Thekla 9 - 1987 - S. 5-19 [t09vorwo.htm]


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Vorwort zur Neuherausgabe einer überarbeiteten Übersetzung von Mario Tronti: Marx, Arbeitskraft, Arbeiterklasse. Erste Thesen (1965), als TheKla 9 (1987, vergriffen)[*]

Vorwort zu dieser Ausgabe

1962 blockieren in Turin 70 000 FIAT-Arbeiter die Produktion. Der FIAT-Chef Valletta antwortet mit Aussperrung und unterschreibt einen Tarifvertrag mit der damaligen gelben Gewerkschaft UIL. Die Arbeiter ziehen zur Piazza Statuto und verwüsten den Sitz der Streikbrechergewerkschaft.

Piazza Statuto 1962 ist im Vergleich zum Aufstand gegen die Tambroni-Regierung vom Juli 1960 eigentlich eine bescheidene Episode, weil sie nur lokal und mehr proletarisch als eine Sache des ganzen Volkes ist; aber es gibt auch einen qualitativen Unterschied. Die Kämpfe von 1943/44 und größtenteils auch die von 1948 und 1960 fanden im Rahmen antifaschistischer Volksbewegungen statt, die der italienische Kapitalismus zu seiner Modernisierung benutzte. Mit der bescheidenen Episode von Piazza Statuto beginnt die Geschichte des heutigen Proletariats. Die Protagonisten sind nicht mehr die alten Arbeiter des Befreiungskriegs, die durch die Repression Vallettas und Scelbas in den Jahren 1953 und 1960 geschlagen und versprengt wurden, sondern es sind die jungen Arbeiter, die aus dem Süden kommen und die jungen Ex-Bauern aus den piemontesischen Tälern. Und der Ort des ersten Aufeinanderpralls konnte kein anderer als FIAT sein, die größte, modernste und am meisten automatisierte Fabrik Italiens.

Wir müssen kurz betrachten, was bei FIAT in jenen Jahren geschehen war. Zwischen 1953 und 1960 ist die Arbeiterklasse der ganzen Turiner Zone geschlagen worden: mit einem wahrhaftigen Terrorregime im Innern der Fabrik wurden Lohnforderungen unterdrückt und kommunistische Arbeiter und FIOM-Kader entlassen. FIAT rekrutierte aus ehemaligen Carabinieri und Sicherheitspolizisten 1200 Werkschützer, die elf ehemaligen Carabinieri-Offizieren unterstellt wurden; die aktivsten Arbeiterkader wurden in eigens dafür eingerichteten Abteilungen isoliert, alle FIOM- und PCI-Kader entlassen, Tarifverträge mit unternehmerfreundlichen Marionettengewerkschaften unterzeichnet, und FIAT holte eine große Zahl von Arbeitern aus dem Süden und den Alpentälern mit Empfehlungen des reaktionärsten Klerus herein. Der Terror erreichte in den Jahren 1955/56 seinen Höhepunkt, als FIAT die Wirtschaftskrise dazu nutzte, massenhaft alte Arbeiter zu entlassen und dann durch eine enorme Anzahl von Ex-Bauern aus dem Süden zu ersetzten (die einen Anteil von 60-70 Prozent bei den Arbeitern ausmachten), bis 1959 die FIAT-Arbeiter nicht einmal mehr am nationalen Streik für die Erneuerung des Tarifvertrags der Metallarbeiter teilnahmen. Aber gerade diese neue Masse junger Immigranten aus dem Süden sollte zusammen mit der Automatisierung der Produktionsbänder einen Umschlag im Klassenkampf auf Fabrikebene und auf nationaler Ebene in Gang setzen.

Die Ereignisse von Piazza Statuto waren die erste Explosion: im Juni 1962 blockieren 7000 Streikende, aus denen in wenigen Tagen 70 000 werden, die Fabrik. Valletta antwortet mit der Aussperrung und unterschreibt einen Separatvertrag allein mit der UIL, der unternehmerfreundlichen gelben Gewerkschaft. Aber die Arbeiter lehnen den Tarifvertrag ab und in der Massenaktion von Piazza Statuto stürmen sie den Sitz der UIL. Valletta nützt die Urlaubszeit aus und versetzt Tausende von Arbeitern innerhalb des Werks und entläßt Hunderte. Aber der »soziale Frieden« wird nicht mehr in die Fabrikhalle zurückkehren: wilde Streiks beginnen, unvorhergesehene Arbeitsniederlegungen, Sabotageaktionen und schließlich 1965 eine neue Explosion für die Erneuerung des Tarifvertrags. Die FIAT-Manager müssen ihr System verändern, um nicht das Wesentliche zu ändern. Warum? Was war geschehen?

1962 ist das Jahr der Erneuerung der Tarifverträge, wobei der Vertrag der Metallarbeiter wie immer Pilotfunktion hat. Für den 7., 8. und 9. Juli rufen CGIL und CISL zum Generalstreik auf, obwohl die SIDA und die UIL im Morgengrauen des 6. Juli mit der FIAT-Geschäftsleitung einen Tarifvertrag unterzeichnet und ihre Sympathisanten (bei den letzten Wahlen 63 Prozent der Belegschaft) aufgerufen haben, sich vom Streik zu distanzieren. Aber der Streik wird einhellig befolgt (92 Prozent Beteiligung). Der 7. Juli ist ein Samstag: auf den großen Zufahrtswegen zu den etwa 60 Werkstoren haben sich seit dem frühen Morgen Tausende von Arbeitern versammelt, entschlossen zu einem harten Streikpostenstehen. Die Wut der Arbeiter, die vor den FIAT-Toren Posten stehen, läßt nicht nach, sondern verstärkt sich mit der Zeit. Plötzlich kommt der Vorschlag auf, zum Sitz der UIL zu gehen ... So findet die ganze Wucht der Klassenrevolte in der gelben Gewerkschaft ein Ziel. Es ist 15 Uhr: ein Zug von etwa 6000 Arbeitern erreicht den Sitz der UIL an der Piazza Statuto. Die ersten Gruppen dringen ein und schlagen alles zusammen, was ihnen unter die Finger kommt, bevor die Polizei einschreiten kann. Diese trifft kurz darauf ein, um den Platz zu schützen, und zwar ist es die Spezialeinheit aus Turin, verstärkt von mobilen Einheiten aus Novara und Padua.

