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19.2.2019

aus: Wildcat 103, Winter 2019

Hin und wieder packen wir kulturelle oder historische Anmerkungen in stark verdichteter Form auf die zweite Umschlagseite. Bei der Wildcat 103 haben wir es nicht geschafft, Ausführungen zu Stalingrad auf eine Seite zu verdichten. Stalingrad war nach der russischen Revolution die zweite Wende im 20. Jahrhundert und gleichzeitig die Grundlage sowohl der Kalten-Kriegs-Konstellation als auch von revolutionären Mythen. Wir haben den Text auf drei Seiten im Heft verteilt und mussten trotzdem einige wichtige Bezüge weglassen. Deshalb stellen wir sie jetzt etwas erweitert online. Tieferes Schürfen könnte folgen, etwa in Sesto San Giovanni, dem »Stalingrad Italiens«, heute regiert von einem Lega-Bürgermeister…

Stalingrad: die zweite Wende des Jahrhunderts

Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1944 befreite die Rote Armee Leningrad. 872 Tage lang hatte die Wehrmacht die Stadt eingeschlossen. Dadurch starben rund eine Million Zivilisten, es war die größte, die Zivilbevölkerung betreffende Katastrophe der bekannten Geschichte. Hitler: »In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben.«
Ein Jahr davor hatten die deutschen Truppen bei Stalingrad kapituliert.

1975 erschien die Platte Un biglietto del tram (Eine Straßenbahnfahrkarte) der Mailänder Band Stormy Six. Das Album beginnt mit dem Stück »Stalingrad«, dem sich der zweite Song »Die Fabrik« musikalisch und in der Aussage anschließt. Diese Lieder werden noch heute (nicht nur) von älteren GenossInnen Wort für Wort mit erhobener Faust mitgesungen, wenn sie in Italien bei einem Fest, einer Demo, in einem Sozialen Zentrum aufgelegt werden. Und Banda Bassotti – die eine große Tournee durch die »befreiten Gebiete« im Osten der Ukraine gemacht haben, singen eine musikalisch deutlich triumphalistischere Version des Liedes.

Stalingrado
Fame e macerie sotto i mortai
Come l'acciaio resiste la città
Strade di Stalingrado di sangue siete lastricate
Ride una donna di granito su mille barricate
Unter den Mörsern Hunger und Schutt
Die Stadt widersteht wie Stahl
Blut pflastert die Straßen von Stalingrad
Eine Frau aus Granit lacht auf 1000 Barrikaden
Sulla sua strada gelata la croce uncinata lo sa
D'ora in poi troverà Stalingrado in ogni città
Das Hakenkreuz auf seiner vereisten Straße weiß
dass von nun an jede Stadt sein Stalingrad wird
L'orchestra fa ballare gli ufficiali nei caffè
l'inverno mette il gelo nelle ossa
ma dentro le prigioni l'aria brucia come se
cantasse il coro dell'armata rossa
Die Offiziere tanzen zur Kaffeehauskapelle
der Winter treibt den Frost in die Knochen
aber in den Knästen brennt die Luft
als sänge der Chor der Roten Armee.
La radio al buio e sette operai
sette bicchieri che brindano a Lenin
e Stalingrado arriva nella cascina e nel fienile
vola un berretto un uomo ride e prepara il suo fucile
Sieben Arbeiter im Dunkeln am Radio,
sieben Gläser stoßen auf Lenin an
Stalingrad erreicht den Hof und die Scheune,
eine Mütze fliegt, ein Mann lacht und ölt sein Gewehr.
Sulla sua strada gelata la croce uncinata lo sa
D'ora in poi troverà Stalingrado in ogni città
Das Hakenkreuz auf seiner vereisten Straße weiß
dass von nun an jede Stadt sein Stalingrad wird

