Karlsruher Stadtzeitung, Nr. 35 - Frühling 1985 - S. 45-55 [wc35soz.htm]


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Mit dem Dreirad durch den Sozialstaat

»Existenzgeld« - die neue Tretmühle der Arbeit

Aus zweierlei Gründen ist es für die Auseinandersetzung um ein Existenzgeld oder allgemeines Mindesteinkommen notwendig, den allgemeinen Charakter des klassischen Sozialstaats zu untersuchen. Zum einen, weil die Überlegungen des Kapitals, den Sozialstaat durch ein einheitliches Mindesteinkommen zu ersetzen, offensichtlich eine Antwort darauf darstellen, daß die bisherige soziale Absicherung der Arbeiterklasse für ihre Profitproduktion nicht mehr funktional ist; wir müssen aber zunächst kapieren, wie der Sozialstaat bisher als Teil der kapitalistischen Ausbeutung funktioniert hat. Zum zweiten wollen wir mit unserer Kritik an den grünen und alternativen Propagandisten eines Existenzgeldes nicht mißverstanden werden, als würden wir in das Gejammere über den »Sozialabbau« einstimmen und nun Loblieder auf den Sozialstaat singen; seit den sozialpolitischen »Operationen« der 80er Jahre scheint die gesamte Linke auf einen Schlag vergessen zu haben, daß der Sozialstaat von Anfang an den kapitalistischen Arbeitszwang reguliert hat; daß keines seiner Momente - Sozialversicherung, kollektives Arbeitsrecht (Gewerkschaften, Tarifvertragswesen, Betriebsverfassung) und staatliche Wirtschaftspolitik - eine »Errungenschaft der Arbeiterbewegung« darstellt, sondern die politische Stärke der Arbeiterklasse neutralisieren sollte. Allerdings drückte sich in diesem Sozialstaat bis heute auch aus, daß das Kapital und der Staat, als allgemeine Instanz der Kapitalherrschaft, an der Arbeiterklasse als zentraler politischer Größe nicht vorbeikommen, sie nur durch eine institutionalisierte Anerkennung in die kapitalistische Produktion einbeziehen können. Die technische Umorganisation der Produktion und die zur Zeit ablaufende Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse deuten darauf hin, daß sich das Kapital von eben dieser Anerkennung der Klasse freimachen will. Sozialpolitischer Ausdruck dieser Entwicklung wäre der Abbau der klassenmäßig bestimmten Sicherungssysteme und die Beschränkung auf ein Mindesteinkommen, das heißt Sozialhilfe für alle. In der linksgrünen Debatte drückt sich bereits ein gutes Stück des Zerfalls von Klassensolidarität und -bewußtsein aus, wie ja auch die parallele Debatte um alternative Arbeit an der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse mitstrickt.

Für uns geht es also nicht um ein Abwägen zwischen bisherigem Sozialstaat und zukünftigem Existenzgeld. Die grünen Strategen wie Opielka, die sich schon wie kleine Regierungsvertreter gebärden und ihr politischen Überlegungen in alternative Gesetzesentwürfe packen, versuchen es mit staatsmännischer Geschicklichkeit allen Seiten rechtzumachen, indem sie kombinierte Systeme aus Sozialversicherung und Mindesteinkommen austüfteln. Beide Formen einer staatlichen Existenzsicherung sind bezogen auf die jeweilige Klassenzusammensetzung die geeigneten Instrumente zur Durchsetzung des kapitalistischen Arbeitszwangs. Für uns geht es darum, aus der neuen, sich anbahnenden Klassenzusammensetzung ein Bewußtsein der Ausbeutungsverhältnisse und Kämpfe gegen diese zu entfalten.

Exkurs: Das Einkommen der Arbeiter

Reproduktion der Arbeiterklasse - Reproduktion des Arbeitszwangs

Vom Kapital aus betrachtet bildet das gesamte Einkommen, das den Arbeitern zufließt, den Einkaufspreis für die Arbeitskraft. Wir nennen dieses gesamte Einkommen, oder stofflich ausgedrückt, diesen Fonds von Lebensmitteln und Konsumartikeln, auch das variable Kapital. Denn dieser Kapitalbestandteil ist es, der im Verwertungsprozeß den Mehrwert abwirft: während die Maschinen, Gebäude und Rohstoffe ihren Wert allenfalls auf das neue Produkt übertragen, aber den Kapitalisten von sich aus nicht reicher machen, wird die eingekaufte Arbeitskraft im Produktionsprozeß mit Hilfe des gesamten Systems von Antreiberei, Hierarchie und Maschinenterror in Arbeit übersetzt. Sie produziert nicht nur die zum eigenen Lebensunterhalt notwendigen Mittel (dazu bräuchte es weder 40 noch 35 Stunden in der Woche), sondern darüberhinaus den Mehrwert oder Profit; sie sorgt also dafür, daß das Kapital »sich« vergrößert.

Da aber die im kapitalistischen Produktionsprozeß hergestellten Waren ganz allein dem Kapital gehören, ist nicht mehr sichtbar, daß die Arbeiter die Güter ihres Konsums selbst produzieren. Sie erhalten diese erst nachträglich, in Form von Geldzahlungen, vom Kapital - der Ausbeutungsprozeß erscheint als Austausch zwischen Kapital und Arbeit.

Worauf es hier nun ankommt: Das Einkommen, das die Arbeiter vom Kapital (oder auch vermittelt über den Staat oder Sozialversicherung) erhalten, hat eine doppelte Funktion. Einerseits sorgt es dafür, daß die Arbeiter sich reproduzieren können, also bei der ganzen Maloche am Leben bleiben können und es auch noch hinkriegen, Kinder großzuziehen, damit dem Kapital genügend Ausbeutungsmaterial nachwächst. Andererseits ist dieses Einkommen so bemessen, daß es den Arbeitern keine Flucht aus der Arbeit erlaubt: »Freier Lohnarbeiter« zu sein, bedeutet in erster Linie frei von allen Produktionsmitteln, allen Möglichkeiten, sich unabhängig vom Kapital zu ernähren, zu sein. Daher bedurfte es auch historisch und aktuell in den Ländern der sogenannten »Dritten Welt« zunächst einmal Phasen, in denen die Menschen mit äußerster staatlicher und unmittelbarer Gewalt von ihren eigenständigen Produktionsmitteln, wie dem Boden und Ackerbau getrennt wurden, um sie in die fabriken treiben zu können. Diese Eigentumslosigkeit kennzeichnet den freien Lohnarbeiter und ist die Basis des Arbeitszwangs. Die Einkommen der Arbeiter reproduzieren daher nicht nur das Leben der Arbeiter, sondern sie reproduzieren diese als Arbeiter, d.h. Eigentumslose, denen nichts anderes übrig bleibt, als ihre Haut zum (Arbeits)Markt zu tragen.

