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7.4.2019

aus: Wildcat 103, Winter 2019

Die NSU Morde sind noch nicht vergessen. Am 4. April gedachten in Dortmund mehrere hundert Menschen dem vor zwölf Jahren ermordeten Mehmet Kubaşık mit einer Demonstration. Nach der gescheiterten (juristischen) Aufklärung sind immer noch viele Fragen offen. Gerade was die Verstrickung staatlicher Stellen in diesen Komplex angeht. In bezug auf solche Verstrickungen fördert das weitere Bohren zum Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt gerade brisante Informationen zutage. Anfang April stellte Telepolis einen Artikel online, der brillant aufzeigt, was wir allein schon aus den öffentlichen Verlautbarungen von Beamten der inneren Sicherheit über staatliche Strategien erfahren können. Hier unser Artikel zu diesen Fragestellungen aus dem letzten Heft:

NSU 2.0

Mit »NSU 2.0« waren Drohbriefe aus der hessischen Polizei an die Rechtsanwältin Başay-Yıldız unterschrieben; den ersten hatte sie im August 2018 bekommen. Angeblich aus ermittlungstaktischen Gründen wurde das lange geheim gehalten. Nachdem einige Bullen deswegen vom Dienst suspendiert wurden, bekam sie Mitte Januar erneut einen Brief mit Todesdrohungen, wiederum unterzeichnet mit »Heil Hitler! NSU 2.0«. Die Medien schrieben von »rechten Umtrieben bei der hessischen Polizei«, »Rechtsextremes Netzwerk um NSU 2.0 wohl größer als gedacht«, »Das ganz große Aufräumen«, usw., und einige begannen, weitere solche Netzwerke aufzudecken.

Eine Mitte November 2018 veröffentlichte taz-Recherche blieb hingegen beinahe unbeachtet. Sie stößt wesentlich tiefer: Überall in der BRD und darüber hinaus in Österreich und der Schweiz bereiten sich Gruppen koordiniert auf den Umsturz vor: Elitesoldaten, Reservisten, Polizeiausbilder, Kriminal- und SEK-Bullen, Anwälte, Feuerwehrleute, Banker, Mediziner, Handwerksmeister, Richter und weitere Beamte z.B. aus dem Verfassungsschutz, Freimaurer, Reichsbürger, Prepper… Sie haben ein Netz von »safe houses« aufgebaut, Depots mit Treibstoff, Nahrungsmitteln und Munition angelegt und Lagerhallen angemietet, in denen am »Tag X« massenhaft politische Gegner interniert und liquidiert werden sollen. Der Focus schreibt von einer »Untergrundarmee«.

In Rostock hatte eine solche Gruppe bei Geburtstagsfeiern Wettschießen um einen Pokal veranstaltet, benannt nach Mehmet Turgut, den der NSU 2004 - ebenfalls in Rostock - erschossen hat. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt.

Vor elf Heften, in der Wildcat 92 hatten wir eine Analyse des NSU versucht. In der Zwischenzeit wurden Dinge bekannt, die im November 2011, als der NSU aufflog, zu einer Staats- und Regierungskrise geführt hätten. Durch die sofort einsetzenden Schredderaktionen wurden sie nur Stück für Stück bekannt, und: sie wurden im Modus des »Skandals« bearbeitet (dafür waren Untersuchungsausschüsse und Medien wichtig). Es wurde hinter immer neuen Enthüllungen hergejagt, die grundsätzliche Debatte über die Bedeutung unterblieb. Die Logik des politischen Skandals besteht vor allem darin, dass er vorbei geht und sich nichts Grundsätzliches ändert. Inzwischen will der Staat auf allen Ebenen Schlussstriche unter die Beschäftigung mit dem NSU ziehen. Das konnte man am Urteil des OLG München sehen (siehe Wildcat 102); das sieht man bei den noch laufenden parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Der Richter Götzl wurde inzwischen – wie viele andere mit dem NSU befasste Beamte – befördert: zum Vizepräsident des neu eingerichteten Bayrischen Obersten Landesgerichts.

Aber das Kapitel NSU ist nicht abgeschlossen, im Gegenteil! Die Drohbriefe von Berliner Bullen gegen Leute aus der Rigaer Straße, die um »Chemnitz« herum bekannt gewordenen Staatsdiener mit faschistischen Neigungen, das von der taz aufgedeckte Preppernetzwerk1, die Drohungen gegen Başay-Yıldız, u.v.a zeigen im Gegenteil, dass wir es mit einer neuen Stufe zu tun haben. Başay-Yıldız hatte nicht nur im Münchner Prozess die Familie des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek vertreten; sie war auch die Anwältin von Sami A. (»Bin Ladens Leibwächter«), der Mitte Juli unrechtmäßig nach Tunesien abgeschoben wurde – beides Abrisskanten in der Auseinandersetzung zwischen »tiefem Staat« vs. »Merkel & ihre scheiß Gut-Menschen« (siehe Wildcat 102).

