Betriebsintervention in den 70ern – Gespräch mit Yaşar
»eine revolutionäre Stimmung gab's damals - das ist der Unterschied zu heut«
Wie bist du nach Berlin gekommen?
Ich bin nach der Lehre zum Militär gegangen. Direkt danach habe ich mich beim Arbeitsamt gemeldet. Die haben mich gefragt, ob ich auch im Ausland arbeiten würde. Aus Spaß hab ich gesagt »Ist mir egal, ich komm überall unter.« Schon nach 14 Tagen hab ich ein Telegramm gekriegt, es gäbe Aussicht auf einen Job. Ich sollte nach Nürnberg auf den Bau gehen. Zum Glück kamen dann Leute von Siemens und haben mich gefragt, ob ich gerne zu Siemens in Berlin gehen würde. Und so hab ich Anfang 1970 bei Siemens angefangen. Mit einem Stundenlohn von 3,90 Mark - vergleichbare deutsche Facharbeiter haben über 6 Mark gekriegt. Erst jetzt haben wir kapiert, daß wir Verträge unterschrieben hatten, in denen wir uns verpflichteten, ein Jahr für diese Löhne zu arbeiten! Und die anderen Ausländer haben noch weniger bekommen, die Arbeiten gemacht haben, die nicht als qualifiziert galten, Transportarbeiten oder am Fließband … Davon konntest du nicht leben! Im Wohnheim der Firma Siemens hast du mit zwei Leuten im Zimmer gewohnt, die Frauen zu mehreren. Und da hat jeder 60 Mark im Monat bezahlt. Pro Bett 60 Mark!
Was waren deine ersten Eindrücke von der Arbeit in einem deutschen Betrieb?
Wir wußten gar nicht, daß man jeden Morgen stempeln muß. Ich hab mich sehr gewundert, zum einen, warum muß ich stempeln, bin ich nicht vertrauenswürdig? Zum zweiten hab ich mich gewundert, wenn ich schon stempeln muß und erst ab dann bezahlt werde - warum darf ich dann nicht zu spät kommen? Das entbehrte jeder Logik bei mir. Bei mir fängt die Freiheit eigentlich da an: warum kann ich nicht entscheiden, wann ich anfange zu arbeiten? Selbst wenn ich damit einverstanden bin, dann weniger zu verdienen? Bei mir fängt die Freiheit da an und nicht bei der Reise nach Amerika! Dort, wo ich jeden Tag damit konfrontiert bin, das ist die wichtigere Freiheit für mich, nicht ob ich einmal im Jahr nach Amerika verreise oder nicht.
Wie habt ihr euch verhalten?
Wir waren hauptsächlich Ausländer in den Abteilungen. Es war im Sommer oder Spätsommer 1970, da sind viele Frauen an den Bändern umgekippt, bewußtlos geworden, weil die Luft ganz beschissen war und unwahrscheinlich viele Leute auf einem Haufen gearbeitet haben. Und dann die Löhne! Wir haben gesagt »Jetzt kommt Geld! Und wenn das genauso wenig ist wie vorher, dann legen wir die Arbeit nieder.« Wir wußten nicht, daß das hier so organisiert ist, daß nur die Gewerkschaft das Recht hat, daß alles im Tarif geregelt ist. Wir haben ohne Kenntnis der deutschen Gepflogenheit, ohne Gewerkschaft einfach selber gehandelt. Um halb zehn haben wir die Arbeit niedergelegt und sind auf den Hof gegangen. Die Deutschen sind nicht aufgestanden; die sind an ihren Plätzen geblieben, haben aber nicht weiter gearbeitet. Einmal wahrscheinlich aus solidarischen Gründen, weil sie selber gesehen haben, daß das Scheiße ist. Zum anderen aber, weil das auch nicht ging: das Band kann nicht laufen, wenn 30% Personal fehlt. Und dann gingen ganz ungewöhnliche Maßnahmen los: es kamen verschiedene Vorgesetzte, die wir alle nicht kannten und von denen wir nicht wußten, wofür sie da waren: Vorarbeiter? Einrichter? Meister? höhere Vorgesetzte? Da kamen also irgendwelche Leute mit Notizbüchern und haben gefragt, ob wir arbeiten wollen oder nicht. Sie haben gedroht. Wir haben gesagt: »Wir wollen schon arbeiten, aber wir haben ein Anliegen. Wir haben Forderungen aufgestellt und möchten mit jemand darüber reden.« Sie haben immer wieder gefragt, ob wir arbeiten wollen oder nicht. Sie wollten eine konkrete Aussage. Aber wir haben nur gesagt, wir wollen arbeiten, nur: erst mal muß man reden. Dann haben sie so ein Arschloch aus »unserem« Konsulat herbeigerufen. Der hat uns angedroht, wenn wir nicht sofort weiterarbeiten, würden unsere Verträge gekündigt. Und ohne Aussicht auf Arbeitsgenehmigung und Aufenthaltsgenehmigung könnten wir die Koffer packen und nach Hause gehen. Da wir aber so wenig verdienten, daß es nicht mal für ne Karte nach Hause reichte, war das natürlich ein schwerer Schlag für uns. So sind wir irgend wann wieder zurück an die Arbeit gegangen. Aber für uns war klar, wenn sich nichts ändert, gucken wir uns nach anderen Arbeitsplätzen um. Die meisten sind dort abgehauen.