An diesem grundlegenden Verhältnis zwischen den Klassen, an dieser beständigen Reproduktion der Arbeiter als Ausbeutungsmaterial ändern die sozialstaatlichen Regelungen keinen Deut, auch wenn sie den einzelnen Arbeiter aus der unmittelbaren Abhängigkeit von einem einzelnen Unternehmer und der Abhängigkeit von seiner ständigen Arbeitsfähigkeit lösen. Aber diese Einkommensformen wie Rente usw. binden ihn, wie wir zeigen, noch unerbittlicher an sein lebenslanges Arbeiterdasein. Diese Einkommensformen lösen ebenso wie der Lohn nur ein, was der Inhalt der kapitalistischen Reproduktion der Arbeitskraft ist: in seiner individuellen Konsumtion bleibt der Arbeiter Bestandteil des Kapitals, denn dieses existiert nur in seiner beständigen Produktion und Reproduktion.

Die Höhe des gesamten Einkommens, das das Kapital der Arbeiterklasse zugesteht, richtet sich nicht allein nach dem naturnotwendigen Lebensminimum, sondern sie drückt auch den »politischen Preis« aus, für den die Arbeiter ihre Produktivität dem Kapital zur Verfügung stellen. Die Reproduktion der Arbeiterklasse besteht nicht in einem »ehernen Lohngesetz«, sondern in dem sozialen und politischen Verhältnis zwischen den Klassen. Zur Reproduktion der Arbeiter gehört nicht nur die Sicherung ihrer nackten Existenz, sondern auch die ständige Herstellung ihrer politischen Unterwerfung; die Anerkennung des Lohnarbeiterdaseins durch die Arbeiter ist Teil der Reproduktion. Je nach Klassenzusammensetzung und Bewußtheit der Klasse wird das Kapital daher auch eine höheren Preis zahlen müssen, der aber nichts daran ändert, daß mit ihm die Arbeiter in ihrer Eigentumslosigkeit fixiert werden.

»In der Tat gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft.« (Marx)

 

Sozialversicherung - Individualisierung der Existenzsicherung gegen den Klassenkampf

Grundlage der kapitalistischen Produktion ist eine Lohnarbeiterklasse, die keine anderen Möglichkeiten zur Existenzsicherung als den Verkauf ihrer Arbeitskraft hat, die dem Hunger nur durch ihre Einsperrung in den Fabriken ausweichen kann. Zur Herstellung dieser Klasse von freien Lohnarbeitern wird im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eine systematische Hungerpolitik betrieben; kombiniert mit direkten staatlichem Arbeitszwang, da selbst die Zerstörung der feudalen Institutionen der Existenzsicherung viele nicht unter die abschreckenden Arbeitsbedingungen der kapitalistischen Fabriken pressen kann. Aber durch die Zerstörung aller anderen Subsistenzformen erzeugte Armut und Hunger gelten als wirksamster Antrieb zum Verkauf der Arbeitskraft:

»Gesetzlicher Zwang zur Arbeit ist verbunden mit zuviel Mühe, Gewaltsamkeit und Geräusch, während der Hunger nicht nur ein friedlicher, schweigsamer, unaufhörllicher Druck, sondern als natürlichstes Motiv (!) zur Industrie und Arbeit die machtvollste Anstrengung hervorruft.« (So ein protestantischer Pfaffe um 1790 - wir könnten diesen Ausspruch aber auch getrost einem Vertreter des IWF oder der Weltbank in den Mund legen!)

In dieser Zeit ist der allgemeine Hunger so sehr das von den Herrschenden eingesetzte Instrument des Arbeitszwangs, daß es zum allgemeinen Gesetz der politischen Ökonomie erhoben wird, daß eine große Masse von Armen der größte Reichtum der Nation ist!

Diese Funktionalität von Hunger und Armut für die Entwicklung der kapitalistischen Produktion wird erst an dem Punkt brüchig, an dem die Zusammenballung der Arbeitermassen in den Fabriken und den Industriestädten und die prinzipielle Existenzunsicherheit als Lohnarbeiter in kollektiven Widerstand umschlägt und die Arbeiter beginnen, sich durch ihr Selbstbewußtsein als Arbeiter zur politischen Klasse zu konstituieren. Die Armutspolitik zwingt die Arbeiter damit nicht nur in die Fabriken, sondern wird zum Motor und Anlaß von Kämpfen gegen das kapitalistische Kommando - auch wenn die ersten Organisierungsansätze im 19. Jahrhundert nicht von der Masse der ungelernten Industriearbeiter ausgehen, sondern von handwerklichen Arbeitern, die bei ihrer Organisierung an Traditionen der Zünfte anknüpfen können.

Imperialistischer Staat und Klassenfrage

Die bürgerlich-paternalistische Antwort auf die neue Phase der Klassenkonfliktualität ist die Aufwerfung der »sozialen Frage«, mit der das dahinterstehende Gespenst des Klassenkampfes verdrängt werden soll. Die aufkommende Welle fürsorglicher Empfindungen der Herrschenden für das Arbeiterelend wird dadurch angespornt, daß die autonomen Versuche der Arbeiter, durch Organisierung in Gewerkschaften und diesen angeschlossenen Unterstützungskassen ihrer Existenzunsicherheit zu begegnen, zur Basis ihrer politischen Organisierung als Klasse werden und repressive Organisierungsverhinderungen wie das Sozialistengesetz diese Tendenzen nicht bremsen können. Für den imperialistischen Staat bedeutet dies den drohenden Zerfall der Loyalität der Arbeiter. [1]

Als Ergänzung zur repressiven Eindämmung des Klassenkampfs versuchen daher die imperialistischen Staaten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die Arbeiter über staatliche Maßnahmen zur Existenzsicherung »staatstreu« zu halten. Einerseits sind diese Maßnahmen direkt auf die Existenzgefährdungen bezogen, die systematisch aus dem Lohnarbeiterdasein resultieren, nämlich die Zeiten, in denen die Arbeiter nicht in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Andererseits soll aber mit diesen ersten Sozialgesetzgebungen die Anerkennung der Klasse als politisches Subjekt verhindert werden. Die ersten Sozialgesetzgebungen beziehen sich daher auch ausschließlich auf die individuellen »Risiken« wie Krankheit, Alter und Invalidität und versuchen den Arbeiter als isoliertes Individuum dem »sozialen« Staat gegenüberzustellen.