Ein bisschen Staatskunde – »Unser 11. September« (Range)

Der Staat ist der »geschäftsführende Ausschuss der herrschenden Klasse« und als solcher umkämpftes Terrain (die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen müssen abgewogen, Profitinteressen müssen mit Fragen der gesellschaftlichen Stabilität vermittelt werden, usw.). Staaten können verschwinden; die DDR ist weg, das Kapitalverhältnis blieb. Viele Staaten zerfielen in den letzten Jahrzehnten in Bürgerkriegen, seit 9/11 betreibt die US-Außenpolitik den Zerfall von Staaten (Irak, Lybien, Syrien…). Neoliberale träumen davon, den Staat so schwach zu machen, dass sie ihn »wie ein Kleinkind in der Badewanne« ersäufen können. Und tatsächlich gibt es eine massive Tendenz zum »Rückzug des Staats aus der Fläche« (Kreisgebietsreformen usw. Ziel ist immer die Reduzierung staatlicher Ausgaben durch Schließung von Krankenhäusern, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen). Bezeichnenderweise treibt die PdL dort, wo sie an der Regierung beteiligt ist, solche »Reformen« voran. Gleichzeitig läuft eine massive Aufrüstung des »Sicherheitsstaats«.

Der Staat ist kein Terrain, auf dem wir kämpfen können. Sollte da noch jemand Illusionen gehabt haben, kann er sich anschauen, wie staatskonform sich die Vertreter der PdL in den NSU-Untersuchungsausschüssen verhalten, wo sie selber an der Macht sind (besonders peinlich gerade Thüringen und Brandenburg). Wer an der Regierung ist, weiß über den »tiefen Staat« Bescheid – und verteidigt dessen Notwendigkeit.

Der »tiefe Staat« – die Handlungsmacht über verschiedene Stufen des Ausnahmezustands – ist konstitutiv für jeden Staat.2 Beispiele in der Vergangenheit waren Gladio im Kalten Krieg, die öffentlichen Diskussionen im »deutschen Herbst«, was man an extralegalen Möglichkeiten bräuchte (Dregger, Strauß…), die Todesliste des NSU mit rund 10 000 Menschen.

Gerade deswegen war es die Strategie der Bundesanwaltschaft (BAW), vor und mit dem OLG München die These des Trios festzuklopfen, das allein gehandelt haben soll, mit einer Kleinstgruppe von Unterstützern. Die allerengsten Unterstützer gingen in München sämtlich beinahe straffrei aus. Somit hat auch der Teil der Strategie funktioniert, alle Vorstöße der Nebenkläger mit dem Verweis auf die noch laufenden Ermittlungen gegen weitere Unterstützer abzublocken. Denn nachdem Eminger, der als »überzeugter Nationalsozialist« das Trio mehr als 14 Jahre unterstützte, Zschäpe sogar noch im November 2011 bei der Flucht half, mit einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe davonkam und noch im Gerichtssaal aus der U-Haft entlassen wurde… – wie soll da noch gegen andere Helfer Anklage erhoben werden? Entsprechende Verfahren würden nur deshalb noch offen gehalten, »um den Hinterbliebenen des NSU-Terrors oder Untersuchungsausschüssen Auskünfte und Akteneinsicht zu verweigern« (Sebastian Scharmer, Anwalt der Tochter des NSU-Mordopfers Mehmet Kubaşık).

Auf Anfrage der taz teilte das Innenministerium im Januar 2019 zudem mit, dass »im NSU-Komplex« 2018 keine Präsidenten, Amtsleiter oder V-Personen-Führer des Verfassungsschutzes mehr vernommen wurden. Ermittlungsverfahren gegen Beamte des Geheimdienstes seien »nicht anhängig«. (taz 23.1.19 »NSU-Ermittlungen stecken fest«). Somit auch hier der Schlussstrich: die Rolle der Geheimdienste in der Mordstrategie wird nicht aufgeklärt, stattdessen werden sie aufgerüstet und mit mehr Macht ausgestattet.3

Zur Erinnerung nochmal kurz die Geschichte des NSU in vier Phasen:

In der ersten Phase wurde die Anti-Antifa und daraus dann der Thüringer Heimatschutz weitgehend mit V-Leuten wie Tino Brandt aufgebaut. »Der Aufbau und die Entwicklung [des NSU] geschahen unter den Augen des Thüringer Verfassungsschutzes, der einen Teil der Akteure und Aktivitäten nicht nur duldete, sondern aktiv unterstützte«, schrieb Bodo Ramelow, bevor er Ministerpräsident von Thüringen wurde. »Wer in den 1990er Jahren Waffen für die rechte Szene besorgt habe, der habe sich im Nachhinein als V-Mann herausgestellt«. (junge welt 22.10.2016 »Ausgebremste Kriminalisten«) Anfang 1998 wurde das Trio »in den Untergrund geleitet«, aus einer Szene heraus, die massiv vom Verfassungsschutz aufgebaut und kontrolliert war. So dicht, dass es immer wieder Vermutungen gibt, jemand von den drei sei ebenfalls V-Person gewesen. 2002 stellte die Polizei die Zielfahndung nach dem Trio ein. Denn es war deutlich geworden, dass das Landesamt für Verfassungsschutz die Zielpersonen schützte.

Die zweite Phase:

Morde und »Fahndungspannen«

Ein Beispiel aus Chemnitz für »Fahndungspannen«: Das Trio ging nach seinem Untertauchen direkt nach Chemnitz zu Mandy Struck und blieb bis März 1999 in der Stadt. Sie überfielen auch mehrere Banken in Chemnitz. Sie konnten sich auf Unterstützung - auch im Staatsapparat - verlassen. Im Mai 2000 observierten Polizei und Verfassungsschutz aus Sachsen und Thüringen die Wohnung von Mandy Struck in der Chemnitzer Bernhardstraße. Dabei wurde ein Mann fotografiert, den das BKA mit hoher Wahrscheinlichkeit für Böhnhardt hielt. Am 9. September 2000 wurde Enver Şimşek ermordet. Im Oktober fragten die Beamten dann Mandy Struck und ihren Partner Kai S., ob es sich bei dem Mann auf dem Foto um den Gesuchten handelte, beide verneinten. Als kurz darauf Kai S. erst von einer Telefonzelle aus jemand Unbekannten anrief und danach in seiner Garage einen Grill aufbaute und zwanzig Minuten lang Unterlagen verbrannte, unternahm die anwesende Polizei – nichts. Die Zielfahndung wurde dann abgebrochen.

Laut Geheimbericht der BfV an die parlamentarischen Kontrollgremien vor Weihnachten 2011 war der VS »zumindest bis 2001 gut über das Nazi-Trio im Untergrund und seine Unterstützer informiert«.

Am 13. September 2000 verbietet Innenminister Schily Blood&Honour. Deren Strukturen bzw. die von Combat 18 sind für die Untergetauchten in der ersten Phase existenziell, sowohl was die konkreten Taten und deren logistische Unterstützung betrifft, als auch die Waffenbeschaffung und die Finanzierung. Gerade in den beiden Städten, in denen zu dieser Zeit Combat 18-Gruppen existierten (Kassel und Dortmund), geschahen am 4. und am 6. April 2006 zwei Morde des NSU.

Der Mord in Kassel

Erst der hessische Untersuchungsausschuss rückte die aus Thüringen stammende Corryna Görtz in den Fokus. Sie gehörte in den 1990er Jahren wie Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos zum THS. Ab Mitte der 1990er war sie in und bei Kassel ansässig. Ein Ex-Neonazi aus Kassel erzählte im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss, dass sie damals Kasseler Faschos zum Bombenbauen animierte; sie soll auch ein Heftchen mit entsprechenden Anleitungen verbreitet haben. Um 1994 arbeitete sie im Sekretariat von Thorsten Heise, damals Landesvorsitzender der FAP in Niedersachsen. 1995 reiste sie zusammen mit Dirk Winkel und Stanley Röske zu einer Neonaziveranstaltung. Dirk Winkel war FAP-Chef in Kassel und bewegte sich im engsten Kreis um Heise, Stanley Röske ist heute Chef einer Sektion von Combat 18 (das 18 steht für »Adolf Hitler«). Die Polizei sah in Görtz um das Jahr 2000 die Hauptkontaktperson der Kasseler Szene zur C18-Heise-Truppe »Kameradschaft Cismar«. Anfang der 2000er Jahre setzte sich Görtz nach Österreich ab, um einer Haftstrafe zu entgehen. 2003 kehrte sie in die BRD zurück und trat die Haftstrafe in Kaufungen bei Kassel an. Vom Herbst 2005 bis Februar 2006 war sie in Baunatal bei Kassel im offenen Vollzug und besuchte zu dieser Zeit als Freigängerin mehrfach das Internetcafé von Halit Yozgat. Warum? Es lag von der JVA Baunatal aus am anderen Ende der Stadt in der migrantisch geprägten Holländischen Straße, die in der rechten Szene einen entsprechend schlechten Ruf hatte.

