzling. Eine ernstzunehmendere Bedrohung kam aus den eigenen Reihen. Vor dem Krieg wurden die kritischen Stimmen gegenüber der moderaten Funktionärsschicht lauter. Der Syndikalismus schien eine gangbare Alternative zur bürokratischen Unbeweglichkeit, die die Nachkriegskrise der deutschen Gewerkschaften kennzeichnete, aufzuzeigen.

Überall sahen sich die etablierten reformistischen Gewerkschaften mit ähnlichen Beschuldigungen konfrontiert. Ab der Jahrhundertwende wurden sie immer stärker verurteilt als stagnierend, von bürokratischer Trägheit behindert, verstrickt in die kurzfristigen Belange des »business unionism« - der von deutschen Kritikern als »Magenfrage« und von den amerikanischen Wobblies als »pork-chop unionism« verspottet wurde - und als zu feige, die sorgfältig aufgebauten Gewerkschaftsstrukturen oder die Gewerkschaftskassen aufs Spiel zu setzen.

Die neu entstandenen syndikalistischen Gewerkschaften machten hingegen oft aus ihrer losen Organisation und minimalen Struktur eine (zuweilen aus der Not geborene) Tugend, die die verkrusteten bürokratischen Strukturen und großen Kriegskassen als zutiefst konservativ ablehnte. In einigen Fällen wurde an den reformistischen Gewerkschaften kritisiert, daß sie sich aufgrund der Tarifverhandlungen zu stark mit den Unternehmern, aufgrund der Schlichtungsverfahren und des Wohlfahrtsgedankens zu stark mit dem Staat identifizierten. Andernorts wurden sie als unsensibel oder feindselig gegenüber anderen Auffassungen und den Initiativen der gewerkschaftlichen Basis und den Bedürfnissen der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter kritisiert. Obwohl die Syndikalisten der französischen CGT ihre ausländischen Schwesterorganisationen dazu drängten, die bestehenden reformistischen Gewerkschaften außerhalb Frankreichs zu revolutionieren, sahen viele Militante dieses Unterfangen als aussichtslos an. Ein bekannter belgischer Syndikalist, L. Wolter, erhob den Einwand, daß die Franzosen die Aufgabe der Agitation in den Reihen der großen, feindlichen deutschen und belgischen sozialdemokratischen Gewerkschaften, die die »Bildungsbedürfnisse« der Gewerkschaftler »hintertrieben« und die Gedankenfreiheit »systematisch erstickten« [37], nicht richtig einschätzen könnten. Überall traten die reformistischen Gewerkschaften Mitgliedern und Kritikern von außen entgegen, die versuchten, sie zu kühneren, militanteren Aktionen zu drängen. Solche Dissidenten begannen dafür zu plädieren, aus den Gewerkschaften auszutreten oder sie zu spalten, um eine couragiertere Politik durchzusetzen.

Die Unzufriedenheit an der gewerkschaftlichen Basis war jedoch offensichtlich nicht gleichbedeutend mit dem Syndikalismus, obwohl diese Gleichsetzung fälschlicherweise oft vorgenommen wird. Während der großen Arbeiterunruhen, die Großbritannien vor dem Krieg erschütterten, nahm die Presse beinahe jedes Aufbegehren von seiten der Gewerkschaftler gegen ihre Gewerkschaftsführer als einen Beweis für den Syndikalismus. Solche Konflikte waren aber sowohl in Großbritannien als auch anderswo tatsächlich eher ein Symptom für die weitverbreitete Radikalisierung der Arbeiter, die in Widerspruch zu den Sachzwängen der landläufigen Gewerkschaftsorganisation und -praxis geriet, als daß sie ganz einfach ein Beweis für den Syndikalismus gewesen wären. In vielen Fällen gelang es bestehenden Gewerkschaften, solche Unzufriedenheiten einzudämmen - und die Unruhestifter zu neutralisieren oder nur zu vertrösten -, ohne grundsätzlich die Organisation zu verändern; manchmal wurden bestehende Gewerkschaften auch dazu gebracht, syndikalistischen Prinzipien zuzustimmen; in anderen wiederum brach sich die Unzufriedenheit Bahn, und neue, revolutionäre Gewerkschaften wurden gegründet.