»Nicht als Almosen, sondern als Recht, wo der gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann. Wozu soll nur der, welcher im Kriege oder als Beamter erwerbsunfähig geworden ist, Pensionen haben und nicht auch der Soldat der Arbeit?« (Bismarck) Tatsächlich hatte Bismarck, der fälschlicherweise als Vater der Sozialversicherung angesehen wird, 1881 bei der Verkündung seiner Sozialgesetzgebungspläne eine Reichsversorgungsanstalt im Sinn, von der die Arbeiter Staatspensionen beziehen sollten, um sie so unmittelbar, nach patriarchalischem Muster an den Staat zu binden. Dieser Plan scheiterte an dem Widerstand der Liberalen, worin auch zum Ausdruck kam, daß eine umfassende staatliche Versorgung der Arbeiter der Mystifikation des »freien Lohnarbeiters« widersprochen hätte (s.u.). In anderen Ländern wurde zwar anfangs eine Versorgung aus Steuergeldern eingeführt (z.B. das Altersrentengesetz in England von 1911), die aber auch später auf das Versicherungsprinzip umgestellt wurden.

Die ersten Sozialgesetzgebungen waren daher in Deutschland die Krankenversicherung (1883), die Unfallversicherung (1884) und die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889). In England wurde nach dem Altersrentengesetz von 1908 eine nationale Gesundheitsversicherung 1911 eingeführt und im selben Jahr eine Arbeitslosenversicherung, die allerdings nur Arbeiter in besonders krisenabhängigen Branchen erfaßte (in Deutschland wurde die Unterstützung der Arbeitslosen erst 1927 von der Fürsorge auf das Versicherungsprinzip umgestellt). Die französiche Sozialgesetzgebung setzte zunächst in den 90er Jahren an der betrieblichen Sozialpolitik an, indem sie die betrieblichen Pensionskassen für bestimmte Sektoren vorschrieb. Erst 1930 wurde in Frankreich ein umfassendes Sozialversicherungsgesetz erlassen.

Trotz der verschiedenen Ausgangspunkte und anfänglichen Versuchen wird in den kapitalistischen Ländern für die politisch virulent gewordene Existenzunsicherheit der Arbeiter eine bestimmte, vom Staat gesetzte Verlaufsform (eine »Lösung« war und ist es nicht!) geschaffen: die Sozialversicherung. Innerhalb des staatlichen Zwangsrahmens (Versicherungspflicht) werden dabei die Einkommen der Arbeiter für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit oder der Unverkäuflichkeit ihrer Arbeitskraft tauschförmig geregelt. Die Einkommen werden nach Höhe und Dauer an den zuvor eingezahlten Beiträgen orientiert. Mit dieser »Beitragsäquivalenz« knüpft die soziale Absicherung, die die Reproduktion der Arbeiterklasse gewähren soll, an der Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses durch den Lohnfetisch an - und dies ist bis heute wirksam!

Der Versicherungsfetisch ...

Alle Einkommen der Arbeiter zusammengenommen, egal wie sie sich im einzelnen aus direkten Lohnzahlungen oder Sozialleistungen zusammensetzen, stellen die Kosten der Reproduktion des einzelnen Arbeiters und der Arbeiterklasse dar. Als solche Reproduktionskosten der Klasse dürfen sie aber nicht unmittelbar erscheinen, da damit der Ausbeutungscharakter in diesen Einkommen zutage treten würde. Der Lohn muß als die Bezahlung der Arbeit erscheinen, über ihn kann daher das Problem der Reproduktion bei Nicht-Arbeit nicht reguliert werden (einzige Ausnahme ist die heutige, allerdings auch zeitlich begrenzte, Lohnfortzahlung). Auch eine staatliche Fürsorge kann dieses Problem nicht politisch lösen, da sie den Arbeiter in der unmittelbar fühlbaren Abhängigkeit vom Staat hält, die den Mythos des »freien« Lohnarbeiters (der Arbeiter als Bürger) zerbricht. Hierin liegt auch die Crux einer staatlichen Altersversorgung, wie der von 1908 in England: da es keine tauschförmigen Kriterien für den Bezug von Leistungen gibt, muß der Staat durch unmittelbare Kontrollen überprüfen, ob der Arbeiter sich dem Arbeitszwang unterworfen hat und provoziert durch diese Kontrollen neue Konflikte. Der Arbeitszwang wird so wieder mit äußerlicher staatlicher Gewalt durchgesetzt, statt hinter den scheinbaren Naturgesetzlichkeiten des Marktes zu verschwinden.

Diesen Marktgesetzlichkeiten entspricht aber das Prinzip der Versicherung, nach dem der einzelne Ansprüche auf Einkommen in bestimmten Situationen im Tausch gegen seine Beiträge gewinnt. Die Sozialversicherung konnte daher als staatlicher Zwang zur Selbstversorgung der Arbeiter ausgegeben werden (wobei der staatliche Zwang nur wegen der Dummheit der Arbeiter und ihrer Unfähigkeit, genügend für Zeiten der Krankheit oder des Alters zu sparen, nötig sei).

In allen Ländern konnte der Staat bei der Etablierung der sozialen Pflichtversicherungen an autonomen Unterstützungskassen der Arbeiter anknüpfen und diese zum Teil in die neuen Sozialversicherungsinstitutionen einbeziehen. Diese Kassen, die von den handwerklichen Teilen des Proletariats ausgingen, waren zwar eine Stütze der Organisierung, koppelten sich aber gerade wegen ihrer Organisierung nach dem individualistischen Äquivalenzprinzip (Beiträge gegen Leistung) immer stärker von dem politischen Kampf gegen das Lohnsystem ab und steuerten auf ihre Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft zu. Die handwerklichen Arbeiter in diesen Kassen verbanden mit ihrer Mitgliedschaft den zweifelhaften Stolz, sich selbst und unabhängig von staatlicher Fürsorge versorgen zu können - dies bürgerliche Tendenz ging zum Beispiel so weit, daß die englischen »Friendly Societies« eine repressive Armenpolitik unterstützten, weil sie sich davon den Zustrom neuer Mitglieder erhofften. Der Staat konnte also daran anknüpfen, daß aus Teilen der Klasse heraus der Versicherungsfetisch bereits eine feste Basis erhalten hatte.