»Bei ihrem Auftritt als Zeugin vorm hessischen NSU-Untersuchungsausschuss im September 2017 wurde Görtz mit Fußfesseln aus der JVA vorgeführt. Sie stritt alles ab, was man ihr nicht hieb- und stichfest nachweisen konnte, doch sie redete. Von Abgeordneten, denen entsprechende Hinweise vorlagen, wurde sie gefragt, ob sie als Informantin für den österreichischen Geheimdienst arbeitet bzw. gearbeitet hatte. Hierzu verweigerte Görtz jede Aussage.

(Wir haben) den Eindruck, der sich im Verlauf der NSU-Ermittlungen verfestigt hat: Sobald eine Spur ins Innere des Netzwerkes von Heise führt, werden die Akten beiseite gelegt.«4

Mit dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel endete die Česká-Serie. Er ist vermutlich ein Schlüssel zum gesamten NSU-Komplex. Der Verfassungsschützer Andreas Temme war am Tatort. Ein Besucher des Internet-Cafés sagte aus, dass Temme mit einer Plastiktüte in der Hand rausging. In der Tüte habe sich ein schwerer Gegenstand abgebildet.

Die Polizei hatte schon 2006 herausgefunden, dass Temme auch am 9. Juni 2004 in Köln war, als in der dortigen Keupstraße die Nagelbombe gezündet wurde. Die Kasseler Kriminalpolizei verfolgte zum Mord an Yozgat zwei Ermittlungshypothesen: »Temme war der Täter« oder »Temme und ein V-Mann waren Mittäter«. Eine dritte Hypothese stellte damals Temmes eigener Arbeitgeber, das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, auf: »Temmes V-Mann war der Täter«. Benjamin Gärtner, Deckname »Gemüse«, Kontakte zum THS. Mit ihm telefonierte Temme am Tattag zweimal, um die Mittagszeit wenige Sekunden und etwa eine dreiviertel Stunde vor der Tat über elf Minuten lang. Von den Treffs mit »Gemüse« im Jahr 2006, etwa zwei pro Monat, sollen keine Berichte existieren. Temme und Gärtner waren auch persönlich Teil der Mischszene zwischen Neonazis, Rockerbanden und kriminellem Milieu, in dem sich auch Corryna Görtz bewegte. In der abgebrannten Wohnung in Zwickau fand sich ein Stadtplan von Kassel. Darauf waren verschiedene Objekte gekennzeichnet, die an den Fahrtstrecken Temmes zwischen seiner Wohnung und der Dienststelle lagen.

Der Geheimschutzbeauftragte des hessischen Verfassungsschutzes, Gerald-Hasso Hess, sagte in einem abgehörten Telefonat im Mai 2006 zu Temme: »Ich sage ja jedem, wenn der weiß, dass irgendwo sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren.« Ein Dossier des Hessischen LKA über den NSU, in dem es wohl um die Verwicklung von Temme geht, wurde im Juli 2017 für 120 Jahre gesperrt.5

Drittens: Die Operationen Rennsteig und Konfetti

1992 rekrutierte das BfV den Zwickauer Blood &Honour-Aktivisten Ralf Marschner als V-Mann »Primus«.6 Er hatte am 3. Oktober 1991 zusammen mit 100 anderen ein Ayslbewerberheim in Zwickau gestürmt und angezündet. Zehn Jahre danach wird seine logistische Hilfestellung für den NSU entscheidend (u.a. das Anmieten von Tatfahrzeugen). Er wird bis heute von den Geheimdiensten gedeckt und musste noch vor keinem Untersuchungsausschuss aussagen.

1994 wurden mindestens fünf weitere V-Leute geworben, die sich später um den NSU herum bewegen sollten: Tino Brandt, Thomas Richter, Michael See, Achim Schmid und Carsten Szczepanski.