4. Der Generalstreik:

Bevor der Syndikalismus als ein internationales Phänomen entstand, mußte sein Programm der direkten Aktion als gangbare Alternative zu der in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Strategie von Wahlpolitik und reformistischer Gewerkschaftspolitik erkannt werden. Die Vorstellung einer kollektiven Arbeitsniederlegung als Waffe der arbeitenden Klasse kann bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden und wurde in Frankreich und England zur Zeit der französischen Revolution durchaus erwogen. Sie tauchte in Gestalt von William Benbows »National Holiday« in den Diskussionen der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erneut in England auf und wurde von den Chartisten befürwortet. Die Bakunisten auf dem Kontinent dachten später über eine kollektive Arbeitsniederlegung in Form eines »geheiligten Monats« nach. Aber praktisch möglich wurde der Generalstreik erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Um einen solchen Streik in ein wirkliches Kampfmittel zu verwandeln, waren zwei qualitative Veränderungen notwendig: Erstens mußte die Wirtschaft in ausreichendem Maße von der Lohnarbeit abhängig sein, das heißt, daß die moderne Arbeiterklasse zu einer unersetzlichen sozialen Kraft werden mußte und jeder langfristige von den Arbeitermassen durchgeführte Streik die Gesellschaftsordnung in ihrem Lebensnerv treffen mußte. Die Voraussetzung dafür war zweitens, daß die Arbeiter einen ausreichenden Grad an Organisation und Solidarität erreicht haben mußten, zumindest in den elementaren Sektoren der Wirtschaft, um eine weitverbreitete Arbeitsverweigerung spürbar zu machen. In den meisten entwickelten kapitalistischen Ländern war dieser Zeitpunkt zwischen 1870 und 1900 erreicht. [38] Nur diese Faktoren machten die Häufung von »Generalstreiks« und »politischen Streiks«, die mit wechselndem Erfolg in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, zum Beispiel in Belgien 1893 und 1902, in Schweden 1902 und 1909, in den Niederlanden 1903 und in Italien 1904, durchgeführt wurden, möglich und erklärbar. Die wichtige Rolle, die den Arbeitsniederlegungen während der Russischen Revolution 1905 zukam, ermutigte die Vertreter der direkten Aktion zusätzlich und goß Öl in das Feuer der Debatte über den Massenstreik in der europäischen Arbeiterbewegung.

5. Regionale und geographische Einflüsse:

Ein Blick auf den Syndikalismus als internationales Phänomen legt die Vermutung nahe, daß regionale Faktoren die Verbreitung seiner Positionen und Praktiken beeinflußten. Der Fall Frankreich illustriert den »Ausstrahlungseffekt«, durch den eine unter den Arbeitern an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Region vorherrschende Position manchmal entgegengesetzte Einflüsse überwindet und auch von solchen Arbeitergruppen übernommen wird, denen sie normalerweise fremd wäre. Die für die Lohnabhängigen in den kleinen Fabriken, die die Pariser Fabriklandschaft der Vorkriegszeit prägten, typische Nähe zum Syndikalismus förderte auch die syndikalistische Orientierung unter den Arbeitern in einer Reihe von Großbetrieben, während umgekehrt der Reformismus in Nordfrankreich so stark war, daß Arbeitergruppen, die typischerweise radikal waren, wie zum Beispiel Bauarbeiter, sich dort einen reformistischen Standpunkt zu eigen machten. H.B. Wiardi Beckman, der die französische Bewegung untersuchte, dachte an den Einfluß solcher Faktoren auf den Radikalismus, als er bemerkte, daß »die ganze wirtschaftliche Umgebung, in der der Arbeiter lebt, dazu beiträgt, die Richtung seiner Gedanken zu bestimmen«. [39]

Abgesehen von diesem »Ausstrahlungseffekt« spielten auch regionale Widersprüche eine Rolle. So wirkten die Arbeitsbedingungen im rauhen kanadischen und amerikanischen Westen - wo die Ausbeutung greifbarer, die Unternehmer rücksichtsloser und die Allianz zwischen Regierung und Kapital klarer erkennbar als irgendwo sonst waren - radikalisierend auf die Arbeiter und trieben einen Keil zwischen sie und die reformbedachten, an gelernten Arbeitern orientierten Gewerschaftsbewegungen im Osten, deren Führer bestenfalls die Arbeitsbedingungen der Arbeiter im Westen nicht kannten, unsensibel oder gleichgültig gegenüber deren Nöten und Bedürfnissen und schlimmstenfalls feindselig gegenüber deren Intitiativen waren. Die Geburt der im kanadischen Westen ansässigen OBU ist sicherlich zu einem Großteil auf regionale Widersprüche zurückzuführen, und ihre Pioniere sahen in ihrer Distanz zu den älteren Gewerkschaften im Osten sogar einen gewissen Vorteil. Das One Big Union Bulletin stellte im Mai 1919 fest, daß die Arbeiter im Westen die Führung in den revolutionären Gewerkschaften übernehmen würden, weil sie »nicht so stark wie unsere Brüder im Osten durch das Funktionärswesen behindert« seien. [40] In den USA zogen die Bemühungen der »Western Federation of Miners« und ihrer Nachfolgeorganisation, der »American Labor Union«, die lange von der im Osten ansässigen Gewerkschaftsbewegung vernachlässigten Arbeiter zusammenzuschließen, feindselige Angriffe der »American Federation of Labor« (AFL) auf sich, noch bevor die IWW als Erbin des Radikalismus im amerikanischen Westen und als Gegenspielerin der AFL gegründet wurde. In Italien hatten sich die zunehmend gemäßigte Sozialistische Partei und die in der »Confederazione Generale del Lavoro« (CGL) zusammengeschlossenen reformistischen Gewerkschaften auf Minimalzugeständnisse für die Arbeiter im Norden konzentriert. Die systematische Vernachlässigung des agrarischen Südens entfremdete die Militanten im Süden der Partei, die in ihren Augen das revolutionäre Ziel aufgegeben und die Arbeiter im Süden im Stich gelassen hatte. Für sie »war die Partei nicht zu einem Mittel tiefgreifenden Wandels geworden, sondern ein Interessenverband, der zugunsten der Elite der Arbeiterklasse im Norden Konzessionen erwarb«. [41] Die süditalienischen Gewerkschaftler schlossen sich mit ihren Organisationen eher der syndikalistischen USI als der reformistischen CGL als Dachverband an.