Trotzdem war die Sozialversicherung in keinem dieser Länder eine Forderung der Arbeiterbewegung gewesen - es ist eine reformistische Geschichtsklitterung, wenn heute diese Sozialgesetzgebung als eine von der Arbeiterbewegung erkämpfte Errungenschaft ausgegeben wird. Die sozialen Zwangsversicherungen wurden zunächst von der Arbeiterbewegung kritisiert: zum einen, weil damit den eigenen Organisierungsanstrengungen eine wichtige Basis entzogen wurde, und grundsätzlicher, da mit diesen individualistischen Absicherungen weitergehende Eingriffe in den Ausbeutungsprozeß und die politische Anerkennung der Arbeiterklasse umgangen werden sollten; so Bebel 1909: »Im übrigen aber werden Reichstag und Regierung finden, daß ihre Hoffnung, die deutsche Arbeiterklasse werde ihr Anrecht auf eine ausgiebige Arbeiterschutzgesetzgebung und auf weitergehende soziale Umgestaltungen im Interesse der Arbeit für das Linsengericht der Invaliditäts- und Altersversicherung aufgeben, eine trügerische ist.«

... als Verschleierung des sozialstaatlichen Arbeitszwangs

In der staatlichen Armenfürsorge oder den ersten Altersrenten in England war der mit den Leistungen verbundene Zwang zur Arbeit unmittelbar sichtbar: sei es, daß die Armen ins Arbeitshaus gesteckt wurden, oder daß der Staat die Auszahlung der Altersrente vom Nachweis eines »ausgefüllten Arbeiterlebens« abhängig machte. In der Sozialversicherung wird die Kontrolle der Unterwerfung unter den Arbeitszwang scheinbar `in natürlicher Weise' durch die Beitragszahlungen gesichert. Da die Mitgliedschaft in den Sozialversicherungen für die Arbeiter gesetzlicher Zwang ist [2], drücken die Beitragszahlungen unmittelbar aus, wie lange und zu welchem Lohn der einzelne gearbeitet hat. Die Abhängigkeit der Sozialeinkommen von der Beitragszahlung und die Regelung der Anwartschaftszeiten (das heißt der Mindestdauer der Beitragszahlung bevor eine Versicherungsleistung gezahlt wird) zwangen die Arbeiter dazu, ihre Arbeitskraft dauernd und ihr Leben lang an das Kapital zu verkaufen. Die Orientierung der Sozialeinkommen an der Beitragshöhe und dieser wiederum am individuellen Lohn setzt die Spaltung der Arbeiterklasse durch die Lohndifferenzierung in den Sozialversicherungen fort. Auch diese, heute zur selbstverständlichen »Versicherungsgerechtigkeit« geronnene Bemessung der Unterstützungsleistung am früheren Einkommen war nicht schon immer für die Arbeiterbewegung eine Selbstverständlichkeit: so ließen sich die deutschen Gewerkschaften erst 1926, nach internen Auseinandersetzungen, auf die Staffelung der Unterstützungssätze für Erwerbslose nach der früheren Lohnhöhe ein.

Neben der Kontrollfunktion der Beitragszahlungen und ihrer Dauer muß es aber - gerade bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit, Invalidität oder bei Arbeitslosigkeit - auch direkte Kontrollen der Arbeitsfähigkeit geben, da die Arbeiter hier von Anfang an Möglichkeiten der zeitweiligen Flucht aus der Arbeit (die aber weiter von ihrer Integration in den kapitalistischen Produktionsprozeß abhängig blieb) sahen und diese nutzten. Um den Arbeitern die Möglichkeit zu verschließen, ohne dabei durch unmittelbaren staatlichen Zwang den Versicherungsfetisch aufzuheben, wird die Anspruchsberechtigung durch eine objektivierbare Prüfung der Arbeitsunfähigkeit (Ärzte und Vertrauensärzte) bzw. der Arbeitswilligkeit (durch Kopplung der Arbeitslosenversicherung mit der staatlichen Arbeitsvermittlung) festgestellt. Diese scheinbar objektive Regelung, die in Wirklichkeit das politisch durchsetzbare Maß an Arbeitszwang ausdrückt, lautete zum Beispiel bei der Invalidenversicherung von 1889 wie folgt: anspruchsberechtigt sind diejenigen, die mindestens fünf Jahre Beiträge bezahlt haben und die nicht mehr im Stande sind, »durch eine, ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit, die ihnen unter billiger Berücksichtigung ihrer Ausbildung und ihres bisherigen Berufs zugemutet werden kann, ein Drittel desjenigen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in der selben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.«

 

Der Sozialstaat - kurz und bündig!
In der Rentenformel von 1957 ist der sozialstaatliche Arbeitszwang in eine mathematische Tauschformel gepackt: die Anbindung der Rente an die Plackerei im Arbeitsleben. Zutreffenderweise wurde die Rente von Sozialpolitikern selbst als »Treue- und Durchhalteprämie« charakterisiert.
 

Mit dieser Formel wird die individuelle Rente an dem früheren Lohnniveau des einzelnen Arbeiters und an seiner »Lebensleistung« (im Verhältnis zur gesellschaftlich `normalen' Lebensleistung) bemessen. Das Rentenniveau wird allerdings mit dieser Formel nicht an den früheren Beiträgen zur Rentenversicherung, sondern am Durchschnittseinkommen aller Versicherten festgemacht. Durch die individualisierte Rentenberechnung wirkt hier trotzdem der Versicherungsmythos weiter.
So weit, daß er sich sogar in der linken Kritik am Sozialabbau wiederfindet. Die Kürzungen der Renten werden dort als Betrug an den Rentnern gegeißelt, da sie um die Früchte ihrer jahrelang gezahlten Beiträge gebracht würden. Der Schein, die Rente sei selbstverdientes Ruhegeld, wird mit dieser Kritik noch befestigt, statt die Rente als das bloßzulegen, was sie ist: die Verwendung eines Teils des Konsumfonds der Arbeiterklasse (also eines Teils der gesamten Reproduktionskosten) zur Ernährung der nicht mehr Arbeitenden, um so die gesamte Klasse zur Arbeit zu zwingen und politisch integrieren zu können. Und die Beiträge werden nicht als die Kontrolle der Unterwerfung unter den Arbeitszwang angesprochen, sondern zu Ersparnissen des kleinen Mannes stilisiert. Von dieser Position aus läßt sich dann auch praktisch kein Klassenkampf gegen die Existenzunsicherheit der Arbeiter entwickeln, da sie sich auf die Individualisierung und Spaltung der Arbeiter gegenüber dem Sozialstaat eingelassen hat. Die bürgerlichen Parteien können mit dem Vorwurf des Rentenbetrugs Politik machen - wir nicht!

Halten wir zur historischen Einführung der Sozialversicherung noch einmal fest: obwohl in der Sozialgesetzgebung die Sonderstellung der Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft, die Notwendigkeit, ihre Abhängigkeit vom Kapital sozialpolitisch zu regulieren, anerkannt wird, zielen diese Maßnahmen doch darauf, die politische Organisierung der Arbeiter zu unterbinden, die Klasse nicht als autonome Größe anerkennen zu müssen. [3] In der Geschichtsschreibung wird allgemein festgestellt, daß Bismarck dieses Ziel mit der Sozialversicherung nicht erreichte. Die Gewerkschaften konnten weitere Kreise der Arbeiter organisieren und gewannen vor allem auch in der Großindustrie - im Unterschied zu ihren handwerklichen Anfängen - an Boden. Der Deutsche Metallarbeiterverband wuchs von 18 000 Mitgliedern 1891 bis zum ersten Weltkrieg auf über 500 000, von denen mehr als die Hälfte aus der Großindustrie kamen.