Gegen 16 Uhr beginnt eine regelrechte Schlacht oder besser eine Stadtguerilla, die sich vier Tage lang hinziehen wird, eine Kraftprobe zwischen Arbeitern und Polizei. Die Leute nehmen Verkehrsschilder und Absperrketten, um sich gegen die Ausfälle der Jeeps zu verteidigen und um auf die Tränengasgeschosse der Polizei zu antworten, die oft zu den Schützen zurückgeworfen werden. Vier Tage kämpfen die Arbeiter, sie organisieren sich in Schichten, um ständig auf dem Kampfplatz präsent zu sein. Der kommunistische Abgeordnete Pajetta (der in jenen Jahren noch den Ruf hatte, ein »Harter« zu sein, weil er viele auch physische Auseinandersetzungen in Montecitorio mit den Faschisten hinter sich hatte) und andere kommunistische Führer versuchten, die Arbeiter zu beruhigen; aber diese folgten nicht und setzten die Straßenschlacht fort. »Garavani, Sekretär der Arbeitskammer, der versucht, Feuerwehr zu spielen, wird von blutjungen Rasenden mit Eisenstangen in der Hand verfolgt«, schreibt »Il Giorno«. Der »Corriere della Sera«: »Turbulente Augenblicke wechseln sich ab mit Phasen der Windstille. Die Zahl der Demonstranten war kleiner geworden, aber geblieben waren die Gewalttätigsten. Es waren dieselben blutjungen Gesichter, dieselben Ringelpullis, dieselben Blue Jeans, die man an den FIAT-Werkstoren gesehen hat. Irgendjemand begann, das Straßenpflaster aufzureißen, dann flogen die ersten Steine. Um Mitternacht kam es zu ganzen Wellen von Ausschreitungen. Mit einer verwirrenden Fähigkeit und verblüffenden Schnelligkeit rissen die Demonstranten Verkehrszeichen und metallbeschichtete Plakatwände ab, der Steinhagel ging von neuem los, diesmal gegen die Straßenlampen.« Der Kampf dauert bis vier Uhr morgens, bis zum Morgengrauen. Die CISL gibt ein Kommunique offener Mißbilligung heraus, in dem sie von »Rowdies, die angeworben wurden, um die Gewerkschaften zu diffamieren« spricht. Auch die CGIL läßt ein allerdings etwas abgeschwächteres Kommunique der Mißbilligung heraus, in dem sie zu gleichen Teilen »die Polizei« und »Provokateure, die sich als Rowdies betätigten, die der großen Masse der Werktätigen fremd und von ihr zurückgewiesen werden« für verantwortlich erklärt.

Ein wichtiger Punkt ist, daß vom ersten Tag der Auseinandersetzung an, die sich in den darauffolgenden Tagen verallgemeinern sollte, Piazza Statuto spontan zum Bezugspunkt nicht nur der FIAT-Arbeiter, sondern auch der Arbeiter der Mittel- und Kleinbetriebe der ganzen Turiner Gegend wird. Piazza Statuto wird zur Kampfgelegenheit für eine Arbeiterklasse, die von zwölf Jahren Arbeiterniederlagen, Unternehmerrepression und Gewerkschaftsschwindel frustriert ist. In diesen Tagen befinden sich in der Provinz Turin 250 000 Arbeiter im Streik; die direkt oder indirekt betroffenen Familienangehörigen, Freunde und Genossen machen weitere 6-700 000 Personen aus.

Piazza Statuto erwacht verwüstet. Der 8. Juli ist ein Sonntag, weshalb Polizei, Gewerkschaften und Parteien hoffen, daß sich die proletarische Wut ausgetobt hat, da die Fabriken geschlossen sind. Tatsächlich bleibt es am Sonntag bis auf kleine hartnäckige Auseinandersetzungen relativ ruhig, sowohl an den Fabriken als auch um die Piazza Statuto herum. Am Montag geht wieder die Guerilla los. Asor Rosa berichtet folgendes in der Chronik der Quaderni Rossi: »Am Montag, den 9. Juli, wurden die Kämpfe wiederaufgenommen, und zwar zogen sie sich mit außerordentlicher Hartnäckigkeit von 11 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts hin. Man kann jetzt deutlich sehen, wie kleine Gruppen von jungen Leuten schnell auf das Zentrum des Kampfs zueilen und ununterbrochen aus den Seitenstraßen herausströmen. Um den ganzen Platz herum eine ununterbrochene Kette von (sehr neugierigen) Leuten, die sich in dichteren Pulks unter die Eingangstüren und in die umliegenden Straßen ergießen. Von beiden Seiten läuft der Angriff schubweise mit Steinen, Knüppeln, Gewehrkolben. Die zu Hunderten geworfenen Tränengasgeschosse legen eine unerträgliche Gaswolke über die umliegenden Stadtteile. Die Polizei, die kräftemäßig das Übergewicht hat, beendet den Kampf spät in der Nacht mit einer Säuberungsaktion großen Stils, die bis zu kilometerweit entfernten Straßen reicht. Uns erschien vom ersten Moment an die Möglichkeit, daß all das einfach das Werk von kleinen Gruppen von Provokateuren gewesen sein soll, recht zweifelhaft. Wer hätte die Macht gehabt, eine Massenerhebung diesen Ausmaßes in Gang zu setzen, die sich durch frische Zufuhr ständig erneuerte und über eine so lange Zeit andauerte?«