1997 begann die »Operation Rennsteig«, an der neben dem Thüringer Landesamt, das Bayrische Landesamt, das BfV und der MAD beteiligt waren. Sie wurde vom BfV gesteuert und diente dem Aufbau einer wirkungsvollen V-Mann-Struktur. Auf der »Rennsteig«-Liste sollen über 70 Namen von Neonazis gestanden haben, die auf eine Zusammenarbeit angesprochen werden sollten. Unter anderem Marcel Degner aus Gera, André Kapke, Ralf Wohlleben, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Holger Gerlach (alle aus Jena). Mundlos wurde eine Woche vor seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr angesprochen und soll abgelehnt haben. (Seine Eltern gehen davon aus, dass ihr Sohn ein V-Mann war.) Wie viele der aufgelisteten Personen als V-Leute gewonnen wurden, ist nicht bekannt. Der damalige BfV-Verantwortliche Axel Minrath mit dem Decknamen »Lothar Lingen« sprach im NSU-Untersuchungsausschuss II des Bundestages von »deutlich unter zehn«. Minrath ist befreundet mit Marschners V-Mann-Führer »Richard Kaldrack«; und es war Minrath, der im November 2011 die als »Operation Konfetti« bekannt gewordene Aktenvernichtung in großem Stil anordnete. Dabei wurden mindestens sieben V-Mann-Akten aus der »Rennsteig«-Aktion vernichtet. Darauf angesprochen, sagte Minrath, die Menge der V-Leute im NSU-Umfeld habe unangenehme Fragen befürchten lassen. »Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft.« (Minrath im Oktober 2014 in einer »Vernehmung« durch die BAW)

Viertens: Untersuchungsausschüsse und OLG

Sowohl in den Ermittlungen, als auch im Prozess und den Untersuchungsausschüssen hat der Staat gegen jeden gesunden Menschenverstand immer die Linie durchgezogen: der NSU bestand aus drei Personen. Die Strukturen drum herum wurden geschont, die Bedeutung der Todesliste unter den Teppich gekehrt. Das OLG-Urteil vom Juli 2018 war ein gelungener Akt der Wiedereingliederung. Eminger ist seither wieder in der Neonazi-Szene aktiv. Wohlleben, laut BAW die »steuernde Zentralfigur der Unterstützerszene« des NSU, ist in das Dorf Bornitz in Sachsen-Anhalt gezogen, wo ihn die Faschoszene als Held verehrt. Er hat auch Verbindungen zu den im Herbst 2018 Verhafteten von »Revolution Chemnitz«.

Dazu passt der staatliche Umgang mit dem 2012 (neu) gegründeten »Combat 18«. Auch hier fällt die seltsame Straflosigkeit der kompletten Struktur und deren Unbesorgteit im Auftreten auf. Regionale Schwerpunkte in der BRD sind in Dortmund, Ostholstein, Thüringen und Nordhessen (Kassel). Das BfV verharmlost diese Struktur konsequent – mit dem offensichtlichen Interesse, eine Zerschlagung zu verhindern. »Nach jahrelanger Beobachtung dieser Gruppe drängt sich der Verdacht auf, dass C18 Deutschland ein „Honeypot“ ist, den Geheimdienste und/oder Polizei installiert haben, um Militante anzulocken, deren internationale Vernetzung auszuspähen und deren Aktivitäten in gewünschte Bahnen zu lenken.«7 Das erinnert an den Umgang mit RechtsRock und mit dem NSU.

Kristallisationsfigur und Spiritus Rector von C18 ist Thorsten Heise, NPD-Vizevorsitzender und Landeschef in Thüringen und Verbindungsfigur zu Höcke in der AfD. Seine Strukturen werden seit Jahren von Polizei und Geheimdiensten vor Verfolgung geschützt. »Die einzig schlüssigen Erklärungen hierfür sind, dass um Heise ein engmaschiges Netz von V-Leuten ausgelegt ist und die Behörden glauben, darüber seine Aktivitäten zu überwachen und steuern zu können – oder dass Heise selbst ein Spitzel in staatlichen Diensten ist.«8

Stay behind

Jeder Staat, der in die NATO eintreten wollte, musste eine paramilitärische, sogenannte »stay behind«-Struktur vorweisen, die im »Spannungsfall« an der »zweiten Front« im Innern kämpfen kann. Die Mitglieder dieser Strukturen wurden aus militärischen Spezialeinheiten, Geheimdiensten und faschistischen Organisationen rekrutiert. Für Italien ist die Rolle des dort »Gladio« genannten Netzwerks am besten dokumentiert: es griff mit Terroranschlägen direkt in die Klassenkämpfe ein. Die »Strategie der Spannung« sollte Ängste verbreiten und autoritäre, staatliche Maßnahmen rechtfertigen.