Die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in der großindustriellen Massenproduktion und die Entstehung eines angelernten Maschinenproletariats trieb die politische Konstitution der Klasse voran. Trotzdem hatte Churchill nicht unrecht, als er 1909 das englische Kapital darauf hinwies, Bismarck habe »dem deutschen Sozialismus den schwersten Schlag nicht mit Unterdrückungsgesetzen, sondern mit einem großen System staatlicher Versicherungen« versetzt. Mit der Sozialgesetzgebung hatte der Staat sich selbst zum Adressaten der Forderung nach sozialer Absicherung gemacht und die Gewerkschaften - schon durch ihre Tätigkeit in den Selbstverwaltungsgremien eingebunden - distanzierten sich mit ihren Forderungen nach sozialen Reformen durch den Staat immer entschiedener vom Kampf gegen den Staat und das Lohnsystem und verlangten von Staat und Kapital, als offizielle Vertretung der Arbeiter und gleichberechtigter Part anerkannt zu werden.

Der Erste Weltkrieg - Geburtshelfer des Sozialstaats

Weder durch Repression noch mit patriotischer Demagogie konnte die Entwicklung der Arbeiter zu einer politischen Klasse [4] rückgängig gemacht oder neutralisiert werden. Diese Entwicklung hatte ihre materielle Basis in der Zusammenballung der Arbeiter in den großindustriellen Zentren, also der vom Kapital selbst durchgeführten Organisation der Ausbeutung. Für das Kapital war es damit nicht mehr die Frage, wie sich die Klasse als politisches Subjekt ausschalten ließe, sondern wie sie für die Produktivität zum Funktionieren gebracht werden könnte.

Die Grundlagen zur Lösung dieses Problems wurden im Ersten Weltkrieg geschaffen. Die imperialistischen Staaten mußten zur Regulierung der Produktion eine umfassende Kontrolle über die Arbeiter entfalten, die allein mit repressiven Mitteln (deren enormer Ausbau während des Krieges darf natürlich nicht vergessen werden) nicht zu gewährleisten war. Der Staat mußte daher auf die Gewerkschaften als Vermittlungs- und Kontrollinstanz gegenüber den Arbeitern und ihrem politischen Selbstbewußtsein zurückgreifen - und er konnte es auch!

Die Gewerkschaften selbst sahen zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Stunde gekommen, ihre Organisationsstärke unter den Arbeitern in ihre Anerkennung im kapitalistischen Staat umzumünzen. Einerseits fürchteten sie zwar um den Bestand ihrer Organisation und sahen sich von politischen Verboten bedroht, stellten sich aber zugleich auf die Seite der Nation und boten die Zurückstellung von Arbeitskämpfen an. Im Krieg beteiligten sie sich an der Umstellung auf die Kriegswirtschaft und der Kontrollierung der Arbeitskraft - so arbeiteten sie an der Formulierung und Durchführung des Hilfsdienstgesetzes von 1916 mit. 1915 schrieb das Centralblatt der Generalkommission der Gewerkschaften: »...die Gewerkschaften, deren Stellung und Bedeutung noch unmittelbar vor dem Kriege scharf umstritten war, haben sich in dem Kampfjahr das hinter uns liegt, als nützliche und wertvolle, ja, in gewissem Sinne unentbehrliche Organe des nationalen Wirtschafts- und Gemeinschaftslebens bewährt. Sie haben das Vertrauen in die vaterländische Zuverlässigkeit und Opferbereitschaft des deutschen Arbeiters vollauf gerechtfertigt...«.

Die Anerkennung der Gewerkschaften als legitime Vertretung der Arbeiter und die Berücksichtigung ihrer Forderungen ist so von Anfang an damit verbunden, daß sie in die Kontrolle der Arbeiter und ihres Kampfverhaltens einbezogen werden. Lapinski hat in einem Aufsatz von 1928 die Verkopplung der sozialen Gesetzgebung mit einer institutionalisierten Zusammenarbeit der Klassen als das Charakteristikum des Sozialstaats bezeichnet [5]: »Dieser Erscheinung (gemeint ist der neue 'Sozialstaat' nach dem Ersten Weltkrieg) liegt ... die außerordentlich charakteristische Erscheinung einer unzertrennlichen Verbindung, eines wirklichen Verwachsens von zwei Elementen zugrunde: 1.) eines unzweifelhaften Anwachsens aller möglichen `Schutzgesetzgebung' und 2.) der Entstehung und der Entwicklung eines im Grunde genommen historisch neuen Systems von Maßregeln und Mitteln, die darauf berechnet sind, die `Zusammenarbeit der Klassen', die `Zusammenarbeit' von Arbeit und Kapital unter dem obersten Patronat eines fiktiv `über den Klassen stehenden' Staates durchzuführen und sicherzustellen. Die neue `soziale' Rechtsschöpfung des kapitalistischen Staates ist unzertrennlich mit der Praxis und der Organisation des `Burgfriedens' verknüpft.«

Obwohl dem Kapital im Ersten Weltkrieg klar geworden war, wie produktiv eine zentralisierte Vermittlung zwischen Kapital und Arbeiterklasse über die Gewerkschaften sein konnte, betrachtete es diese anerkennung der Gewerkschaften zunächst noch ausschließlich als Erfordernis der Kriegswirtschaft. Die Gewerkschaften drängten das Kapital bereits während des Krieges zu einer institutionalisierten »Arbeitsgemeinschaft« mit den Kapitalverbänden, stießen aber auf Ablehnung insbesondere bei der Schwerindustrie. Erst mit der revolutionären Entwicklung in Rußland und der deutschen November-Revolution begriff das Kapital, daß die Arbeiterklasse als politische Größe nicht mehr auszuschalten war, sondern daß es nach einem stabilen und produktivitätssichernden Status Quo mit dieser suchen mußte.

In der November-Revolution gehen die Kapitalverbände mit den Gewerkschaften die »Zentral-Arbeits-Gemeinschaft« ein, erkennen sie damit als Vertreter der Arbeiter und Tarifpartner an und lassen sich auf die staatliche Schutzgesetzgebung ein.

Die zwanziger Jahre bleiben für das Kapital »unruhige Jahre«, die es ständig mit der Gefahr revolutionärer Kämpfe bedrohen, in denen der Bezug auf die russische Revolution eine heute in Vergessenheit geratene Bedeutung hatte: die Unruhen in den industriellen Zentren Deutschlands, die Turiner Fabrikräte-Bewegung 1920 oder, gewissermaßen der Abschluß dieses Kampfzyklus in Westeuropa, der Generalstreik und Streik der Bergarbeiter von 1926 in England. Der Sozialstaat, der in der Verknüpfung von Sozialgesetzgebung und rechtlichen Regulierungen des Klassenkampfs besteht, wird vor diesem Hintergrund vom Kapital als stabile Herrschaftsform etabliert.