Die bürgerlichen Chronisten schreiben alle von »blutjungen Subproletariern«, aber sie müssen erkennen, daß fast alle am Kampf Beteiligten Arbeiter sind und die überwiegende Mehrheit FIAT-Arbeiter; sie sprechen von kommunistischen Provokateuren, aber sie müssen zugeben, daß sich die Mitglieder von PCI, PSI oder der Gewerkschaft FIOM nach den Verhörprotokollen der Polizei an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Die Wahrheit ist, daß alle Beobachter einen neuen Arbeitertyp vor sich haben, der nicht mehr die Merkmale des alten Facharbeiters trägt, sondern die des neuen Fließbandarbeiters: sehr jung, dequalifiziert, erst vor kurzem zugewandert, in der Mitte zwischen Subproletariat und Einwanderer; eher ein Zugewanderter, der subproletarischer Arbeiter geworden ist. [1]

* * *

Die Brisanz und Sprengkraft der Ersten Thesen von Tronti lag bei ihrem Erscheinen 1965 darin, daß sie eine radikale »strategische Umkehr« im Verhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kapital vorschlugen. Während in der Erscheinung der Klassenbeziehungen alles dafür spricht, daß die Bewegungen der Gesellschaft vom Kapital ausgehen, und sich die Verwalter der offiziellen »Arbeiterbewegung« von dieser Sichtweise leiten ließen, wird hier ein radikaler Arbeiterstandpunkt vorgeschlagen. »Diese strategische Umkehrung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital muß heute als ganze wiederentdeckt werden und wieder voll eingebracht werden als Methode in der Analyse und als Anleitung zur Aktion.« (28|79) Diese strategische Umkehrung wird auf dem Hintergrund eines neuen Kampfzyklus der italienischen Arbeiterklasse formuliert, der bei den Ereignissen von Piazza Statuto - die einen Wendepunkt in den Klassenbeziehungen darstellen - zum ersten Mal zum Ausdruck kommt.

Seit Ende der 50er Jahre hatte sich in der italienischen Linken eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Partei und Gewerkschaft entwickelt, die auf diesen Neuzusammensetzungprozeß der Arbeiterklasse Bezug nahm. Im Mittelpunkt der Diskussion der Quaderni Rossi, die seit 1961 erscheinen, stand die Frage nach der Neuaufnahme eines revolutionären Prozesses der Arbeiterklasse in den entwickelten industriellen Ländern. Diese Diskussion beruhte auf zwei Elementen, deren Verbindung miteinander entscheidend ist: die völlig neue Aneignung der Marxschen Theorie in klarer Frontstellung zu den offiziellen Verwaltern dieses Erbes in der »Arbeiterbewegung« und die praktische Untersuchungsarbeit innerhalb der Arbeiterklasse. [2] Schon in den ersten Untersuchungstexten von Alquati wird deutlich, wie mit einer radikal neuen Leseweise des Kapital das Innere der Fabrik, der unmittelbare Produktionsprozeß als Feld des Klassenkampfs analysiert wird, von einem klaren Arbeiterstandpunkt aus. Diese Untersuchungsarbeit konfrontiert sich immer wieder mit den Ideologien der 60er Jahre von einer befriedeten und integrierten Arbeiterklasse. Konkret sind dies die Mythen der »Tertiarisierung« (Dienstleistungsgesellschaft) und der »technokratischen« Lösung aller Widerspüche. »Die Automation räumt diese Widersprüche [der auf Klassenausbeutung beruhenden Gesellschaft] nicht aus, sondern sie verlagert sie auf eine immer spezifischere Ebene und macht sie immer klarer. Die 'technokratische' Gesellschaft, die von diesen Widersprüchen 'befreite' Gesellschaft ensteht nicht durch ein Wunder aus der Entwicklung der globalen Tendenzen, denn deren Angelpunkt ist der Profit; die Technik führt heute nur deshalb zur Verdinglichung der Produzenten, weil sie eine Funktion des Profits ist. Dadurch aber wird alles immer wieder von neuem in Frage gestellt, und es eröffnet sich schließlich nicht die technokratische, sondern die revolutionäre Alternative.« [3]