In der BRD kam die Sache bereits in den 50er Jahren raus, als der damalige hessische Generalstaatsanwalt, Fritz Bauer, ein von »Stay behind« genutztes Gebäude von der Polizei durchsuchen ließ. Dabei wurde u.a. eine Todesliste gefunden, auf der auch der hessische Ministerpräsident August Zinn (SPD) stand. Es gab einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Landtag – das war‘s.

2013 erklärte die Bundesregierung, 1991 habe der BND »infolge der weltpolitischen Veränderungen« und »in Abstimmung mit seinen alliierten Partnern« die Stay behind-Organisation aufgelöst.

Viele halten diese Erklärung für unwahr; wahrscheinlicher ist aber, dass sie stimmt und dass sich das »wiedervereinigte Deutschland« auch auf diesem Gebiet neu ausrichten wollte. Viele Recherchen zum NSU haben aufgezeigt, wie die Sicherheitsapparate in den 90er Jahren aufgerüstet wurden, die Faschoszene radikalisierten und bewaffneten. Der NSU war ein Teil dieser Operation, bei der aus dem »tiefen Staat« aus den Zeiten des Kalten Kriegs eine moderne Interventionsstruktur gemacht wurde. Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, wäre der »Selbstmord« von Böhnhardt und Mundlos im November 2011 eine erneute Zäsur: Personal wird ausgetauscht, die Strukturen aber erhalten. Mit der globalen Krise gab es ab 2008 weltweit wieder ein (kurzes) Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus, selbst z.B. in der FAZ. Gleichzeitig entstand aus der Erfahrung, der Kapitalismus könne von heute auf morgen zusammenbrechen, eine breite, widersprüchliche Szene von »Preppern«. Es lag nahe, diese zu beobachten, ihre Entwicklung zu steuern und dafür Personal zu rekrutieren – also genau das, was man in der ersten Hälfte der 90er Jahre mit der Fascho-Szene der »Generation Hoyerswerda« gemacht hatte, mit dem Unterschied, dass es sich diesmal um deutlich mehr Beamte und Elitesoldaten handelt.

»Hannibal«

Nachdem die taz und der Focus im November 2018 ein para-staatliches Netzwerk aufgedeckt hatten, herrschte weitgehend Stille in der veröffentlichten Meinung. In diesem Netzwerk war auch Franco A. aktiv, der mit einer falschen Identität als syrischer Flüchtling Terroranschläge vorbereitet hatte, aber Mitte 2017 aufgeflogen war. Er war zuvor in der Bundeswehr offen als Faschist aufgetreten und dafür nicht diszipliniert oder entlassen worden. Die Verteidigungsministerin hatte deshalb Bundeswehrkasernen nach NS-Devotionalien durchsuchen lassen und vom Offizierskorps Aufklärung verlangt. Sie musste zurückrudern und sich öffentlich entschuldigen! Danach wurde der Teppich des Vergessens über die Sache gelegt und Franco A. Ende 2017 sogar aus der Untersuchungshaft entlassen – das OLG Frankfurt sah keinen hinreichenden Tatverdacht gegen ihn und ließ die Klage nicht zu. Obwohl auch bei Franco A. neben Waffen und Sprengstoff eine Todesliste gefunden worden war, die von seinem Kameraden Maximilian T. stammen soll. Darauf waren unter anderem Claudia Roth, Joachim Gauck, Heiko Maas, Bodo Ramelow, der Zentralrat der Juden und verschiedene Antifa-Aktivisten. Der AfD-Abgeordnete Jan Nolte beschäftigt Maximilian T. als Mitarbeiter. Nolte sitzt im Verteidigungsausschuss des Bundestages!

Das BKA war bei seinen Nachforschungen zu Franco A. auf das Untergrundnetzwerk gestoßen, das eine Todesliste mit etwa 25 000 politischen Gegnern zusammengestellt hatte. (Übrigens haben die Behörden bis heute niemand dieser Menschen darüber informiert, dass sie auf der Todesliste stehen!) Offensichtlich wurden dem Rechercheteam der taz Informationen zugespielt, so dass sie im November den Kopf dieser Untergrundarmee präsentieren konnte: André S., ein Soldat der Elite-Einheit KSK (Kommando Spezialkräfte), der als V-Mann für den MAD arbeitet. André S. hatte 2012 in Halle den Verein Uniter gegründet, den er bis heute führt.9 Dieser Verein für (ehemalige) KSK-Angehörige dient u.a. zum Anmieten von Kasernengelände für Schießübungen u. dgl. Seit dem Herbst 2015 (!) hatte er unter dem Decknamen »Hannibal« vom Gelände der Graf-Zeppelin-Kaserne in Calw aus das Untergrund-Netzwerk auf den bewaffneten Kampf vorbereitet. Im September 2017 hatte der MAD seinen Spitzel vor bevorstehenden Durchsuchungen durch die BAW gewarnt. Diese wusste, mit welchem Gestrüpp sie es zu tun hatte: Landespolizeistellen wurden nicht informiert und waren nicht an den Durchsuchungen beteiligt; selbst die Landesinnenminister wurden erst kurz zuvor informiert!