Keynes: Einführung des Klassenkampfs in die politische Ökonomie

Die Anerkennung der Klasse als politische Größe wird auch im Wandel der herrschenden Wirtschaftslehre von der klassischen Nationalökonomie zum Keynesianismus vollzogen. Der Keynesianismus vollzieht die verstärkte Intervention des Staates in die Wirtschaft nach und untermauert sie, treibt aber auch selbst die Wirtschaftspolitik voran.

Die klassische Nationalökonomie geht von einem immer schon vorhandenen Gleichgewicht in der kapitalistischen Wirtschaft aus. Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage, so lautet der schlichte Grundsatz, und Krisen oder Arbeitslosigkeit seien nur auf externe Einwirkungen, etwa die Kartellierung der Arbeitskraft in Gewerkschaften oder Staatseingriffe, zurückzuführen. Es ist eine Theorie, die den aufkommenden Klassenantagonismus schlicht negiert, und die sich deshalb auch nicht damit auseinandersetzen kann, daß die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaft ein Problem ist! Keynes kritisiert diese Theorie mit dem Verweis auf die nicht mehr zu leugnende Existenz des Klassenantagonismus und der davon ausgehenden Bedrohung des Kapitals. Das ökonomische »Gleichgewicht« als Basis politischer Stabilität wird zum Problem, zum Objekt einer planmäßigen Wirtschaftspolitik des Staates. »Ist der Antagonismus anerkannt, so ist es in der Folge nötig, ihn zum Funktionieren zu bringen, indem gleichzeitig die autonome, zerstörerische Befreiung eines seiner Pole verhindert wird. Die politische Revolution der Arbeiterklasse kann nur verhindert werden, indem das neue Kräfteverhältnis anerkannt wird, nur indem die Arbeiterklasse innerhalb eines Mechanismus zum Funktionieren gebracht wird, der den ständigen Machtkampf in ein dynamisches Element des Systems sublimiert und ihn auf der anderen Seite kontrolliert, insofern er funktionalisiert wird auf eine Reihe von Zuständen des Gleichgewichts, auf die hin die verschiedenen Phasen der Revolution der Einkommen von Mal zu Mal sich ausrichten und stabilisieren.« (Negri über Keynes) Der Klassenkampf, in regulierter Form, muß selbst zu einem Motor der Akkumulation und Produktivitätsentwicklung gemacht werden: das ist der politische Kern seiner Theorie der »effektiven Nachfrage«. Die Einkommensforderungen der Arbeiterklasse sollen in die staatliche Regulierung der Nachfrage eingebaut werden, über die das Gleichgewicht der Beschäftigung (Ausbeutung) und Akkumulation hergestellt wird. Das schließt ein, daß der Staat selbst als produktives Kapital auftaucht (Staatsbetriebe) und damit das anvisierte Gleichgewicht reguliert.

Fassen wir zusammen: der »Sozialstaat«, wie er heute zur Diskussion steht, ist die Verbindung von sozialen Schutzgesetzgebungen mit Institutionen der Vermittlung zwischen Arbeiterklasse und Kapital und staatlichem Eingreifen in die Wirtschaft über Nachfrageschöpfung und eigene Investitionen. Seine materielle Basis ist der alltägliche Klassenkampf; einerseits wird in ihm die Klasse als antagonistische Größe anerkannt, andererseits wird sie durch die Form dieser Anerkennung in die Akkumulation des Kapitals eingebunden. Das heißt, der Sozialstaat existiert nicht, weil er irgendwann mal entstanden ist, sondern weil das Kapital weiterhin gezwungen bleibt, sich mit der Klasse als eigenständigem Faktor auseinanderzusetzen. In den Veränderungen des Sozialstaats spiegeln sich also die Veränderungen in den Beziehungen zwischen Kapital und Arbeiterklasse wider. Die aktuellen Tendenzen in der Sozialpolitik und die Vorschläge zu einem »Umbau« des Sozialstaats sagen etwas über die angestrebten Veränderungen in den Klassenbeziehungen aus und können daher auch nicht ohne sie diskutiert werden.

Implizit fließt das Thema der Klassenbeziehungen ja auch in die grün-linke Debatte über Sozialpolitik, die sich an den Umbauplänen zum Sozialstaat beteiligen möchte, ständig ein. So, wenn Gorz sein Konzept eines Mindesteinkommens als Konsequenz seines »Abschieds vom Proletariat« präsentiert, wenn Thomas Schmidt den Klassenkampf tendenziell abgelöst sieht von der Konfrontation zwischen dem industriellen »Block« aus alten Unternehmertum und traditionellen Gewerkschaften und dem »progressiven« Block aus alternativem Unternehmertum und Gewerkschaft der Nicht-Arbeiter, der ein Mindesteinkommen ins sozialpolitische Zentrum rückt. Was aber damit zur Grundlage der Mindesteinkommens-Forderung gemacht wird, sind nicht die wirklichen Klassenbeziehungen, sondern eben die neuen Mythen, hinter denen das Kapital durch die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse den Ausbeutungs-Charakter der Arbeit zu verstecken sucht.

Arbeiterrevolte - »Krise des Sozialstaats«

Ausgangspunkt der vom Kapital geführten Debatte über die »Krise des Sozialstaats« oder auch die »Krise der Wohlstandsgesellschaft« - daran muß heute wieder erinnert werden - war nicht das »Finanzierungsproblem«, sondern der auseinandergerissene Zusammenhang zwischen Einkommenssteigerungen / Einkommenssicherheit und der Produktivität der Arbeit. Die Wirksamkeit des Sozialstaats, der die Einkommens- und Schutzforderungen der Arbeiter in höhere Produktivität und Intensität ihrer Arbeit übersetzen sollte, war durch das Klassenverhalten durchbrochen worden. Die in den Fabrikkämpfen 1969 bis 1978 erzielten Einkommenssteigerungen führen zu keiner höheren Produktivität; im Gegenteil: diese Kämpfe richten sich gegen die Arbeit, gegen die gesteigerte Intensität der Arbeit, gegen die neuen Akkorde, gegen das Fließband. Durch die Festgeldforderungen und Kämpfe um gleichen Lohn verliert auch die Spaltung der Klasse durch Lohndifferenzierung an Wirksamkeit.