1975: Ende der Arbeiterkämpfe, aber zu Beginn des Jahres ihre größte Errungenschaft: die einheitliche Scala Mobile – die automatische Anpassung der Löhne an die Inflationsrate – wird eingeführt, das sollte in den darauffolgenden zehn Jahren zu starken und egalitären Lohnerhöhungen führen. Die revolutionäre Linke sortiert sich neu; es herrscht großer Optimismus. Im Juni gewinnt die KPI die Regionalwahlen. 1976 erhält sie bei den Parlamentswahlen 34,4 Prozent der Stimmen, das beste Ergebnis ihrer Geschichte, aber sie wird nur zweiter und schwenkt auf den »historischem Kompromiss« um.
Im Mai 1975 verabschiedet der italienische Staat das erste »Antiterrorgesetz« (Legge Reale), das u.a. den Bullen im Antiterrorkampf Straffreiheit zusichert.

1974 hatten die Roten Brigaden ihre Strukturen über Mailand und Turin hinaus auf Genua, Florenz, Venedig und Rom ausgeweitet und waren von der Phase der »bewaffneten Propaganda« zum »Angriff auf das Herz des Staates« übergegangen (erstmals umgesetzt mit der Entführung des Genueser Staatsanwalts Mario Sossi im April 1974; im Juni 1976 verübten die BR ihren ersten gezielten Mordanschlag gegen den Genueser Staatsanwalt Francesco Coco, der während der Sossi-Entführung den Gefangenenaustausch verhindert hatte).

Stalingrad

Das Album der Stormy Six ist 1975 eine politische Positionierung: aus der Resistenza Legitimität und Perspektive für die aktuellen revolutionären Kämpfe beziehen. »Stalingrado« ist das inhaltliche Zentrum des Albums.

In Stalingrad kamen über 700 000 Menschen ums Leben, die meisten davon Soldaten der Roten Armee. Die Niederlage der 6. Armee vor Stalingrad brachte auch psychologisch und politisch die Wende im Zweiten Weltkrieg (militärisch war er schon vorher entschieden). Überall in den besetzten Ländern und sogar in den Konzentrationslagern schöpften die Menschen neue Hoffnung; an vielen Häuserwänden in Deutschland tauchte die Zahl 1918 zur Erinnerung an die Niederlage im Ersten Weltkrieg auf; Offiziere schlossen sich der Opposition gegen Hitler an. Und nun mussten Großbritannien und die USA damit rechnen, dass die Sowjetunion auch alleine den Krieg gewinnt. Deshalb eröffneten sie endlich die zweite Front (Landung auf Sizilien im Juli 1943 und im Juni 1944 in der Normandie), um die Stalin vorher vergeblich gebettelt hatte (»für uns ist es am besten, wenn sich möglichst viele Russen und Deutsche gegenseitig umbringen«, hatte 1941 der spätere US-Präsident Harry Truman gesagt). Die Landung der Alliierten in der Normandie war gegen die Rote Armee gerichtet und eröffnete das Rennen nach Berlin.

Am 22. Juni 1941 hatten dreieinhalb Millionen Soldaten die Sowjetunion überfallen; mit einem absoluten Vernichtungswillen gegenüber den bolschewistischen Untermenschen. Es kam von Beginn an zu Judenerschießungen, Grausamkeiten gegenüber den Kriegsgefangenen usw.

Bereits im Herbst 1941 geriet der Blitzkrieg ins Stocken; im Winter ging die Schlacht um Moskau verloren. Militärisch war damit klar, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. (Entscheidend war die Verlagerung der Rüstungsproduktion in den Osten; bereits in der zweiten Jahreshälfte 1941 produzierte die Sowjetunion mehr Panzer als Deutschland während des ganzen Jahres 1941.)

Am 23. August 1942 beginnt die 6. Armee den Angriff auf Stalingrad. Zu diesem Zeitpunkt lebten aufgrund vieler Flüchtlinge über eine Million Menschen in der Stadt – bei der Rückeroberung durch die Rote Armee waren es weniger als 8000. Hitler hatte befohlen, die gesamte Bevölkerung auszulöschen; bereits in der ersten Woche starben 40 000 durch die deutschen Luftangriffe. Schon nach drei Wochen war klar, dass der Angriff gescheitert ist. Mitte Oktober fiel der erste Schnee, bei Temperaturen unter minus 30 Grad fielen die Funkgeräte aus, und die Landser sprachen bereits von »Stalingrab«.