(Der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns hat nach der Razzia im August 2017 eine Kommission eingerichtet; sonst ist bisher nix passiert! Dito in Baden-Württemberg nach dem Auffliegen von Oberleutnant Franco A. im Frühjahr davor! Und genauso handelt der hessische Innenminister nach den »NSU 2.0«-Drohbriefen.)

Ebenfalls 2017 gab es einen weiteren Skandal bei der Eliteeinheit KSK. Im Frühjahr 2017 hatte Pascal Dürwald, ein Kompaniechef des KSK, seinen Abschied von der Truppe auf einem Schießstand in der Nähe von Stuttgart zünftig gefeiert. 73 seiner Soldaten hatten einen Parcours aufgebaut, auf dem man u.a. mit Köpfen von Schweinen werfen musste. Als Belohnung hatten sie eine Frau eingeladen, mit der er danach Sex haben sollte. Er war aber zu besoffen. Diese Frau ging danach zur Polizei und erzählte, dass auf der Feier auch Faschomucke von Sturmwehr gespielt worden sei, die textsicheren Elite-Kämpfer hätten euphorisch mitgegrölt, der Kompaniechef und andere hätten den Hitlergruß gezeigt. Die Bundeswehr ermittelte und stellte fest, »die Grenzen des guten Geschmacks (seien) überschritten« worden; aber »die Vorwürfe auf verfassungsfeindliche Äußerungen« hätten sich nicht bestätigt. Einige Partyteilnehmer wurden an andere Standorte versetzt. Pascal Dürwald ist derzeit in Strausberg beim Kommando des Heers stationiert.

Im November 2018 verhängte aber das Amtsgericht Böblingen einen Strafbefehl und eine Geldbuße von 4000 Euro gegen ihn; Tatvorwurf: das Verwenden von Kennzeichen verbotener Organisationen. Ebenfalls im November meldete Die Zeit: »MAD-Offizier wegen Geheimnisverrats angeklagt«. Demzufolge wirft die Kölner Staatsanwaltschaft dem Oberstleutnant des MAD Peter W. vor, Verdächtige aus dem Umfeld von Franco A. – darunter auch André S. – vor Razzien gewarnt zu haben. Peter W. war beim MAD Ansprechpartner für das BKA und den Generalbundesanwalt. (Update April 2019: Im folgenden telepolis-Artikel finden sich neue Informationen.)

Stay-behind-Strukturen sind offensichtlich immer eine Mischung aus teilweise hochrangigen Geheimdienstlern und ziemlich wirren »Bodentruppen«, die durchaus eine eigene Agenda verfolgen.

Ein Zielpunkt: die neuen Polizeigesetze

Es gibt keinen Grund, hinter die Aussage von Fritsche am 18. Oktober 2012 zurückzugehen:10 »Die Funktionsfähigkeit und das Wohl des Staates und seiner Behörden ist in einem Kernbereich besonders geschützt. Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.« Was er vor dem Untersuchungsausschuss prinzipiell proklamierte, wurde praktisch umgesetzt, wenn wir an die hundertzwanzigjährige Sperrung der Akte in Hessen denken. Denn wenn »nur« vertuscht werden sollte, müssten Akten nicht so lange gesperrt werden, wäre der »Kernbereich« des Staates nicht berührt.

Fritsche trägt persönliche Verantwortung für den NSU. Er war von 1996 bis 2005 Vizepräsident des BfV, danach Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, ab 2009 beamteter Staatssekretär im Bundesinnenministerium, ab Januar 2014 beamteter Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Geheimdienste, seit März 2018 im Ruhestand. Als Vizepräsident des BfV hat er noch 2003 mit einem Schreiben ans Ministerium dafür gesorgt, dass das Trio unbehelligt weitermachen konnte. Als Belohnung wurde sein letztes Amt eigens für ihn geschaffen.