Der relative Erfolg, den die syndikalistischen Bewegungen verzeichnen konnten, war zumindest teilweise auf das Stadium zurückzuführen, das der Klassenkampf allgemein erreicht hatte. Ihre Sprecher und Aktivisten verstanden den Syndikalismus - den »syndicalisme révolutionnaire«, wie er in dem Land genannt wurde, aus dem der Begriff kommt - als eine revolutionäre Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Geschichte legt aber die Vermutung nahe, daß die revolutionären Bewegungen im Vergleich zu ihren reformistischen Gegenspielerinnen in Zeiten relativer Stabilität ziemlich klein blieben. Dementsprechend bleiben die rein syndikalistisch organisierten Arbeiter in nicht revolutionären Situationen eine Minorität unter den organisierten Arbeitern insgesamt. Die syndikalistischen Bewegungen können die Hegemonie in der Arbeiterklasse nur erreichen, wenn eine revolutionäre Situation besteht. Daraus wiederum folgt unter anderem die Analyse der französischen CGT von vor 1914 als einer nicht rein revolutionären Bewegung. Es sieht so aus, als ob das Programm der CGT zum Beispiel wenig mit dem Alltag der meisten ihrer Mitglieder zu tun hatte, genauso wenig, wie das revolutionäre Erfurter Programm die tägliche Praxis der deutschen Sozialdemokraten widerspiegelte. Bei dieser Lesart wird klar, wie sich die CGT nach dem fehlgeschlagenen Streik für den Acht-Stunden-Tag 1906 trotz ihrer revolutionären Rhetorik immer stärker an eine reformistische Praxis annähern konnte und nur wenige Jahre später bereitwillig mit ihren bürgerlichen Kontrahenten und dem Staat in der »Union Sacrée« paktieren konnte. Mehrere Autoren ziehen diesen Schluß in bezug auf die französische Bewegung. [42]

Das Bild, das der Syndikalismus in Ländern bot, wo er sich in nicht-revolutionären Zeitabschnitten gegen andere Gewerkschaften behaupten mußte, bestätigt diese Auffassung. So betrug die Mitgliederzahl der IWW nie mehr als nur einen Bruchteil derjenigen der AFL, was auch für die deutsche FAUD gegenüber den »Freien Gewerkschaften« zutrifft; zu seiner Blütezeit 1920 erreichte die Mitgliederzahl des NAS nur ein Fünftel der des sozialdemokratischen »Nederlandsch Verband von Vakvereenigingen«, außerdem gab es in den Niederlanden auch große christliche Gewerkschaften. In Schweden hatte die SAC 1924 auf dem Zenit ihres Einflusses nur ein Zehntel der Mitgliederstärke der sozialdemokratischen »Landsorganisation« (LO) aufzuweisen. Die Tatsache, daß die revolutionäre »Casa« in Mexiko zwischen 1914 und 1916 die absolute Vorherrschaft in der Arbeiterklasse innehatte und daß die CNT in den 30er Jahren mit den mit den Sozialisten liierten Gewerkschaften in Spanien gleichgezogen hatte, bestätigt ebenfalls diese Annahme, da beide Situationen eindeutig revolutionäre waren.

Warum sank der Stern des Syndikalismus? Eine der entscheidenden und unmittelbaren Ursachen für den Niedergang syndikalistischer Bewegungen war die staatliche Repression. Autoritäre westliche Regierungen zerschlugen fünf der hier diskutierten Bewegungen (in Italien, Portugal, Deutschland, Spanien und den Niederlanden) - genauso wie die bolschewistische Regierung bereits die russische Bewegung zerstört hatte. Zwei andere Bewegungen (in den USA und in Mexiko) wurden durch die staatliche Verfolgung sehr geschwächt. Das erklärt allerdings nicht hinreichend das andauernde Fehlen bedeutender syndikalistischer Bewegungen in diesen Ländern. Warum waren die Erben der CNT unfähig, den verlorenen Boden in den späten 70er Jahren nach dem Ende der Franco-Diktatur zurückzuerobern? Offensichtlich gibt es dafür noch grundsätzlichere und tieferliegende Gründe.

Eine gründlichere Erklärung für das Verschwinden des Syndikalismus als Massenbewegung muß nicht einfach nur temporäre Faktoren wie staatliche Repression, sondern auch Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ins Auge fassen. Offensichtlich vollzogen sich die Revolutionen des 20. Jahrhunderts immer in vorindustriellen Ländern oder in solchen auf dem Weg zur Industrialisierung, aber niemals in vollständig entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Man mag das als Zufall abtun, aber das fast planmäßige Ausbleiben von Revolutionen der Arbeiterklasse von unten läßt eine strukturelle Ursache vermuten. Einige Wissenschaftler vertreten die Ansicht, daß die Entwicklung der Sozialleistungen seitens des interventionistischen Staates dafür der Hauptgrund ist, oder, wie Richard Löwenthal es ausdrückt, das »(...) enorme(n) Anwachsen der Bedeutung der Funktionen und deshalb des Funktionierens, der staatlichen Verwaltung für das tägliche Leben des Menschen«. [43]

Neben dem Wohlfahrtsstaat sind die integrativen Auswirkungen der entwickelten kapitalistischen Beziehungen zwischen Produktion und Konsumption (manchmal fälschlicherweise als »fordistisch« bezeichnet) zu beachten. Sie führen dazu, daß Arbeiterfamilien nicht nur produzieren und ihre Arbeitskraft reproduzieren, um sie zu verkaufen, sondern gleichzeitig als Personen des individualisierten Massenkonsums handeln, indem sie viele Konsumgüter, die sie produzieren, innerhalb eines Systems erwerben, das es dem Kapital ermöglicht, zu expandieren, und den Arbeitern, ihren materiellen Lebensstandard zu verbessern.