Der Staat antwortet zunächst auf dieses Klassenverhalten mit einer Ausweitung der Sozialgesetzgebung und neuen Arbeiterschutzgesetzen, die aber auch ihren Zweck verfehlen. Sie werden von den Arbeitern benutzt, um der Arbeit ausweichen zu können, stacheln sie aber nicht zu neuen Leistungen an. Damit wird das klassische »Dilemma« der Sozialpolitik wieder aktuell, einerseits Einkommen für Zeiten der Nichtarbeit zu schaffen, andererseits damit den Arbeitszwang nicht außer Kraft zu setzen. »Soziale Sicherung ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Entwicklung des Leistungsstrebens. Der Einzelne kann durch Leistung seinen sozialen Status absichern und verbessern. Maßnahmen der sozialen Sicherung können (!) diese Leistungsanreiz jedoch abschwächen. Hierin ist ein grundlegendes Dilemma der Sozialpolitik zu sehen.« [6]

Das Kapital antwortet auf dieses Klassenverhalten mit einer Zwangsmobilisierung der Arbeiter, die hinter dem Phänomen der seit 1974 ansteigenden Massenarbeitslosigkeit steckt. Die offene, politische Konfliktualität der Arbeiter, wie sie in den Fabrikkämpfen bis 1973 zum Ausdruck kam, konnte damit zwar eingedämmt werden, aber das Verhalten der Flucht aus der Arbeit - Krankfeiern, Benutzen von Sozialgeldern, Fluktuation - bleibt zunächst. Allerdings enthalten diese Verhaltensweisen bereits auch Ansatzpunkte für den sozialpolitischen Umbau in Richtung Privatisierung (s.u.), da sie die resignative, individuelle Flucht aus der Arbeit nach dem Scheitern eines kollektiven Kampfzyklus gegen die Arbeit darstellen.

Sozialpolitisch wird die Zwangsmobilisierung der Arbeiter durch das Kapital begleitet von selektiven Kürzungen und Aussonderungen bestimmter Gruppen aus den Bezug von Sozialgeldern, die Möglichkeiten von Flucht aus der Arbeit versperren.

Allgemein geht es um einen schärferen Angriff auf die »Nicht-Arbeit-Verhaltensweisen«. Um die Arbeiter in die verschärfte Ausbeutung zu zwingen, müssen die Sozialeinkommen unmittelbarer an die Arbeit gekoppelt werden. »Soziale Transferzahlungen sollten stets so bemessen werden, daß sie deutlich (!) unter den Netto-Arbeitsverdiensten liegen. Versicherungsleistungen, die ausfallenden Lohn ersetzen, müssen niedriger als die zuvor verdienten Arbeitsentgelte sein. Arbeit ist also immer höher zu entlohnen als Nichtarbeit. Gegen diesen Grundsatz wird vor allem bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, aber auch beim Krankengeld und noch immer bei der Altersversorgung der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst verstoßen.« (FAZ, 16.2.85)

Es ist nicht unsere Aufgabe, über die zukünftige Sozialpolitik des Kapitals zu spekulieren. Wir halten auch nichts von der Skizzierung erschreckender Zukunftsvisionen, wie sie in der heutigen Linken populär sind, da sie nur das Eingeständnis enthalten, das aktuelle Maß an Ausbeutung und Elend sei nicht mobilisieren genug und auf eine fragwürdige Mobilisierung durch Zukunftsängste setzen.

Die Entwicklung der Sozialpolitik, dies ist der materialistische Kern unserer Überlegungen, wird davon abhängen, wie die weitere Neu-Zusammensetzung der Arbeiterklasse aussehen wird. Die Linien einer neuen Spaltung der Klasse sind zwar sichtbar, aber ob diese Spaltungen und Versuche einer neuerlichen Integration der Arbeiter ins Kapitalverhältnis auch politisch aufgehen - oder ob sich gerade aus ihnen heraus sehr bald eine neue politische Identität der Klasse entwickelt, können wir heute nicht sagen. Davon wird es aber abhängen, ob die heute sichtbar werdenden Tendenzen eines Umbaus des Sozialstaats tatsächlich einen Bruch mit der bisherigen Etappe des Sozialstaates darstellen.

An den aktuellen Veränderungen, die die einzelnen Momente des Sozialstaats betreffen, läßt sich allenfalls eine Tendenz ausmachen, die zu einem solchen Bruch führt. Worum es hier geht, ist die Tatsache, daß die Konzeptionen eines garantierten Mindesteinkommens in dieser Tendenz ihren Platz haben.

1) Die vom Staat eingeleitete Finanzierungskrise der Sozialversicherung zielt auf eine Privatisierung. Mir der »Vertrauenskrise« in die Rentenversicherung machen heute schon private Zusatzversicherungen ihr Geschäft. Zur weiteren Absicherung im Alter werden private Pflegeversicherungen angeboten und vom Staat als Entlastung der Sozialhilfe diskutiert. Für die Krankenversicherung wird im Sinne einer größeren »Beitrags-Äquivalenz« eine Staffelung der Leistungen nach Beitragshöhe erwogen; ebenso für die Arbeitslosenversicherung.

2) Durch die Zwangsmobilisierung der Arbeiter in ungarantierte Jobs - über Sklavenhändler, Arbeit in Klitschen und das Wachstum der sogenannten Schattenwirtschaft inklusive Alternativökonomie - fallen schon heute einige Millionen Arbeiter aus der tarifvertraglichen Lohnregelung heraus. Daneben zeichnet sich eine Aushebelung der Tarifverträge »von innen her« ab durch betriebliche, sektorale oder regionale »Öffnungsklauseln«. Der handfesteste Schlag war auch in dieser Beziehung der 38½-Abschluß: von der Linken kaum wahrgenommen, besteht bei diesem Abschluß ja das tarifpolitische Desaster in der umfassenden betrieblichen Öffnungsklausel, womit der Anspruch auf eine kollektive Regulierung - hier der Arbeitszeit - von den Gewerkschaften weitgehend aufgegeben wird.

3) Die Zwangsmobilisierung der Arbeiter in kurzfristige oder nicht von der Sozialversicherung erfaßte Jobs hat zu einem starken Anwachsen des staatlichen Fürsorgebereichs geführt. Aufgrund fehlender Anwartschaftszeiten fallen diese Arbeiter aus dem Versicherungsbereich heraus und werden Arbeitslosenhilfe- oder Sozialhilfe-Empfänger. Dieser Fürsorgebereich ist dadurch charakterisiert, daß der Staat hier keine Klasse als politische Größe, auf die er seine Leistungen bezieht, anerkennt, sondern eine Behandlung »armer Bürger« vollzieht, die ihn präventiv vor möglichen Revolten bewahren soll. Diese Fürsorgeleistungen sind nie unabhängig von Arbeit: der Staat bindet sie durch die Androhung von Sperrfristen bzw. den Entzug der Sozialhilfe an die Arbeit. Aber auch über die Höhe sind diese Einkommen an die Arbeit gebunden - allerdings in einer marktförmigen und damit verdeckten Weise. Im Fürsorgebereich sind sie so bemessen, daß kaum einer ohne einen »Zuverdienst« auskommt. Zum einen werden Hilfe-Empfänger damit in flexibilisierte, befristete und Teilzeit-Jobs gedrängt, zum anderen werden damit Löhne, die drastisch unter Tarif liegen, durchsetzbar, da die Hilfeempfänger nicht allein von diesen Löhnen leben müssen (das heißt, die Reproduktionskosten der Arbeitskraft wirken hier nicht mehr regulierend auf die Lohnhöhe).