In der Neuformierung der BRD-Sicherheitsapparate nach der globalen Krise fühlen sich die Kumpane von Fritsche stark und radikalisieren sich zunehmend. Gleichzeitig wächst eine rechte Opposition gegen den EU-Kurs von Merkel und Schäuble: 2012/3 entsteht die AfD; die Hochphase von Pegida liegt zwischen November 2014 und Januar 2015; im Juli 2015 fliegt Lucke aus der AfD und diese radikalisiert sich nach rechts (unter Beratung durch den BfV-Präsident Maaßen und den Politologen Patzelt, wie man heute weiß). Am 25. Oktober 2015 formuliert schließlich der »tiefe Staat« auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingskrise« ein Ultimatum an die Regierung Merkel in Form eines Zehnpunkte-Programms (die hohe Zuwanderung produziert Extremisten; sofortige Schließung der Grenzen usw.); der Vorgänger Fritsches im Bundesinnenministerium, Hanning, überbringt diese Botschaft.

Romann (Chef der Bundespolizei) bekam damals seine Grenzschließung nicht, Maaßen (Chef des BfV) musste 2018 sogar zurücktreten, aber im Ergebnis einigte man sich auf eine massive Verschärfung und Militarisierung im Umgang mit Flüchtlingen, mehr Kompetenzen für die »Sicherheitsdienste« und extrem repressive neue Polizeigesetze. Vor diesem Hintergrund normalisieren die aktuellen Skandale über »faschistische Geheimarmeen« usw. das Verhältnis von Regierung und »tiefem Staat«. Wer allzu sehr über die Stränge schlägt, wird rasiert. So ist wohl auch die Razzia am 12. Dezember 2018 gegen C18-Strukturen in Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen-Anhalt einzuschätzen. Und nicht als »Durchgreifen« gegen die Nazis. Warum sollte man die bewaffneten Faschos abräumen? Eine Struktur, die mit relativ wenig staatlichem Aufwand die Migranten terrorisiert und vor allem im Osten die Linke niederhält bzw. dazu zwingt, sich vor allem mit Selbstschutz zu beschäftigen? Und das gilt nicht nur für Chemnitz – Brandanschläge auf linke Projekte haben in letzter Zeit in Hessen und in Neukölln stark zugenommen. ■

Abkürzungen:
  • VS = Verfassungsschutz
  • BfV = Bundesamt für Verfassungsschutz
  • MAD = Militärischer Abschirmdienst
  • BND = Bundesnachrichtendienst
  • NSU = Nationalsozialistischer Untergrund
  • OLG = Oberlandesgericht
  • THS = Thühringer Heimatschutz
  • FAP = Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei
  • Česká-Serie = die NSU-Morde, die als Serie erkennbar waren, da dieselbe Waffe verwendet wurde.
Fußnoten:

[1] Die »Prepper«-Szene (von engl. prepare – vorbereiten) stellt sich mit Bevorratungen und Vorbereitungen zur persönlichen Verteidigung auf kommende Krisen ein – teilweise mit Schuss- und Stichwaffen. Zu der vielschichtigen Szene gehören auch Faschos und Reichsbürger.

[2] Ausführlich zum »tiefen Staat« siehe Wildcat 95

[3] Wer sich sachkundig informieren will, wie die Staatsapparate aus dem NSU-Skandal gestärkt hervorgegangen sind, kann »NSU und Staat - Verhinderte Aufklärung« lesen, die Ausgabe Juni 2016 der Zeitung für Bürgerrechte & Polizei. In der Redaktionsmitteilung wird gut zusammengefasst, was in den letzten Jahren geschehen ist.

[4] Exif-Redaktion: »›Combat 18‹ Reunion«; 16.62018

[5] siehe Thomas Moser »Ein Verfassungsschützer während der Tat am Tatort«

[6] Zur Rolle Marschners und seines V-Mann-Führers »Richard Kaldrack«
siehe z.B. Stefan Aust und Dirk Laabs: »Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU«, S. 513 ff.

[7] s.o. »›Combat 18‹ Reunion«

[8] ebenda
Mehr Informationen auch in der ZDF-Doku: »Die Todesliste des NSU«
Zu der Verbindung von Björn Höcke und Thorsten Heise siehe die Recherche von Andreas Kemper in der Graswurzelrevolution »Björn Höcke und sein völkisches Umfeld«

[9] zu Franco A. vgl. wikipedia
Zum Verein Uniter siehe taz vom 21.12.18: »Hannibals Verein«;
mehr Infos zum KSK in IMI: »Braune Nostalgie beim KSK – keine Überraschung!«

[10] Die lange Rede von Fritsche vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages kann man unter anderem auf auf der Seite von Hajo Funke und bei der Kontext-Wochenzeitung nachlesen.

 
 
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