Das Aufkommen des Wohlfahrtsstaates und die Gegebenheiten einer langfristigen Integration der Arbeiter in die entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften ließen den syndikalistischen Bewegungen, die nicht schon durch staatliche Repression zerschlagen worden waren, nur drei Optionen, von denen jede letztlich tödliche Folgen haben mußte. Eine Bewegung konnte:

1. an ihren Prinzipien festhalten - in diesem Fall würde sie unweigerlich vollkommen marginalisiert werden,

2. ihren Kurs völlig verändern und sich den neuen Bedingungen anpassen - in diesem Fall würde sie ihre syndikalistischen Prinzipien aufgeben müssen; oder

3. wenn diese beiden Alternativen ausschieden, sich auflösen, oder, was dem gleichkommt, in einer nicht-syndikalistischen Gewerkschaft aufgehen.

Die IWW, die bis jetzt überlebt hat, optierte für die erste Alternative. Die französische CGT, die sowieso nie ganz revolutionär gewesen war, entschied sich für die zweite. Andere Bewegungen votierten früher oder später für die dritte.

Der Fall der schwedischen SAC ist in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Die SAC entschloß sich anfänglich für die erste Alternative, aber als sie total marginalisiert zu werden drohte, veränderte sie ihren Kurs und wählte die zweite. Ab Anfang der 30er Jahre wurde Arbeitslosenunterstützung in Schweden von den Gewerkschaften aus Sonderfonds gezahlt, die der Staat mit großen Beiträgen unterstützte. Die SAC verweigerte zunächst ihre Beteiligung an diesem Programm, aber eine steigende Anzahl von Mitgliedern wanderte ab zur sozialdemokratischen LO. Als die SAC sich einem Schrumpfungsprozeß ausgesetzt sah, verbreitete sich allmählich in den Reihen ihrer Mitglieder die Ansicht, daß ihr Überleben von der Einrichtung eines eigenen Versicherungsfonds abhängig war.

»Ein Antrag in diesem Sinne wurde auf dem Kongreß der SAC 1942 angenommen und eine gründliche Untersuchung der Angelegenheit eingeleitet. Bei den sozialdemokratischen Behörden fand man größeres Entgegenkommen, als man erwartet hatte. Verhandlungen ergaben, daß die SAC nicht nur das Recht erhalten sollte, eine eigene Versicherungskasse mit dem üblichen Staatsbetrag zu gründen - normalerweise ca. 55 % -, sondern auch, daß man bereit war, eine besondere Subvention als Startkapital zu bewilligen. Dieses Grundkapital wurde auf 337 720 Kronen festgesetzt, was für eine kleine Organisation wie die SAC eine bedeutende Summe war. Zur Sache gehört, daß die größeren Verbände der sozialdemokratischen LO ihre Kassen gewöhnlich mit eigenem Grundkapital aufbauten.« Nach einigem Zögern entschied die SAC sich, das Angebot anzunehmen. »Die SAC, deren Mitgliederzahlen zwanzig Jahre lang abgenommen hatte, wurde unter diesen Verhältnissen eine langsam wachsende Organisation.« [44]

Man kann sich schwer ein treffenderes Beispiel für die Integrationskraft des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates vorstellen. Das Problem der Tarifverträge ließ schon die Schwierigkeit, syndikalistische Prinzipien in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zu wahren, ahnen. Viele Organisationen innerhalb der internationalen syndikalistischen Bewegung lehnten zuerst Tarifverträge mit den Unternehmern ab, weil durch die mit solchen Verträgen einhergehende Mitverantwortung für die Arbeitsdisziplin der Bürokratismus in den Gewerkschaften ausgeweitet, der revolutionäre Geist unterminiert und die Aktionsfreiheit der Arbeiter, die sie sich immer gegen den Klassenfeind erhalten sollte, eingeschränkt würden. Viele Arbeiter jedoch gaben diese Position, manchmal nach einer Phase voller Mißtrauen und Ablehnung, sehr schnell auf. Schon in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts zeigte sich, daß die syndikalistischen Gewerkschaften Tarifverträge akzeptieren mußten, wenn sie ihre großen Mitgliederzahlen erhalten oder sich mehr Zulauf verschaffen wollten. Das niederländische NAS entschloß sich 1909 widerwillig, dieses Prinzip zu akzeptieren. Die schwedische SAC willigte 1929 in Tarifverträge ein. Die argentinische FORA und die kanadische OBU sprachen sich von Anfang an für Tarifverträge aus.

Die hier vorgestellte Analyse geht davon aus, daß der Niedergang der syndikalistischen Massenbewegungen nicht notwendig endgültig sein muß. Obwohl Gesellschaften mit entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften und ausgedehnten sozialen Netzen mit Erfolg Arbeiterunruhen entschärft und kanalisiert und Arbeiter integriert haben, können die Prinzipien der direkten Aktion in anderen Gesellschaften für bestimmte Teile der Arbeiterklasse immer noch recht attraktiv sein. Der Aufstieg von Solidarnosc in Polen 1980/81 ist ein hervorragender Beweis für die fortbestehende Anziehungskraft der direkten Aktion auf eine große Anzahl systemkritischer Arbeiter. Obwohl Solidarnosc nicht als syndikalistisch im engen Sinn des Begriffs gelten kann, wurden in dieser Gewerkschaft dennoch viele Grundgedanken und Praktiken des »klassischen« Syndikalismus wiederbelebt.