Hier ist die unmittelbare Verbindung zu einem möglichen Mindesteinkommen (oder einer negativen Einkommenssteuer, die genauso funktionieren würde) gegeben: zum einen knüpft es an die faktische Ausdehnung des Fürsorgebereichs an, verallgemeinert diese und schafft damit auch eine Lösung für die finanzpolitischen Rangeleien zwischen Kommunen und Zentralstaat, die sich im Moment die Fürsorge-Empfänger gegenseitig zuschieben. Zum anderen kann damit die schon heute funktionierende Mobilisierung von Billiglohnarbeit verbreitert und legalisiert werden. Die Ende der 60er Jahre in den USA unternommenen Versuche zur Einführung eines Mindesteinkommens waren als Teil des »Kriegs gegen die Armut« gedacht, mit dem der Staat auf die Slum-Unruhen antwortete. Die erklärte Absicht dieses Konzepts war es, das »Arbeitsangebot« für schlecht bezahlte und stark belastende Tätigkeiten zu erhöhen, das heißt, das in den Unruhen vorhandene Arbeitskraftpotential in den Verwertungsprozeß einbinden zu können. Das Mindesteinkommen wäre in diesem Sinne ein konsequenter Schritt in der Wende vom Keynesianismus zur Angebotspolitik: statt durch Sozialeinkommen die Nachfrage zu regulieren, zielt diese Maßnahme vor allem darauf, die Kostenseite (Lohnkosten) der Unternehmen zu verbessern. Über das Mindesteinkommen werden indirekt die Löhne subventioniert, statt die Lohnkosten durch Sozialabgaben zu belasten.

In der grün-alternativen Debatte wird gerade die Befreiung vom Arbeitszwang durch ein Mindesteinkommen hervorgehoben. Aber daß es damit schon in ihren eigenen Konzepten nicht so ernst gemeint ist, lugt überall hervor. Einschränkend heißt ja auch die populärste Veröffentlichung zu diesem Thema »Befreiung von falscher Arbeit«, was schon verrät, daß uns nun die »richtige Arbeit« um so umstandsloser aufs Auge gedrückt werden soll. Opielka will dann auch in seinem Konzept den »Arbeitsmarkt als grundsätzlich dezentrale Abstimmungsinstanz zwischen individuellen und kollektiven Bedürfnissen« (nach dieser Formulierung muß er ein Ort vollendeter Harmonie sein!) nicht missen. Und Gerhardt/Weber erklären ganz offen, daß das Mindesteinkommen nicht auf die Befreiung von Arbeit, sondern gerade auf die Intensivierung und Verschleierung der Mehrwertabpressung abzielt: »Verminderung betrieblicher Konflikte aufgrund gestiegener Arbeitsplatzzufriedenheit wegen des fließenden Übergangs von Arbeit und Freizeit, Rückgriffsmöglichkeiten auf das gesamte Arbeitsvermögen« und Silicon-Valley als Vorbild!


Fußnoten:

[1] Ins Zentrum der Auseinandersetzung rückt nun die politische Stabilität, während die ersten Arbeiterschutzgesetzgebungen noch ausschließlich aus der Sorge um die militärische Stärke herrührten. Die ersten Gesetze sowie das Verbot der Kinderarbeit und Begrenzung der Arbeitszeiten für Jugendliche in England, Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert sind Reaktionen auf die alarmierenden Berichte der Militärs über den schlechten körperlichen Zustand der durch die Fabrikarbeit verkrüppelten Rekruten!

[2] Die ersten Sozialversicherungsgesetze von 1883/84 erfaßten nur die gewerblichen Arbeiter, das heißt, nur etwa ein Fünftel aller Arbeitenden, und waren damit auf die Teile der Klasse ausgerichtet, von denen die Organisierung und das Kampfverhalten ausgingen.

[3] Versuche, die Sozialversicherung von ihrem Bezug auf die Arbeiterklasse zu lösen, sind immer gemacht worden: von den Nationalsozialisten wurde mit Bezug auf die Volksgemeinschaftsideologie die - freiwillige - Mitgliedschaft der Selbständigen in der Rentenversicherung eingeführt. Der Nationalökonom Mackenroth schlug 1952 die gänzliche Umstellung der Sozialpolitik und ihre Ausrichtung allein auf die Familie vor, und die 'schichtspezifische' Sozialpolitik zu überwinden. Statt der Sozialversicherungen sollte ein Jugendamt, Arbeitsamt und Rentenamt die soziale Absicherung übernehmen.

[4] Wenn wir von der Arbeiterklasse als politischer Größe oder von der Zentralität der Arbeiterklasse sprechen, so ist dies nicht gleichzusetzen mit gewerkschaftlicher Organisierung oder einzelnen Parteien. Gemeint ist das grundsätzlichere Faktum, daß sich die Arbeiterklasse selbst als eine politische und autonome Kraft begriff, daß sie die Erfahrung ihrer zentralen Stellung in der kapitalistischen Produktion politisch artikulierte. Die Entwicklung der Gewerkschaften ist nur ein Ausdruck dieser Zentralität, und zudem derjenige, der die Vermittlung zwischen Kapital und Arbeiterklasse schon in sich trägt. Denn die Gewerkschaften verwandeln in ihrer Politik den Antagonismus zu einer reinen Verteilungsfrage, sie sind im engeren Sinn nicht Organisation der Arbeiter, sondern Organisation von Besitzern und Verkäufern von Arbeitskraft. Als solche treten sie dem Kapital gegenüber und pochen auf ihrer Anerkennung und 'Gleichberechtigung', wie es sich für Käufer und Verkäufer auf dem Markt gehört. Scheinbar treten hier die Besitzer der beiden voneinander unabhängigen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital gleichberechtigt in Verhandlungen ein, die entsprechend den bürgerlichen Tauschprinzipien zu freien, ohne staatliche Einmischung zustande gekommenen Verträgen führen sollen - dies ist der Inhalt der Tarifautonomie.

[5] Dieser Artikel zeigt auch, wie bewußt sich Theoretiker der Arbeiterbewegung noch des Zwangscharakters des Sozialstaats waren. Und er erinnerte schon damals: »Wir vergessen allzu leicht, daß vieles, was wir auf diesem Gebiete (des Sozialstaats) gegenwärtig vorfinden und was uns als etwas neues erscheint, seinen tatsächlichen, unmittelbaren Ursprung im imperialistischen Kriege hat.« Lapinski, Sozialstaat, Etappen und Tendenzen seiner Entwicklung, in: Unter dem Banner des Marxismus, 1928, Nr. 4.

[6] Aus dem Gutachten der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, die in den sechziger Jahren den politischen Konsens zwischen Gewerkschaften und Kapital zu formulieren versuchte.


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