Vieles von dem, was Tronti in seinen Thesen theoretisch entwickelt, finden wir schon in den Untersuchungstexten. Oder zumindest ist es dort angelegt. Und es ist wichtig, sie vor diesem historischen Hintergrund der neuen Kämpfe der italienischen Arbeiterklasse und der politischen Diskussion darum zu sehen. Was Tronti als charakteristisch für den Arbeiterstandpunkt hervorhebt, daß er nicht wissenschaftlich ableitbar ist, sondern das politische Auftreten des Proletariats voraussetzt, das gilt auch für seine eigenen Thesen. Dieser umfassende Versuch, mit Marx einen revolutionären Klassenstandpunkt zu entwickeln, wird praktisch angetrieben von den Kämpfen der italienischen Arbeiter. Im Vorwort zur italienischen Ausgabe hatte Tronti geschrieben: »... eine neue große Phase theoretischer Entdeckungen ist heute nur vom Arbeiterstandpunkt aus möglich. Die Möglichkeit und die Fähigkeit zur Synthese ist ganz in Arbeiterhand geblieben. ... Die Erkenntnis ist an den Kampf gebunden. Nur der erkennt wirklich, der wahrhaft haßt.« [4] Und er betont damit ausdrücklich den »Thesen«-Charakter seiner Schrift, über die erst die weitere politische Praxis entscheiden kann. »Bisher ist nichts bewiesen.« (232|237) Er verspricht sich daher auch keine theoretische Wirksamkeit im wissenschaftlichen Sinne, »keine unmittelbaren Möglichkeiten, in der Wüste des gegenwärtigen Marxismus irgendetwas zum Blühen zu bringen. Aber es hat auch keinen Sinn, sich ausgerechnet hier zu versuchen. ... Hier müssen wir wieder durch einen Engpaß hindurch. Der Arbeiterstandpunkt muß bei jedem Schritt nach vorn in der Praxis beispielhaft das beweisen, was er in der Theorie entwirft; er ist von seiner Natur her gezwungen, der Wissenschaft die Politik vorausgehen zu lassen.« (167|187f.) In diesem Sinne verstehen wir auch die Neuherausgabe der Ersten Thesen, 22 Jahre nach ihrem Erscheinen und 13 Jahre nach der deutschen Ausgabe [5], nicht als ein Anbieten von fertigem Wissen, das sich »schulen« ließe. Aber die Diskussion dieser Thesen bietet gerade heute einen Ansatzpunkt, um überhaupt ein theoretisches Werkzeug für ein revolutionäres Projekt zu gewinnen.

Tronti beginnt mit der Analyse der Arbeitskraft. Aber nicht um hieraus den Begriff der Klasse zu entwickeln, wie es so oft mißverstanden worden ist, sondern um an der Existenz der Arbeitskraft als Ware die politische Vorausgesetztheit des Klassenverhältnisses aufzuzeigen. Geld wird nur zu Kapital, »wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet, und diese eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte.« [Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 184] Diese, von der Orthodoxie kaum beachtete Marxsche Bemerkung, entwickelt Tronti in ihrer ganzen politischen Dimension. Historisch und begrifflich geht das Klassenverhältnis dem Kapitalverhältnis voraus, und die Arbeiterklasse ist der bewegende Motor im Kapital und zugleich revolutionäre Initiative.

An der Entwicklung des politischen Denkens von Marx versucht Tronti die Eingebundenheit der Arbeiterwissenschaft in die praktisch-revolutionäre Initiative des Proletariats nachzuzeichnen. Er beginnt mit den ersten theoretischen Überlegungen zur Arbeitskraft, nur um sofort zu zeigen, wie die Arbeiterwissenschaft von einem politischen Standpunkt ausgeht: »Aber erst der revolutionäre Übergang des Jahres 1848 legt im Kopf von Marx den theoretischen Prozeß offen, der ihn dann dazu bringt, den besonderen Inhalt der Ware Arbeitskraft zu entdecken, der jetzt nicht mehr nur - über die Entfremdung der Arbeit - an die historische Gestalt des Arbeiters, sondern nunmehr - über die Produktion des Mehrwerts - an die Entstehung des Kapitals selbst gebunden ist.« (30|81) »Der besondere Charakter der Ware Arbeitskraft erscheint nach dem Juni 1848 darin, daß er auf der politischen Ebene Proletariat ist ...; eine Klasse unter Waffen gegen die ganze Gesellschaft, als wäre auch diese eine einzige Klasse. Von diesem Moment an ist der Diskurs über Arbeit und Arbeitskraft, über Wert und über Kapital, endgültig mit der politischen Analyse der Bewegungen der Arbeiter verbunden, mit jener Erforschung der Bewegungsgesetze der Arbeiterklasse in ihrem praktischen Kampf gegen das Kapital, die als einzige über die praktische Lösung jedes theoretischen Problems entscheiden kann.« (79|119) Tronti entreißt alle Begriffe, die im Anschluß an Marx in der politischen Debatte gebraucht werden, der wieder zur Ökonomie gewordenen »linken« Theorie. »Für Marx ist Arbeitswert eine politische These, eine revolutionäre Losung; aber kein Gesetz der Ökonomie oder Mittel der wissenschaftlichen Interpretation gesellschaftlicher Phänomene; ... Die Arbeit ist Maß des Wertes, weil die Arbeiterklasse Bedingung des Kapitals ist.« (173f.|192f.) Und es sind Thesen der revolutionären Praxis: »Die geheime Macht der Arbeiter im Kapitalismus ist von einem revolutionären Standpunkt aus kein theoretisches Gesetz, sie ist eine praktische Möglichkeit. Sie funktioniert nicht objektiv, sie muß subjektiv durchgesetzt werden.« (182|200)

Diese Herangehensweise bindet also die Schritte der theoretischen Untersuchung immer an die Bewegung der Arbeiter selbst und gleichzeitig ergibt sich so ein anderer Begriff der Arbeiterklasse als aus theoretischen Ableitungen. Das Auftauchen eines revolutionären Proletariats ist nicht nur historische Voraussetzung und Ausgangspunkt des Kapitals [6], seine Gestalt muß in den Kämpfen der entwickelten Arbeiterklasse präsent bleiben. »Einmal mehr muß der rohe proletarische Ursprung des modernen Arbeiters vollständig wiederaufgegriffen werden und in die heutigen Erfordernisse an Kampf und Organisation eingebracht werden. ... Sind 1848, 1871, 1917 Kämpfe der Arbeiterklasse? Empirisch - historisch - kann man schon beweisen, daß nicht; ... Aber man versuche doch mal, den Begriff der Arbeiterklasse, seine politische Wirklichkeit aufzubauen, ohne die Aufständischen des Juni, ohne die Kommunarden, ohne die Bolschewiki: man wird nur eine leere Form in den Händen halten und nur ein Modell ohne Leben auf dem Papier.« (203|216)