Mitte November schloss die Rote Armee den Kessel um 250 000 vor allem deutsche und rumänische Soldaten. Die Lage war unhaltbar, doch Hitler verbot den Ausbruch. Die meisten der eingekesselten Soldaten starben nicht infolge von Kampfhandlungen, sondern an Unterernährung und Unterkühlung. Ab Mitte Januar gab es noch 60 Gramm Brot am Tag.

Noch am 8. Januar 1943 lehnte Oberbefehlshaber Paulus die Aufforderung der sowjetischen Seite zur Kapitulation ab. Am 25. Januar wurde der Kessel in einen Süd- und einen Nordkessel aufgespalten. Am 30. Januar wurde Paulus per Funkspruch aus dem Führerhauptquartier zum Generalfeldmarschall befördert, um den Druck zu verstärken, bis zum letzten Mann zu kämpfen; denn noch nie in der deutschen Militärgeschichte hatte ein Marschall kapituliert. Am 31. Januar kapitulierte der südliche Kessel, darunter Paulus. Am 2. Februar kapitulierte der Nordkessel. Am 3. Februar wurde im Großdeutschen Rundfunk eine Sondermeldung verlesen, die 6. Armee habe »unter der vorbildlichen Führung von Paulus bis zum letzten Atemzug« gekämpft, sei aber einer »Übermacht« und »ungünstigen Verhältnissen erlegen«, alle Soldaten hätten den Tod gefunden. Man erklärte sie zu einem historischen »Bollwerk« einer nicht deutschen, sondern »europäischen Armee«, die stellvertretend den Kampf gegen den Kommunismus geführt habe.

Vor allem die Behauptung, alle deutschen Soldaten seien tot, führte zu einer massiven Legitimitätskrise des Regimes – wer BBC hörte, wusste es nämlich besser. In Stalingrad gingen 110 000 Soldaten in Gefangenschaft (am Ende des Kriegs waren über drei Millionen deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion), von ihnen sollten nur etwa 6000 zurückkehren.

Die Fabrik

Der zweite Song La Fabbrica thematisiert die Streikwelle in den norditalienischen Fabriken im Frühjahr 1943 (»Am 5. März 1943 warten in jeder Werkstatt hundert Arbeiter auf das Signal der Sirene«, »als die Stunde kommt, legen sie die Werkzeuge nieder«, aus 1000 werden Hunderttausend, und schließlich flüchten die Faschisten). Die sechswöchige historische Streikwelle im März 1943 bedeutete tatsächlich das Ende des Mussolini-Faschismus; am 24. Juli wurde Mussolini vom Faschistischen Großrat abgesetzt. Aber diese Welle von Arbeitsniederlegungen ging nicht von FIAT Mirafiori, sondern von kleinen Fabriken aus und wurde anfangs vor allem von Frauen getragen. Es waren nicht die kommunistischen Avantgarden, von denen nur noch wenige in den Fabriken waren, viele Männer waren zwangsrekrutiert, es war nicht »Lenin« wie bei den Stormy Six, sondern ausgehungerte Arbeiterinnen, die mit großem Mut und Erfindungsreichtum Lohnerhöhungen forderten und Schluss machen wollten mit Krieg und Faschismus.

In Sesto San Giovanni gab es die meisten Streiks und die wohl die engste Verknüpfung zwischen Arbeiterkampf mit dem Kampf gegen Faschisten und deutsche Besatzer. Hier operierte noch bis 1949 die Volante Rossa. Sesto San Giovanni wurde deshalb das »Stalingrad« Italiens genannt – was auch zeigt, wie der Begriff in die Alltagssprache etwa Italiens und Frankreichs einging – im starken Kontrast zum deutschen Sprachraum.