Aus dem Englischen übersetzt von Irmgard Schrand


Fußnoten:

[*] Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Fassung der Einleitung zu dem von Marcel van der Linden und Wayne Torpe herausgegebenen Band »Revolutionary Syndicalism. An International Perspective«, der Ende 1990 bei Scolar Press, Aldershot (Großbritannien) erscheinen wird.

[1] Die revolutionären Bewegungen mit ihrem Konzept der direkten Aktion, die in diesem Aufsatz diskutiert werden, können unterschiedlich als »revolutionärer Industrialismus«, »revolutionäre Gewerkschaftsbewegung«, »Anarchosyndikalismus«, »Rätebewegung« oder sogar als »one big unionism« bezeichnet werden, wobei wir uns im klaren darüber sind, daß »revolutionärer Syndikalismus« zuweilen eine dieser Bezeichnungen meint. Im Gegensatz dazu dient der Terminus »Syndikalismus« manchmal dazu, alle revolutionären Organisationen, die das Konzept der direkten Aktion vertreten, zusammenzufassen. In diesem Sinne wird er hier verwendet.

[2] Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zu diesen syndikalistischen Bewegungen und Organisationen. Zu den besten bislang veröffentlichten gehören folgende:
Niederlande: Erik Hansen/Peter A. Prosper Jr., The Nationaal Arbeids-Secretariaat. Revolutionary Syndicalism in the Netherlands, 1892-1914, in: Societas: A Review of Social History, Vol. VII, No. 2 (Frühling 1977), und »The Nationaal Arbeids-Secretariaat between the Wars. Revolutionary Syndicalism in the Netherlands, 1919-1940«, in: Histoire Sociale/Social History, No. 27, Mai 1981.
Frankreich: Jacques Julliard, Fernand Pelloutier et les origines du syndicalisme d'action directe, Paris 1971; F.F. Ridley, Revolutionary Syndicalism in France, Cambridge 1970; Peter Stearns, Revolutionary Syndicalism and French Labor: A Cause without Rebels, New Brunswick 1971; und Barbara Mitchell, The Practical Revolutionaries. A New Interpretation of the French Anarchosyndicalists, New York 1987.
USA: Melvyn Dubofsky, We Shall Be All: A History of the Industrial Workers of the World, second ed., Urbana/Chicago 1988; Joseph R. Conlin, Bread and Roses Too: Studies of the Wobblies, Westport 1970; Joseph R. Collins, ed., At the Point of Production: The Local History of the IWW, Westport 1981.
Schweden: Lennart K. Persson, Syndikalismen i Sverige 1903-1923, Stockholm 1975.
Großbritannien: Bob Holton, British Syndicalism, 1900-1915, London 1975.
Spanien: Xavier Caudrat, Socialismo y anarquismo in Cataluña. 1899-1911: Los origines de la CNT, Madrid 1976; Antonio Bar, La CNT en los años rojos: Del sindicalismo revolucionario al anarcosindicalismo, 1910-1926, Madrid, 1981; Gerald H. Meaker, The Revolutionary Left in Spain, 1914-1923, Stanford 1974; John Brademas, Anarcosindicalismo y revolución en España, 1930-1937, Barcelona 1974; und Antonio Elorza, La utopia anarquista bajo la Segunda Republica, Madrid 1974.
Italien: Andreina Di Clementi, Politica e società nel sindicalismo rivoluzionario in Italia e la lotta politica nel partito socialista dell' età giolittiana, Bari 1976; und Armando Borghi, Mezzo secolo di anarchia, 1890-1945, Napoli 1954.
Argentinien: Iaacov Oved, El anarquismo y el movemiento obrero en Argentina, Mexiko 1978; Ruth Thompson, The Limitations of Ideology in the Early Argentine Labour Movement: Anarchism in the Trade Unions, 1890-1920, in: Journal of Latin American Studies, No. 16, 1984.
Mexiko: John M. Hart, Anarchism and the Mexican Working Class, 1860-1931, Austin 1978.
Kanada: David J. Bercuson, Fools and Wise Men: The Rise and Fall of the One Big Union, Toronto 1978.
Portugal: Peter Merten, Anarchismus und Arbeiterkampf in Portugal, Hamburg 1980; Edgar Rodrigues, Os Anarquistas e os Sindicatos: Portugal, 1911-22, Lissabon 1981; und Edgar Rodrigues, A Resistência anarco-sindicalista à Ditadura, 1922-1939, Lissabon 1981.
Deutschland: Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung, Berlin 1985; und Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus 1918 bis 1923. Zur Geschichte und Soziologie der FAUD(S), der AAUD und der KAPD, Meisenheim/Glan 1969.

[3] Zu den Akronymen siehe die Tabelle auf Seite 14f.

[4] Industrial Worker, 9. Januar 1913.

[5] L'Humanité, 1. September 1909.

[6] Melvyn Dubofsky, We Shall Be All (Anm. 2), S. 135.

[7] International Socialist Review, Oktober 1909, S. 360.