Obwohl es das Hauptanliegen der damaligen Diskussion und Untersuchung war, eine revolutionäre Perspektive im »entwickelten« Kapital zu eröffnen, gerät Tronti damit nie ins Fahrwasser der orthodoxen Auffassung einer evolutionären Abfolge notwendiger Stufen zur Arbeiterklasse hin. »Die Marxsche methodologische Formel vom entwickelsten Punkt, der auch den zurückgebliebensten Punkt erklärt, ist theoretisch zwar richtig, aber sie birgt in ihrer vulgären Interpretation die Möglichkeit des politischen Opportunismus in sich: dann nämlich, wenn sie zu dem Schluß führt, daß in der ungleichen Entwicklung des Kapitalismus in der Welt alles das, was an einem Punkt einmal gewesen ist, dann auch an anderen Punkten sein muß. Allein die praktischen Bedürfnisse des Klassenkampfs haben nie die Bequemlichkeit dieses Sein-Müssens gekannt.« (102|136) Die Thesen bieten damit auch Raum für eine internationale Lesart, die mehr denn je ansteht: »Innerhalb von in sich bereits abgeschlossenen kapitalistischen Strukturen trifft es nicht zu, daß die Klassensituation der entwickelsten Länder diejenige der zurückgebliebensten entfaltet und vorformt. Es sei denn, sie entfaltet und formt sie vor vom kapitalistischen Standpunkt aus, vom Standpunkt des Erfassens einer möglichen Entwicklung. Aber von Arbeiterseite geht es gerade darum, in der Praxis diese Entwicklung zu verhindern, sie in einem Punkt zu zerschlagen und also eine in bezug auf die theoretischen Modelle der Analyse nicht normale, unnatürliche Klassensituation durchzusetzen.« (102|136)

Die Thesen leisten es nicht, einen Standpunkt der internationalen Klasse als revolutionäre Initiative zu entwickeln, und wir können dies auch schwerlich von ihnen erwarten. Aber sie präzisieren die Herangehensweise, mit der wir uns diese Frage überhaupt stellen können. Nämlich als eine Geschichte der Klasse selbst - »innere Geschichte der Arbeiterklasse« (201|215) -, in der diese nicht zum bloßen Reflex derKapitalbeziehungen wird, die gerade in Internationalismus-Diskussionen allzu gerne als übermächtig nachgezeichnet werden. Im Vorwort hatte Tronti seine internationale Sichtweise deutlicher betont, wobei es ihm vor allem um die Einordnung der italienischen Situation geht, die weder den fortgeschrittensten noch den zurückgebliebensten Punkt der kapitalistischen Entwicklung markiert. »Die These, daß die Kette heute dort zerbrochen wird, wo das Kapital am schwächsten, die Arbeiterklasse aber am stärksten ist, liegt uns sehr am Herzen. ... Viele Dinge können von hier abgeleitet werden. Die 'Theorie des Mittelpunkts' ist eine davon, d.h. die Möglichkeit, von einem Punkt aus, der selbst in Bewegung ist, die vor uns liegende Tendenz der Dinge und das hinter uns liegende passive Erbe zu erfassen. Nicht zufällig bietet Italien heute ein ideales Terrain für die Arbeiterwissenschaft, um von hier ausgehend die kapitalistische Welt in ihrer Konkretheit zu betrachten. Gerade weil die Situation der italienischen Klasse, die für die Arbeiter immer noch günstig ist, in der Mitte der kapitalistischen Entwicklung auf internationaler Ebene liegt, kann sie zum Moment der subjektiven Einigung verschiedener und sich entgegengesetzter Kampfebenen werden. Wenn es tatsächlich Voraussetzung für alles andere ist, wieder eine internationale Strategie der Revolution auf die Beine zu stellen, dann müssen wir begreifen, daß uns das mißlingen wird, solange wir weiterhin mit dieser Weltkarte für Kinder spielen, die von der politischen Geografie der Bourgeoisie erfunden und der didaktischen Bequemlichkeit halber in erste, zweite und dritte Welt aufgeteilt wurde. Wir müssen anfangen, die verschiedenen Stufen, die unterschiedlichen Ebenen und die daraus folgenden Bestimmungen der kapitalistischen Widersprüche zu unterscheiden, ohne sie jedes Mal mit einer Alternative zum System zu verwechseln. Die kapitalistische Gesellschaft ist so aufgebaut, daß es zu ihr stets nur eine Alternative geben kann, die unmittelbare der Arbeiter. Alles andere sind Widersprüche, von denen das Kapital lebt und ohne die es nicht leben könnte. ... Es ist nicht richtig, wenn behauptet wird, das internationale Netz des Kapitals sei vor allem auf institutioneller Ebene heute so stark, daß es an keinem Punkt die Enstehung einer Lücke zuläßt. Man darf den Gegner nie überbewerten, sich ihm gegenüber nie in eine untergeordnete Position begeben, nie vor der Initiative im Kampf zurückweichen. Gerade weil das Netz dichter geworden ist, zwingt es den Bruch an einem Punkt auf, heißt es, dort alle Kräfte zusammenfließen zu lassen, die es als Block zerbrechen wollen. Jede Verbindung mehr zwischen den verschiedenen Teilen des Kapitals ist ein Kommunikationsweg mehr zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse. Jedes Abkommen zwischen Kapitalisten setzt zu seinem Bedauern einen Vereinheitlichungsprozeß der Arbeiter voraus und rollt ihn neu auf. ...« [7]