Der bewaffnete Kampf in den Städten und andere Mythen

Auch die GAP bzw. ihr größter Held werden auf dem Album der Stormy Six besungen: Dante di Nanni (»100 Faschisten haben sich zusammengerottet, um dich zu ermorden / noch immer ist er unter uns, eines Morgens hab ich ihn in der U-Bahn gesehen, er blutete stark, doch er lächelte / auf anderen Gesichtern sah ich Zweifel und Müdigkeit, doch auf seinem nicht«).

Im September 1943 stellte die illegale KPI die Stadtguerillagruppen GAP (Gruppi di Azione Patriottica [!]) auf. Damit verfolgte sie zwei Ziele: die Führungsrolle der KPI im antifaschistischen Bündnis behaupten und den ItalienerInnen deutlich machen, dass Krieg herrscht und sie sich nicht weiter »arrangieren« würden können. Die Geschichte der GAP ist eine von schlecht ausgerüsteten Kämpfern mit sehr kurzer Überlebenszeit. Dante di Nanni ist ein besonders trauriges Kapitel, er hatte sämtliche Regeln der illegalen Arbeit missachtet – aber die Propaganda der illegalen KP hat aus seinem sinnlosen Tod sofort eine lange wirksame Heldengeschichte gebastelt.

Einerseits Übernahme der Heldenmythen, andererseits keine Kritik am antifaschistischen Bündnis, in das Togliatti und seine Kader die Resistenza trieben. Obwohl es hieß, den Aufständischen die revolutionären Hoffnungen auszutreiben und sie auf den kapitalistischen Wiederaufbau einzuschwören. Eine Verliererstrategie. Aufgrund der Amnestie, die Togliatti 1946 als Justizminister erlassen hatte, kamen fast alle 50 000 Faschisten aus dem Gefängnis frei und zurück in ihre Ämter in Behörden, Polizei und Betrieben «. Trotz aller Konzessionen flogen die Kommunisten 1947 aus der Regierung.

Diese Kalte-Kriegs-Konstellation (antikommunistische Hetze und »geh doch nach drüben!«) wurde erst durch 1968 aufgebrochen – aber gerade der französische Mai und »Prag« zeigen, dass die Koordinaten nicht vollständig abgeräumt wurden und über »1968« hinaus wirksam blieben. In Prag wurden die Versuche eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« von Panzern des Warschauer Pakts überrollt; im französischen Mai/Juni (Generalstreik mit Aufstandscharakter) behielt schließlich die KPF die Kontrolle.

Es ist geradezu dramatisch, dass sich die revolutionäre Linke ab 1969 erneut in diesem Koordinatensystem verankerte (Orientierung an »Moskau« oder »Peking«, Rückbezug auf die »verratene Resistenza«). (Nicht nur) im Falle Italiens ließen sich dafür gute Gründe anführen: Mehrmals stand die Drohung eines faschistischen Putschs im Raum, seit 1969 gab es ständig Bombenanschläge gegen Demos, auf Züge, gegen Gewerkschaftshäuser usw. Da lag es doch nahe, der staatstragenden KP ihre revolutionäre Vergangenheit entgegenzuhalten? Für die Roten Brigaden hatte der Bezug auf die Resistenza eine strategische Bedeutung (auch weil das bei der Arbeiterbasis der KPI gut ankam). Feltrinelli hatte seine 1970 bis 1972 aktive Guerilla sogar GAP (Gruppi d'Azione Partigiana) genannt, in direktem Bezug auf die historischen GAP. Aber die Geschichte der KPI zwischen 1943 bis 1947 ist keine »revolutionäre«, die KPI war damals schon staatstragend, indem sie alle revolutionären Hoffnungen dem Antifaschismus unterordnete.