[8] Das Auftreten des Syndikalismus könnte auch mit einem anderen Konzept in Verbindung gebracht werden, das von Ökonomen und Historikern vertreten wird: der Theorie langfristiger Konjunkturwellen, die meistens mit dem Namen N.D. Kondratieff verbunden ist, einem russischen Wirtschaftswissenschaftler der 20er Jahre. In den frühen 70er Jahren erwachte das Interesse an dem Erklärungsansatz und Vorhersagepotential der Theorie langfristiger Konjunkturwellen erneut, die ein periodisch auftretendes (aber nicht repetitives) Muster kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung, gekennzeichnet durch Phasen von Expansion und Stagnation, postuliert. Durch Höhen und Tiefen aufgeteilt, müssen die Zeiträume, in denen die Wellenbewegungen ablaufen, nicht gleich lang sein, aber die Theorie geht davon aus, daß jede Welle ungefähr 50 Jahre dauert. Die Datierung der Konjunkturwellen variiert, aber gewöhnlich setzt man die erste Kondratieff-Welle von 1790-1848 an (wobei die Abwärtsbewegung um 1810-1817 einsetzt), die zweite von 1848-1894 (1866-1875), die dritte von 1894-1945 (1913-1920), und die vierte beginnt 1945 (1967-1974). Obwohl sie nicht explizit von der Absicht geleitet wurden, das Auftreten des Syndikalismus zu erklären, haben einige Autoren wie James E. Cronin (Stages, Cycles, and Insurgencies: The Economics of Unrest, in: Terence K. Hopkins/Immanuel Wallerstein (eds.), Processes of the World-System, Beverly Hills/London 1980), Ernest Mandel (Long Waves of Capitalist Development. The Marxist Interpretation, Cambridge/Paris 1980) und Ernesto Screpanti (Long Economic Cycles and Recurring Proletarian Insurgencies, Review 7, 1984) versucht, Beispiele für Unruhe und Militanz bei Arbeitern mit den langfristigen Konjunkturwellen in Verbindung zu bringen. Es wäre unangebracht, hier eine Diskussion über langfristige Konjunkturwellen anzustrengen, da diese Fragen unser unmittelbares Interesse weit übersteigen und unsere Analyse sich nicht auf die Kondratieff-Wellen stützt. Wir merken hier nur an, daß die Phase des Aufstiegs und Niedergangs der syndikalistischen Bewegung klar in die »dritte Kondratieff-Welle« fiel.

[9] Zu Streiks und Streikmustern siehe Heinz-Gerhard Haupt u.a., Der politische Streik - Geschichte und Theorie, Jahrbuch Arbeiterbewegung 1981; Friedhelm Boll, Streikwellen im europäischen Vergleich, in: Wolfgang J. Mommsen/Hans Gerhard Husung (Hg.), Auf dem Weg zur Massengewerkschaft. Die Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland und Großbritannien 1880-1914, Stuttgart 1984; Ernesto Screpanti, Long Cycles in Strike Activity: An Empirical Investigation, British Journal of Industrial Relations XXV, 1987; und die Streikdaten in: Flemming Mikkelsen, Workers and Industrialization in Scandinavia, 1750-1940, in: Michael Hanagan/Charles Stephenson (eds.), Proletarians and Protest: The Roots of Class Formation in an Industrializing World, New York/Westport/London 1986.

[10] Ernesto Screpanti, Long Cycles in Strike Activity (Anm. 9), S. 107. Screpanti ist der Ansicht, daß diese größeren Aufstände nicht zufällig alle in die Abwärtsbewegung der Kondratieff-Zyklen fallen. Screpanti sagt, daß »die Spannung, die durch Wachstum erzeugt wird, unterdrückt werden kann, sich aber langfristig gesehen anstaut; sie macht sich dann periodisch entweder als direkte Folge starker Kompression, wie in einem Diesel-Motor, oder als Antwort auf einen äußeren Funken, wie in einem normalen Verbrennungsmotor, Luft« (S. 110). Wie eng die Militanz der Arbeiter mit besonderen Phasen in Kondratieffs Wellen in Verbindung gebracht werden kann (falls überhaupt), ist umstritten und muß uns hier nicht beschäftigen. Aber Screpanti schreibt woanders (Long Economic Cycles) über allgemeine Phänomene in größeren Aufstandswellen: Ihr proletarischer Charakter, ihre Autonomie, ihre häufig revolutionäre Natur seien bemerkenswert. Solches Aufbegehren, ob um 1870, um den Ersten Weltkrieg oder Ende der sechziger Jahre, impliziert nach Screpanti »eine Schwächung des politischen Zugriffs der traditionellen Institutionen der Arbeiterbewegung auf das Verhalten der Arbeiterklasse. Unter sozialem Aspekt führt die Weigerung der Arbeiter, institutionelle Vermittlung anzunehmen, und das Herausfiltern ihrer eigenen Interessen und Ziele dazu, daß die Basis als der politische Protagonist auftritt und die etablierten Gruppen der Gewerkschafts- und Parteiführer von den Arbeitern und ihren Massenorganisationen als Entscheidungsträger im Kampf übergangen werden« (S. 512). Das Aufkommen einer besonderen syndikalistischen Bewegung stimmt sicher mit diesen Charakteristika überein.