Kehren wir zur Entwicklung der Arbeiterklasse im Kapital zurück. An diesem Punkt mußte sich Tronti mit der Position konfrontieren, die Arbeiterklasse sei aufgrund ihres Daseins im Kapital grundsätzlich befriedet. Tronti nimmt das Eintreten der Arbeiter ins Kapital, die Klasse als Produzentin des Kapitals und ihre politische Integration, nicht leicht. »Der Arbeiter als einzelne Arbeitskraft außerhalb des Kapitals; die Arbeiter als gesellschaftliche Klasse innerhalb des Kapitals - das ist also kein falscher Schein, den es daher nicht der kritischen Prüfung zu unterziehen gilt; es ist vielmehr eine harte Realität, an der jetzt die Bedürfnisse der Organisation zu messen sind. Der Antagonismus steckt in der Tat nicht in der Gestalt jenes freien Arbeiters, isoliert betrachtet, sondern in der massiven Präsenz der Arbeiterklasse im Innern des Kapitals, die so dazu gezwungen ist, ihren Feind in seiner Gesamtheit zu bekämpfen, von dem sie selbst ein Teil ist.« (115|147) Aber gerade im Innern des Kapitals und als Teil von ihm, erscheint der Arbeiter als isoliertes Individuum, als Opfer der Maschine usw. »Daher dieser brennende Widerspruch: die Arbeiter als Klasse erscheinen als die ungeheuerste politische Angriffskraft, die es je in der menschlichen Gesellschaft gegeben hat; als einzelne Individuen dagegen boten sie zunächst die extreme Gestalt des Elends, dann die der Unterordnung, und immer die der Ausbeutung.« (147|172) Die oberflächliche und soziologische Betrachtung entdeckt in der Ausbeutung nur die Beziehung des Kapitals zum einzelnen Arbeiter, das Mensch-Maschine-Verhältnis usw. Aber das Kapital hat es immer schon mit einer Klasse zu tun, es kann die Arbeiter nur als Klasse ausbeuten, auch wenn es das innerhalb der Produktion auszulöschen versucht. Tronti knüpft in der Analyse der Klasse im Innern des Kapitals an die Untersuchungen der Quaderni Rossi an, die gerade das immer wieder herausarbeiten: im Produktionsprozeß kann das Kapital die Arbeiter nur politisch atomisieren, indem es sie als Klasse weiter vergesellschaftet. Nur indem die Arbeiteruntersuchung von den Arbeitern als Klasse ausgeht, kann sie die Mystifizierungen der Atomisierung durchbrechen, die Grundlagen der Arbeitermacht im Kapital freilegen. Daß die Klasse dem Kapital vorausgeht, bedeutet für die Taktik des Kampfs die grundlegende Sache, »daß nämlich von Anfang an, von den ersten Formen dieses Kampfs an die Arbeiter als Klasse sich innerhalb des Kapitals finden und es aus seinem Innern heraus bekämpfen müssen, während die Klasse der Kapitalisten den Arbeitern nur gegenübersteht und sie damit vollständig nur von außen schlagen kann. Dieser Sachverhalt, der bislang der Punkt der größten Schwäche der Arbeiterklasse gewesen ist, muß aber zum größten Zeichen ihrer Kraft werden.« (63|107)

Ganz am Schluß kommt Tronti auf diese »Schwäche«, den Doppelcharakter der Arbeiterklasse als Kapital und Nicht-Kapital zurück und rückt sie in den Mittelpunkt der Organisationsfrage. »Um gegen das Kapital zu kämpfen, muß die Arbeiterklasse gegen sich selbst, insofern sie Kapital ist, kämpfen. Und das ist der Punkt des größten Widerspruchs, und zwar nicht für die Arbeiter, sondern für die Kapitalisten. Es genügt, diesen Punkt zu schärfen, und das kapitalistische System funktioniert nicht mehr, und der Plan des Kapitals beginnt, rückwärts zu laufen, also nicht mehr als gesellschaftliche Entwicklung, sondern als revolutionärer Prozeß. Arbeiterkampf gegen die Arbeit, Kampf des Arbeiters gegen sich selbst als Arbeitenden, Weigerung der Arbeitskraft, Arbeit zu werden, Weigerung der Arbeitermassen gegen die Anwendung ihrer Arbeitskraft: das sind die Grenzen, in denen sich an diesem Punkt, nach der Taktik der Untersuchung, das anfängliche Teilung-Gegensatz strategisch wiederherstellt, das die Marxsche Analyse zuerst in der Natur der Arbeit entdeckt hatte. Der Doppelcharakter der Arbeit, in den Waren repräsentiert, enthüllt sich so als doppelte Natur der Arbeiterklasse, doppelt und zugleich geteilt, geteilt und zugleich gegensätzlich, gegensätzlich und zugleich im Kampf mit sich selbst. Wir müssen uns bewußt machen, daß alle die großen Probleme der Organisation wie deren Lösung in einem wiedergefundenen organischen Verhältnis zwischen Klasse und Partei ihre ungeheure politische Komplexität auf dieses kritische Verhältnis innerhalb der Arbeiterklasse selbst gründen, das sich um so mehr als ungelöstes Problem vertieft, je mehr die Arbeiterklasse als herrschende Kraft wächst. ... Im übrigen gibt es auch hier nicht viel zu erfinden. Die modernen Formen des Arbeiterkampfs in den Ländern des hochentwickelten Kapitalismus tragen alle als reichen Inhalt der eigenen Spontaneität die Losung vom Kampf gegen die Arbeit als dem einzigen Mittel, das Kapital zu schlagen.« (228|234f.)