Der Mythos von der »verratenen Resistenza« bezog sich stark auf die »vergrabenen Gewehre« der Partisanen. Den jederzeit möglichen bewaffneten Kampf habe Togliatti nach dem Attentat auf ihn im Juli 1948 »verraten«, als er noch vom Krankenbett aus den Aufstand absagte. Wahrscheinlich hatte Togliatti damit ein einziges Mal in seinem Leben recht; denn nun war es dafür definitiv zu spät, die Nachkriegsordnung der Alliierten hatte sich europaweit durchgesetzt.
Der Bezug auf die Mythen der Kommunistischen Partei ist einer der wichtigsten Gründe für den totalen Zusammenbruch der linken Narrative Ende der 80er Jahre.

»Überlasst die Idee, verraten worden zu sein, einem eifersüchtigen Ehemann«

Tipp zum Weitersehen:
Tipps zum Weiterlesen:
  • Im Heft 12 der Autonomie - Neue Folge erschien 1983 der Artikel Arbeiterautonomie und »Bewaffnete Partei« Zur Geschichte der Roten Brigaden, der vor allem die Vorgeschichte der Roten Brigaden behandelt und 1975 abbricht. Er geht weit zurück in die Geschichte der Resistenza und arbeitet heraus, wie die KPI »zum Hauptakteur der Entwaffnung der Widerstandsbewegung« wurde. »Revolutionäre Aktionen, die dem Programm der ,nationalen Einheit' widersprachen, wurden entweder als `neofaschistische Umtriebe‘ … als `trotzkistisch-bordighistische‘ … (oder) `titoistische Provokationen‘ gebrandmarkt.« »Und um sie vollends zu verhöhnen, erließ Justizminister Togliatti 1946 eine pauschale Amnestie für die meisten noch inhaftierten Faschisten. So wurden die Gefängnisse geleert, um Platz für die renitenten Partisanenavantgarden zu machen. Tatsächlich erfolgten die umfangreichsten Verhaftungsaktionen gegen sie noch zu einer Zeit, als die PCI Regierungspartei war.«
    Richtig gut, wie er die KPI angreift; aber politisch total schwach, indem er die Durchsetzung der Parteilinie als »Verrat« an der Basis fasst. Dazu muss er diese Basis überhöhen, besonders die Stadtguerillagruppen; und das wird zu reinem Wunschdenken. Womöglich war damals die Quellenlage noch nicht so gut wie heute; allerdings waren die Lebenserinnerungen von Giovanni Pesce »Senza tregua. La guerra dei GAP« bereits 1967 von Feltrinelli verlegt worden! Pesce, einer der wichtigsten Kommandanten der GAP, blickte hier eher pessimistisch zurück. Trotzdem nannte die Strömung von Potere Operaio, aus der später die Stadtguerilla Prima Linea werden sollte, ihre Zeitung ebenfalls »Senza Tregua« [Ohne Waffenstillstand]).
    Trotz seiner historischen Fehler ein Artikel, den (erneut) zu lesen sich lohnt, gerade auch um den hartnäckigen Mythos der »verratenen Resistenza« und dessen Bedeutung für die Gruppen des bewaffneten Kampfs in Westeuropa zu verstehen.
    Das ganze Heft ist mittlerweile digitalisiert, der Artikel findet sich auf den Seiten 68 bis 100.

  • Primo Rocca war ein Comandante der Partisanengruppe Stella Rossa im Piemont. Im Sommer 1946 war er führend an einer bewaffneten Revolte ehemaliger Partisanen Santa Libera (Santo Stefano Belbo) beteiligt. Sie rebellierten gegen die stillschweigende Wiedereingliederung von Ex-Faschisten in öffentliche Institutionen und die gleichzeitige Entlassung ehemaliger Partisanen.
    Vor kurzem sind seine Lebenserinnerungen in Romanform erschienen: »per sempre partigiano«; bisher leider nicht auf Deutsch erhältlich; wir haben ein paar Kapitel übersetzt. Darin die folgende Anekdote: Um 1968 herum kontaktiert ihn ein Pärchen, das aus der KPI kommend, nun in der außerparlamentarischen Linken unterwegs ist und eine Guerilla aufbauen will.