[11] Zu immer ausgeprägteren und homogeneren Arbeitervierteln in Europa siehe: James E. Cronin, Labour Insurgency and Class Formation: Comparative Perspectives on the Crisis of 1917 - 1920 in Europe, in: James E. Cronin/Carmen Sirianni (eds.), Work, Community, and Power: The Experience of Work in Europe and Latin America, 1900-1925, Philadelphia 1983; und in Argentinien: Guy Bourdé, Urbanisation et immigration en Amérique Latine: Buenos Aires (XIXe et XX siècles), Paris 1974. Zu den stagnierenden Reallöhnen vor 1914 siehe die europäischen Daten in: Otto Bauer, Die Teuerung (Ein Bericht für den internationalen sozialistischen Kongreß in Wien, 23. bis 29. August 1914), in: George Haupt, Der Kongreß fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914, Wien 1967; die mexikanischen Daten in: F. Rosenzweig, El desarollo económico de México: 1877 a 1911, in: El Trimestre Económico 23, 1965; und die argentinischen Daten in: Guy Bourdé, Urbanisation et immigration en Amérique Latine.

[12] David I. Kertzer, Family Life in Central Italy, 1880-1910. Sharecropping, Wage Labor and Coresidence, New Brunswick/New Jersey 1984; Frank M. Snowden, Violence and Great Estates in the South of Italy. Apulia, 1900-1920, Cambridge 1986; Thomas R. Sykes, Revolutionary Syndicalism in the Italian Labor Movement: The Agrarian Strikes of 1907-08 in the Province of Parma, International Review of Social History XXI, 1976; José Cutileiro, Ricos e Pobres no Alentejo. Uma Sociedade Rural Portuguesa, Lissabon 1977; José Pacheco Pereira, As lutas sociais dos trabalhadores alentejanos: do banditismo à greve, Análise Social, no. 61-62, 1980; Edward E. Malefakis, Agrarian Reform and Peasant Revolution in Spain. Origins of the Civil War, New Haven/London 1970; Philip Taft, The I.W.W. in the Grain Belt, Labor History 1, 1960; Laura L. Frader, Paysannerie et syndicalisme révolutionnaire. Les ouvriers viticoles de Coursan (1850-1914), Cahiers d'histoire de l'Institut Maurice Thorez, neue Reihe, Nr. 28, 1978.

[13] 0yvind Björnson, Kollektiv aksjon blant typografar og malarar i Trondheim 1880-1918, Tidsskrift for Arbeiderbevegelsens Historie, no. 2, 1980; Wolfgang Renzsch, Handwerker und Lohnarbeiter in der frühen Arbeiterbewegung. Zur sozialen Basis von Gewerkschaften und Sozialdemokratie im Reichsgründungsjahrzehnt, Göttingen 1980; Richard Price, Masters, Unions and Men. Work Control in Building and the Rise of Labour 1830-1914, Cambridge 1980; Robert Max Jackson, The Formation of Craft Labor Markets, Orlando 1984.

[14] Gordon Phillips/Noel Whiteside, Casual Labour. The Unemployment Question in the Port Transport Industry 1880-1970, Oxford 1985, S. 2.

[15] Charles B. Barnes, The Longshoremen, New York 1915; H.A. Mess, Casual Labour at the Docks, London 1916; John Lovell, Stevedores and Dockers. A Study of Trade Unionism in the Port of London, London 1969; Michael Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886-1914, Göttingen 1984; Gertjan de Groot, »Door slapte gedaan gekregen«. Losse arbeiders en hun gezinnen in Amsterdam tussen 1880 en 1920, Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis 14, 1988.

[16] Gaswerker zum Beispiel. Siehe Eric Hobsbawm, British Gas-Workers 1873-1914, in: Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1964; Guiseppe Paletta/Giorgio Perego, Organizzazione operaia e innovazione tecnologiche. La Lega gasisti di Milano 1900-1915, Annali Istituto Giangiacomo Feltrinelli XXII, 1982.

[17] H.A. Mess, Casual Labour at the Docks (Anm. 15), S. 123.

[18] Diese Feststellung muß im Hinblick auf landwirtschaftliche Gelegenheitsarbeiter modifiziert werden. Ihr meist vollständiger Mangel an finanziellen Reserven machte es für die Tagelöhner schwer, in einem Streik, der während ihrer Hauptverdienstphase stattfand, standhaft zu bleiben, während die saisonbedingte Arbeitslosigkeit schon drohte. »Im Gegensatz zu einem Industriestreik«, sagt Edward. E. Malefakis in seiner Forschungsarbeit zu spanischen Bauern, »bedeutet ein Erntestreik nicht nur Hunger für ein paar Tage oder Wochen, sondern möglicherweise das Verhungern im Laufe des Jahres.« Aber trotzdem waren die Unternehmer genau dann, wenn die landlosen Bauern das meiste aufs Spiel setzten, am verwundbarsten. Während der Ernte »erreichte der Streik dann plötzlich eine fürchterliche Kraft« (Agrarian Reform and Peasant Revolution [Anm. 12], S. 108). Frank M. Snowden kommentiert ein italienisches Beispiel: »In der Panik einer totalen Konfrontation, wo die Profite eines ganzen Jahres in Gefahr waren, fanden sich die Landbesitzer in Apulien auf die beiden starren Alternativen reduziert, entweder zu kapitulieren oder physische Gewalt anzuwenden. Beide Reaktionen radikalisierten die Arbeiterbewegung weiter« (Violence and Great Estates [Anm. 12], S. 99f.).

[19] U.S. Immigration Commission, Abstracts of Reports of the Immigration Commission, 2 vols., Washington 1911, 1:495.