Aus dem Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse als Produzentin des Kapitals und zugleich größtem Widerspruch zum Kapital drängt sich Tronti die Organisationsfrage in einer sehr aktuellen Form auf. Die Untersuchungen und Erfahrungen der zurückliegenden vier Jahre müssen nun in Richtung auf eine praktische Initiative überschritten werden, um gerade so zu verhindern, daß die Kämpfe der Arbeiter immer nur das Kapital in seiner Entwicklung vorantreiben. »Man kann es nicht oft genug wiederholen: die Kapitalentwicklung vorauszusehen heißt nicht, sich ihren ehernen Gesetzen zu unterwerfen, sondern sie auf einen bestimmten Weg zu zwingen, sie an einem Punkt mit Waffen abzupassen, die stärker als Eisen sind, sie zu stürmen und zu zerstückeln. Zuviele glauben heute, daß die vergangene Geschichte der Arbeiterbewegung in den fortgeschrittensten Ländern für uns ein unbestimmtes Schicksal sei, dem wir nicht entrinnen können. Aber dient das Wissen darüber, was kommen wird, nicht gerade dazu, es zu verhindern?« [8] Die Zuspitzung der Thesen auf die Organisationsfrage entspringt so zum einen dem grundsätzlichen und bleibenden Problem des »Doppelcharakters« der Arbeiterklasse, bezieht sich zum anderen auf die damalige politische Situation - auch der subjektiven Kräfte - in Italien. Die Art und Weise, wie Tronti am Beispiel der Leninschen Revolution seine These zur Organisationsfrage als Partei entwickelt, kann uns nicht als Leitfaden dienen. Viel zu ungenau bleibt dabei auch, was er unter Partei versteht. Auf der einen Seite betont er, daß die Arbeiterklasse im Gegensatz zur Kapitalistenklasse »sehr wohl unabhängig von den institutionalisierten Ebenen ihrer Organisationen« existiert und daß sie, »sobald sie formell auf der Ebene der politischen Organisationen zu existieren beginnt, unmittelbar den revolutionären Prozeß (eröffnet)« (197|211). Andererseits bietet seine Diskussion der Partei Raum für die institutionalisierte Arbeiterorganisation, die keineswegs zur subjektiven Initiative werden muß. Dies sind natürlich auch Fragen nach dem praktischen Weg von Tronti selbst. Nachdem er 1963 zusammen mit anderen die Quaderni Rossi verlassen hat und diese der »soziologischen« Fraktion überläßt, schlägt er in der neuen Gruppe Classe Operaia vor, sich aufzulösen und in die KPI zurückzukehren, was er und einige andere schließlich auch tun.

Die Rückkehr in den Schoß der Institution zerstört nicht die Bedeutung der Thesen als Entwicklung eines radikalen Klassenstandpunkts. Aber sie zeigt, daß sie als bloße Thesen, bloße Theorie »die Rolle eines Alibis für die Wiederaufnahme eines Organisationsmodells traditioneller Art« [9] übernehmen konnten - was auch für linke Intellektuelle in der BRD gilt, die sich begierig der »Arbeiterwissenschaft« annahmen. »Im theoretischen Kontext von Tronti wurde der Arbeiterstandpunkt, gerade weil er theoretischer Ausdruck eines objektiven Prozesses ist, zum Drehpunkt einer neuen politischen Vermittlung zwischen den Intellektuellen (die als einzige fähig bleiben, ihn zu bestimmen, d.h. sie bleiben die Besitzer des Klassenbewußtseins) und der Arbeiterklasse. Diese Position, die die klassische Trennung von Partei und Klasse reproduzierte (indem sie Theorie und Taktik den politischen Berufsrevolutionären überließ) führte, einmal in kohärenter Weise entwickelt, auf theoretischer Ebene zu der Forderung nach einer Rückkehr der historischen Partei zur Klasse, und auf praktischer Ebene zur Rückkehr Trontis in die KPI, als einzigem möglichen Ort für eine Verwirklichung, d.h. Politisierung, seines Arbeiterstandpunkts.«

In den Thesen stellt er die Organisationsfrage als die des Verhältnisses der Revolutionäre zur Klasse und der Klasse zu sich selbst. Beantworten können wir die Frage heute auch nicht, aber es wird keinen anderen Weg geben, als sie aus dem Innern der Klasse heraus zu beantworten. Darauf zielt der Vorschlag einer Militanten Untersuchung, die von der Klasse ausgeht und die Organisierung im Verhältnis zu ihr entwickelt. Die erneute Veröffentlichung der Thesen verstehen wir als politisches Material für ein solches Projekt. Sie können nur in der Weise als theoretisches Instrument brauchbar sein, als sie uns herausfordern, die aktuelle »innere Geschichte der Arbeiterklasse« zu entschlüsseln und von ihr aus ein politisches Projekt zu entwickeln. Die Veröffentlichung ist also im Zusammenhang mit den in Thekla 5, 6 und 7 vorgelegten Texten zu sehen, sowie weiteren Materialien aus der damaligen Diskussion (Thekla 8) und aus unseren ersten Versuchen mit der Untersuchung in der Klasse, die folgen sollen.