    »Ich frage etwas genervt, warum sie sich an mich wenden.
    ›Ein ruhmreicher Partisanenkommandant kann die Rückkehr des Faschismus nicht dulden.‹
    ›Die Toten kehren nur als Fantasmen in den Köpfen derer zurück, die sie brauchen. Der Rest ist Staub und Asche.‹
    Aber die beiden insistieren: ›Der Faschismus klopft wieder an die Türen Europas.‹ ›Sucht euch eine andere Fahne.‹
    ›Gefällt dir die des Antifaschismus nicht.‹ ›Es geht nicht darum ob sie mir gefällt. Das ist eine Dummheit.‹
    ›Dann teilst du unsere Idee eine neue Partisanenbewegung zu gründen nicht.‹
    ›Lasst das bleiben. Ihr habt das Glück euer Leben voll und ganz zu leben. Eure Geschichte. Ich weiß nicht genau, was gerade passiert, aber eins ist sicher. '68 hat weniger als gar nichts mit der Resistenza zu tun. Warum versteift ihr euch darauf das Leben von anderen zu leben, ein Leben das mit euch nichts zu tun hat, eine Geschichte von der ihr euch Ehre erwartet, aber stattdessen führt sie euch schnurstracks zu den dümmsten Gemeinplätzen der Gegenwart.‹
    ›Erlaub uns zu widersprechen. Die Resistenza hat den Faschismus geschlagen und Italien ein neues Gesicht gegeben. Nun werden ihre Ideale verraten.‹
    ›Ich erlaube, dass ihr nicht mit mir übereinstimmt. Ich freue mich darüber. Es wäre schlimm, wenn junge Leute wie ihr meinen Kopf hättet. Aber die Idee verraten zu werden, tut mir den Gefallen und überlasst sie irgendeinem eifersüchtigen Ehemann.‹«
    Nach diesem Gespräch fiel Primo Rocca wieder in tiefe Depressionen bis zu seinem Tod; davor hatte er kurzzeitig gehofft, 1968 könne wirklich die Welt ändern.

  • Zu den GAP ist 2014 bei Einaudi ein sehr wichtiges, gut recherchiertes Buch von Santo Peli erschienen: Storie di Gap. Bisher leider nicht auf Deutsch; der Autor macht aber hin und wieder Veranstaltungen in Deutschland.

  • Tim Mason, Massenwiderstand ohne Organisation: Streiks im faschistischen Italien und NS-Deutschland in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Bd. 32, 1984; als pdf bei der Ebert-Stiftung

  • Eine lesenswerte italienische Beschreibung der Zeit des Faschismus in Sesto San Giovanni findet sich in der Geschichtsrubrik der Website von Cinisello Balsamo einer Nachbarkommune von Sesto San Giovanni.

  • Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Gerlach hatte als Oberleutnant der Wehrmacht an der Schlacht von Stalingrad teilgenommen. Während seiner Gefangenschaft in der Sowjetunion wurde er Angehöriger des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees Freies Deutschland. In diesen Organisationen versuchten kommunistische Emigranten, Künstler und ehemalige Wehrmachtsangehörige, die deutschen Soldaten von der Sinnlosigkeit des Krieges zu überzeugen. Sie ließen Flugblätter über den deutschen Linien abwerfen und gaben eine eigene Zeitung, das Freie Deutschland, heraus, für die Gerlach 21 Artikel schrieb. Im Lager schrieb er seinen Roman, der allerdings vom russischen Geheimdienst eingezogen wurde, da nicht »antifaschistisch«. In die BRD zurückgekehrt, schrieb er den Roman – teilweise unter Hypnose – nochmal, er erschien 1957 unter dem Titel »Die verratene Armee«. Der Titel bediente das damalige Narrativ: Hitler war schuld, die Wehrmacht wurde »missbraucht«. Anfang 2016 ist der ursprüngliche Roman erschienen, eine ungeschminkte Schilderung von Stalingrad.
    Eine sehr lesenswerte Besprechung von Stefan Siegert erschien am 28. August 2018 in der Jungen Welt: »Im Kessel«.

 
 
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