Wolfgang Hien: Kranke Arbeitswelt. Ethische und sozialkulturelle Perspektiven
Hamburg 2016 | VSA | 200 Seiten |16.80
Die ersten Aufsätze des Buches lehren das Grauen. Hunderttausende von ArbeiterInnen wurden über Jahrzehnte Asbest ausgesetzt; Jahre später begann das große Sterben an Lungen- oder Baufellkrebs, das bis heute anhält – über 20 Jahre nach dem Asbestverbot in Europa. Die Arbeitsmedizin verharmloste wissentlich die lange bekannten Gefahren und wälzte die Folgen auf die ArbeiterInnen ab. Viele Berufskrankheiten wurden inzwischen zusammen mit den besonders krankmachenden Arbeiten inzwischen »outgesourct« – nach Indien, Pakistan, Bangladesh. Weltweit sterben jährlich über 100 000 ArbeiterInnen an Asbest. Der »Nestor« der deutschen Arbeitsmedizin erwarb seine Erkenntnisse in der NS-Zeit und konnte damit nach dem Krieg in BRD und DDR weiter die Leitlinien setzen – weitgehend unkritisiert, da ja die sozialethisch orientierte Medizin mit ihren jüdischen Trägern ausgerottet worden war. Hien kritisiert, dass bis heute eine auf der Konstitutionsmedizin beruhende Selektion betrieben wird zwischen »widerstandsfähigen« und nicht widerstandsfähigen Menschen.
Mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in der BRD arbeitet unter körperlich harten Bedingungen – gerade in schlecht bezahlten sogenannten Dienstleistungsjobs. Auch heute wird in Arbeiterstadtteilen zehn Jahre früher gestorben. Menschen unterer Klassen gelten der Medizin immer noch als weniger wertvoll. Zumindest wenn sich mit ihren Krankheiten nichts verdienen lässt. Das sei nicht das in den 80er Jahren beschworene »Ende der Arbeit«, sondern Verelendung im Marxschen Sinne.
Hien kritisiert den im Vergleich zur Aufbruchsstimmung in der Medizinkritik und der Gesundheitstag-Bewegung verengten Blick in der betrieblichen Gesundheitspolitik heute oder in gewerkschaftlichen Debatten über Arbeit und Gesundheit. Die Mitbestimmungskultur in den Selbstverwaltungsorganen der Berufsgenossenschaften betreibe nur eine Mitverwaltung des Elends. Und was nutzt eine Anti-Stress-Verordnung der IG Metall, wenn nicht über Personalbemessung die quantitativen Voraussetzungen zur »Entstressung« der Arbeitsabläufe geschaffen werden. (S. 104) Eine von den Gewerkschaften beworbene Handlungsanleitung trägt den Titel »Gesundheit und Beteiligung in Change-Prozessen«. Sie enthält beschwörende Formeln wie »vertrauensvolle Unternehmenskultur«, »humane Managementmethoden« und »fairer« Veränderungsprozess »auf Augenhöhe«. (S. 106f.) Der Autor ist immer wieder fassungslos über die Ideologisierung von Realität und Begrifflichkeit, die verdeckt, worum es in Wirklichkeit geht: Löhne kürzen, Schwache aussortieren, Druck ausüben. Wer eine radikale Arbeitszeitverkürzung vorschlägt, um gesundheitliche Risiken zu minimieren, gelte heute schon als »Ewiggestriger«.