Der Text von Tronti stellt für die politische Diskussion eine gewissen Zumutung dar. Wir haben die erste deutsche Ausgabe nochmal durchgearbeitet, Fehler und Ungenauigkeiten korrigiert. Die Übersetzung ist zwar recht sorgfältig, gemacht, so sind alle Zitate aus den Originalen rausgesucht etc., aber sie folgt streng der italienischen Diktion, dem Satzrhythmus mit seinen rhethorischen Pausen und Hervorhebungen. So geraten einige Sätze ziemlich holprig, manche waren schlicht unverständlich - diese haben wir in dieser Ausgabe geglättet, allein nach dem Kriterium der Verständlichkeit. Das hat natürlich seine Grenzen.

Was aber bleibt, ist ein oft theoretisch-abstrakter Stil und eine manchmal ermüdende Marx-Zitiererei. Wir selbst haben uns den Text daher in Gruppendiskussionen angeeignet, zum Teil in satzweisem Durcharbeiten, um den Inhalt überhaupt klarzukriegen, um ihn für eine aktuelle Diskussion fruchtbar zu machen, um ihn kritisieren zu können. Und wir denken, daß dieser Text auch nur so, als Material eines Diskussions- und Organisierungsprozesses, heute wieder aktuell sein kann.

 


Fußnoten:

[*] Bei der Angabe von Seitenzahlen für Zitate aus dem Text bezieht sich die erste Zahl auf die Ausgabe in TheKla 9, die zweite Zahl auf die erste deutsche Ausgabe, die 1974 unter dem Titel »Mario Tronti: Arbeiter und Kapital« im Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. erschienen ist.

[1] Diese Ausführungen zu Piazza Statuto sind zusammengestellt aus: Renzo del Carria, Proletari senza rivoluzione, Band V, Rom 1977.

[2] Die Entwicklung dieser Arbeit in den Quaderni Rossi und die Bedeutung der Diskussion beschreibt Negri sehr deutlich in einem Interview von 1979. Diesen Teil des Interviews haben wir in TheKla 5 abgedruckt, Seite 7ff. Die gesamte historische Entwicklung beschreibt Wolfgang Rieland, abgedruckt in TheKla 6, Arbeiteruntersuchung bei FIAT.

[3] Romano Alquati, Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei Olivetti, S. 70 [Ausgabe von Wolfgang Rieland, Fischer Verlag 1974, S. 129]. Gerade durch die Untersuchung zu Olivetti zieht sich die Kritik an der »neokapitalistischen Ideologie« wie ein roter Faden hindurch. Darin drückt sich auch die im Text selbst angesprochene Schwäche eines praktischen Arbeiterstandpunkts in der Großfabrik aus. Später, in den Texten zu den neuen Kämpfen der Arbeiter und zur Autonomie der Klasse, verliert diese ständige Abrechnung mit der Ideologie ihre Bedeutung.

[4] Mario Tronti, Operai e capitale, Turin 1971, Vorwort S. 14.

[5] Die Bedeutung, die die erste deutsche Ausgabe für die Diskussion der westdeutschen Linken gehabt hat, wird aus der Besprechung in der Autonomie, Alte Folge Nr. 1, 1975, und dem Artikel zur Kritik an der Marx-Orthodoxie dort deutlich.

[6] Der Beitrag zur Geschichte der sozialen Bewegungen 1789/1848 in der Autonomie, NF, Nr. 14, arbeitet historisch - und anders geht es auch nicht - die Entwicklung zum revolutionären Proletariat heraus und kennzeichnet damit die kapitalistische Industrialisierung als Antwort auf diese subversive Drohung. der Beitrag konkretisiert also Trontis These, daß das Klassenverhältnis dem Kapitalverhältnis vorausgeht. Daß in der Autonomie daraus dann völlig andere Schlußfolgerungen zur Marxschen Theorie gezogen werden, ist hier nicht von Interesse. Bei der Auseinandersetzung mit derart für aktuelle Ideologien ausgeschlachteten Theoretikern wie Marx geht es oft mehr um die Kritik und Abgrenzung zu diesen Ideologien. So kritisiert Tronti an Marx, daß er im politischen Sinn nie über die Gestalt des rohen Proletariers hinauskommt. Bei Marx »gab es keinen anderen Weg für die Revolution als den, die Arbeiterklasse erneut ins Proletariat hinabzustoßen« (118|149), daher sein wissenschaftliches Bemühen, die ständig erneute Verelendung und Proletarisierung der Arbeiter zu demonstrieren, die »rohe Proletarisierung der Arbeitskraft des Arbeiters ... als einzige nicht vom System absorbierbare Antithese.« (117|149) Tronti wirft also 1965 Marx gewissermaßen vor, einen Standpunkt vergleichbar dem der Autonomie einzunehmen. Seine Kritik hat natürlich einen ganz anderen ideologischen Gegner: die Ideologie der 60er Jahre hatte aus dem »Nichteintreffen« der Marxschen Verelendungstheorie ihr stärkstes Argument dafür gezogen, daß Revolution heute nicht mehr auf der Tagesordnung steht. Trontis Kritik an der Proletarisierungsthese von Marx ist in der Konfrontation mit dieser Ideologie wichtig, um eine revolutionäre Perspektive aus dem Produktionsprozeß heraus eröffnen zu können.

[7] Mario Tronti, Operai e capitale, Turin 1971, Vorwort S. 23/24.

[8] Mario Tronti, Operai e capitale, Turin 1971, Vorwort S. 20.

[9] Dies und das folgende aus der Nachbemerkung des Verlages in der ersten deutschen Ausgabe.


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