[20] Industrial Syndicalist, Mai 1911.

[21] Melvyn Dubofsky, We Shall Be All (Anm. 2), S. 27. Siehe auch Wolfhard Weber, Der Arbeitsplatz in einem expandierenden Wirtschaftszweig: Der Bergmann, in: Jürgen Reulecke/Wolfhard Weber (Hg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978; und Keith Dix, Work Relation in the Coal Industry: The Handloading Era, 1880-1930, in: Andrew Zimbalist (ed.), Case Studies on the Labor Process, New York/London 1979.

[22] Sanford M. Jacoby, Employing Bureaucracy. Managers, Unions, and the Transformation of Work in American Industry, 1900-1945, New York 1985, ch. 1.

[23] Paul H. Douglas, American Apprenticeship and Industrial Education, New York 1921, S. 124.

[24] Eric Hobsbawm, Custom, Wages and Work-Load, in: Labouring Men (Anm. 16), S. 360. Man hat eingewandt, daß die Metallarbeiter in Petrograd der Entwertung der Facharbeit relativ gleichgültig gegenüberstanden und daß ihr Radikalismus mit anderen Faktoren erklärt werden müsse. Siehe S.A. Smith, Red Petrograd. Revolution in the Factories 1917-1918, Cambridge 1983.

[25] Zum Verschwinden der betriebsinternen Verträge, neuen Mangementtechniken und der Bürokratisierung der Produktion siehe: Katherine Stone, The Origine of Job Structures in the Steel Industry, Review of Radical Political Economics VI-2, Sommer 1974; Michael P. Hanagan, The Logic of Solidarity: Artisans and Industrial Workers in Three French Towns, 1871-1914, Urbana 1980; Craig R. Littler, The Development of the Labour Process in Capitalist Societies. A Comparative Study of the Transformation of Work Organization in Britain, Japan and the USA, London 1982; und William H. Lazonick, Technological Changes and the Control of Work: The Development of Capital-Labour Relations in US Mass Production Industries, in: Howard F. Gospel/Craig R. Littler (eds.), Managerial Strategies and Industrial Relations: A Historical and Comparative Study, London 1983. Arthur L. Stinchcombe bietet eine Erklärung dafür, warum sich in bestimmten Sektoren (wie in der Bauwirtschaft) die alten Strukturen nicht veränderten, in: Bureaucratic and Craft Administration of Production, Administrative Science Quarterly IV, 1959.

[26] Craig R. Littler, Development of the Labour Process (Anm. 25), S. 79 und 96.

[27] U.S. Bureau of the Census, Historical Statistics of the United States (Colonial Times to 1970, part 1), Washington 1975, S. 142f.

[28] William H. Lazonick, Technological Change and the Control of Work (Anm. 25), S. 111f., 126.

[29] Flemming Mikkelsen, Workers and Industrialization in Scandinavia (Anm. 9), S. 47.

[30] Michael P. Hanagan, Logic of Solidarity (Anm. 25), S. 3.

[31] Klaus Zapka, Politisch-ökonomische Entwicklungs- und Durchsetzungsbedingungen des Tarifvertragssystems, Frankfurt/Main 1983; Colin Crouch, Trade Unions: The Logic of Collective Action, Isle of Man 1982.

[32] Frank M. Snowden, Violence and Great Estates (Anm. 12), S. 95.

[33] Sten Sparre Nilson, Labour Insurgency in Norway: The Crisis of 1917-1920, Social Science History 5, 1981, S. 410.

[34] Daily Herald, 27. September 1913.

[35] Syndikalisten, 8. November 1913.

[36] Die Zahlen stammen aus: Gary Steenson, »Not One Man! Non One Penny!« German Social Democracy, 1863-1914, Pittsburgh 1981, S. 96. Siehe auch Klaus Schönhoven, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980, S. 221-60. Als ein Beispiel für zeitgenössische Kritik an der den Konservatismus fördernden Ausweitung der Gewerkschaftsbürokratie in Deutschland siehe Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1906.

[37] La Vie Ouvrière, 5. April 1913.

[38] Heinz-Gerhard Haupt u.a., Der politische Streik - Geschichte und Theorie (Anm. 9).

[39] H.B. Wiardi Beckman, Het Syndicalisme in Frankrijk, Amsterdam 1931, S. 18.

[40] Zitiert in Gerald Friesen, »Yours in Revolt«: The Socialist Party of Canada and the Western Canadian Labour Movement, Labour/Le Travailleur, 1, 1976, S. 148.

[41] Frank M. Snowden, Violence and Great Estates (Anm. 12), S. 94.

[42] Das Problem der revolutionären Glaubwürdigkeit der Vorkriegs-CNT ist sehr akzentuiert, aber möglicherweise zu nachdrücklich von Peter Stearns beleuchtet worden, in: Peter Stearns, Revolutionary Syndicalism and French Labor, New Brunswick/New Jersey 1971; der Fall ist von Mitchell zwar provokativ, aber nicht ganz überzeugend noch einmal reflektiert worden: Mitchell, The Practical Revolutionaries.

[43] Richard Löwenthal, Vom Ausbleiben der Revolution in den Industriegesellschaften, in: Historische Zeitschrift, Bd. 232 (1981), S. 22.

[44] Evert Arvidsson, Der Freiheitliche Syndikalismus im Wohlfahrtsstaat, Darmstadt 1960, S. 21f.


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