In die Texte fließen Erfahrungen aus Seminaren mit Betriebsräten, Gutachten auf der Grundlage einer »Teilnehmenden Beobachtung« am Arbeitsplatz, Emails und Briefe von betroffenen ArbeiterInnen ein. Die Menschen, die der »kapitalistische(n) Landnahme im Gesundheitswesen« (so eine Kapitelüberschrift) ausgesetzt sind – als Patienten oder als dort Beschäftigte – sind auch die Hauptadressaten des Buches. Mit der Veränderung der Arbeitsverhältnisse verändern sich auch die Krankheitsbilder: Burn-out und psychische Erschöpfungszustände ersetzen zunehmend die Massenkrankheiten des Bewegungsapparates. Die neuen Verhältnisse wollen die ganze Person, sie soll alles geben, kreativ, motiviert, flexibel, aber vor allem auch loyal sein. »Feierabend« gibt es nicht mehr. Seine Arbeit machen, reicht heute nicht mehr. »Am Fließband war völlig egal, ob du schön oder ›vorzeigbar‹ bist« (S. 87)
Die Arbeits- und Lebensverhältnisse im gegenwärtigen Post-Fordismus oder Post-Taylorismus seien für manche interessanter geworden, schreibt Hien an anderer Stelle. Gleichzeitig gebe es eine massive Re-Taylorisierung – sogar in den kreativen Bereichen der IT-Arbeit. Bemerkt wird eine Anpassung an die Verhältnisse: das Schielen auf ökonomische Vorteile verdirbt den Charakter, der Konkurrenzkampf macht krank, der Körperkult blendet Anderssein, Krankheit und Tod aus. Hien nennt das Ergebnis eine »neue Art von Klassengesellschaft« Ein Nützlichkeitsrassismus mache sich breit, der die Minderleister ausgrenze und die soziale Ungleichheit bejahe. Die skandalös wachsende Kluft zwischen Eliten/oberer Mittelschicht und den breiten Massen mache epidemologisch nachweisbar krank. (S. 156)
Die neue arbeitswissenschaftliche und arbeitspsychologische Literatur thematisiere durchaus den Angriff auf die Gesundheit,aber mit ihrer Kritik bleibe sie weit hinter dem zurück, was notwendig wäre. Vielen Titeln hafte der Geruch der »Anpassung« an – Anpassung an vorgegebene Förderprogramme überwiegend staatlicher Auftraggeber. Motivation, Produktivität und insbesondere »Beschäftigungsfähigkeit« werden als Zielvorgabe gesetzt. Dabei bliesen die »Ratgeber-Literatur« und gewerkschaftliche Gesundheitspolitiker häufig ins gleiche Horn: statt die Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren, sehen sie die Lösung in »Bewältigungsstrategien« und »Resilienz«. Letztere suggeriere, dass es vor allem in der Hand des Einzelnen liege, die eigene Widerstandskraft zu stärken durch gesunde Ernährung, Sport usw. Die strukturellen Ursachen werden als gegeben hingenommen. Solch ein individualisierender Umgang stabilisiere die prekären »neoliberalen« Verhältnisse.
Aufschlussreich ist die im Buch abgedruckte Debatte mit der Grundrisse-Redaktion darüber, ob die »postfordistischen« Verhältnisse den ArbeiterInnen mehr Möglichkeiten geschaffen haben oder ganz im Gegenteil: dabei wird er so verstanden, als wolle er zurück zu den ›goldenen Zeiten‹ der Arbeiterklasse!
Hien meint, Arbeit werde immer auch einen belastenden Effekt haben. Arbeit habe ein Doppelgesicht: Arbeit sei nicht wirkliches Leben, aber Arbeit sei selbst Leben. Die materiellen Grundlagen müssen verändert werden durch eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Um den Leuten, die nicht mehr können, den Druck zu nehmen, fordert er ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Es geht ihm darum, Emanzipation und Aufklärung zu fördern, (S. 89) das Glücksversprechen des Kapitalismus auseinandernehmen (S. 90) und Gegenkulturen aufzubauen (S. 102). Auch die die innere Haltung der Beschäftigten muss sich ändern. In den Gesundheitsberufen fordert er eine andere Ethik in der Behandlung der kranken Menschen unabhängig von der Herkunft oder Leistung.
Einer kritischen Theorie des Subjekts widmet er das letzte Kapitel. Dabei kritisiert er u. a. eine Frauen- und Genderforschung, in der sich der Dekonstruktivismus als gute Möglichkeit erweise, insbesondere marxismusverdächtige Theorien aus der Wissenschaftslandschaft zu vertreiben. (S. 162) Er fragt sich, ob politisches Handeln überhaupt noch möglich ist, wenn es kein autonomes Subjekt mehr gibt, sondern wir uns als ewig fragmentiert und dezentriert begreifen müssen?
Hierzu holt er im letzten Aufsatz »Leiblichkeit« weit aus und wagt einen schwierigen Ritt über Marx, Nietzsche, Husserl, Merleau-Ponty zu Adorno und Judith Butler, Identität und Nicht-Identität. Er landet bei der Bedeutung des Anderen, der Gemeinschaft, die sogar die Epigenetik bestätigen könne. Er visiert eine »Gemeinschaft freier Menschen in all ihren Unterschiedlichkeiten« an, die weder das »Zwangskollektiv im Arbeitsprozess«, noch auf eine »einheitliche und eindeutige kollektive Identität« gegründet sei. Dieses »Werden in Gemeinschaft« (Butler) ersetze »die Idee des souveränen, solistisch oder avantgardistisch oder handelnden autonomen Subjekts«. Er schließt mit der Aufforderung, »den Schmerz in ein Rufen, in ein Schreien, zu verwandeln und damit das leibliche Werden in Gemeinschaft – in den Raum des Politischen hinein – zu konstituieren«. Was das nun genau heißt – diese Auseinandersetzung ist zu führen.