Wie lange seid ihr dort gewesen?
Ich war elf Monate da, der Streik war so nach 5, 6 Monaten. In den Jahren danach gab es überall solche Streiks ohne Gewerkschaften, sogenannte wilde Streiks. Das waren Streiks von Ausländern, die sich weder mit den Gepflogenheiten der Tarifpartnerschaft, noch mit den Gesetzen auskannten. Einfach aus Wut, aus Druck von innen. Der Ford-Streik war groß, weil es eine große Firma war und weil so viele Türken an den Bändern waren.
Nach 11 Monaten hast du gekündigt …
Ja, ein Sklavenhändler hatte mir einen Arbeitsplatz versprochen. Aber nachdem ich gekündigt hatte, haben die gesagt, tut uns leid, in Berlin haben wir nichts. Natürlich wurde ich auch gleich aus dem Wohnheim rausgeschmissen. Da war ich erst mal ohne Wohnung, völlig mittellos, ohne Geld. Ich hab draußen geschlafen, in Treppenhäusern und manchmal bei Freunden. Nach 6 Monaten hab ich dann den Job bei Krone gefunden.
Hattest du da schon Kontakt zu politischen Leuten?
Ich hatte schon bei Siemens Kollegen kennengelernt, die Kontakte zu politischen Gruppen hatten. Ich hab mich mit einigen getroffen. Die wiederum kannten Leute, die bei Krone arbeiteten. Da waren auch viele Studenten drunter, die aus politischen Gründen in die Betriebe gegangen sind.
Warum sind damals so viele Leute von den Unis in die Betriebe gegangen?
Man hat gedacht, die Bewegung an den Universitäten reicht nicht aus, um eine Gesellschaftsveränderung durchzuführen. Die einzige und wahre Bewegung wäre eigentlich, wenn die Arbeiter und Studenten das zusammen machen würden. Denn die Auseinandersetzung war eine Klassenauseinandersetzung, und wenn du eine Klassenauseinandersetzung führen willst, muß man das mit der Arbeiterklasse machen. Und deswegen haben die gesagt »wir schmeißen Uni und Karriere, gehen arbeiten und helfen, die Revolution voranzutreiben.« Eine revolutionäre Stimmung gab's damals, das kann man nicht abstreiten. Das ist der Unterschied zu heute. Die Stimmung hat von den Universitäten rübergeschlagen, auch gerade dadurch, daß die Leute rübergekommen sind und gesagt haben, wie sie es empfinden, was Wahrheit ist. Und da haben die Arbeiter gedacht, na gut, so denke ich auch, nur trau ich es mich nicht zu sagen.
Wie lange sind die geblieben? Haben die danach ihre akademische Karriere fortgesetzt?
Die sind geblieben, bis sie rausgeschmissen wurden. Und auch danach ist von Krone kein einziger an die Uni zurück!
Wie habt ihr euch untereinander organisiert?
Wichtig war, daß wir in mehreren Kommunen zusammengelebt haben. Dadurch, daß wir zusammenlebten, konnten wir sehr gute Arbeit machen. Die Politik, der Alltag, die Arbeit, das floß alles zusammen. Wir wollten damals ja auch eine sexuelle Revolution machen, wir wollten auch anderes leben…
Wenn du sagst »wir«, wer ist das? Wie viele wart ihr?
Das ist schwer zu sagen, insgesamt waren bis zu 100 Leute im Betrieb, die aktiv was machen wollten - darunter auch K-Gruppen. So 15-20 Leute waren harter Kern und haben auch zusammengewohnt. Vielleicht 60 Leute haben uns geholfen - Sachen mitorganisiert, Informationen zugetragen usw. Wenn wir Feste organisiert haben, sind von Krone bis zu 300 Leute gekommen. Zum Teil haben wir uns im Betrieb kennengelernt, zum Teil sind Leute aus den Universitäten reingekommen. Außerdem gab es viele Leute, die uns geholfen haben, die Agit-Druckerei, 'ne Menge Studenten, die mitgearbeitet haben… Sonst hätten wir es nicht geschafft. Wir haben alle 8 Stunden am Tag gearbeitet, und dann noch mindestens einen politischen Termin - plus Seminare! Seminare über Betriebsratsarbeit, Schulung über marxistische Theorien, über Mao damals noch … über alle möglichen Sachen, über diese Leute, die Revolutionen in Gang gesetzt hatten oder sie durchgeführt hatten. Wir haben zusammen Texte gelesen und versucht, das auf unseren Betrieb anzuwenden. Also praktisch umzusetzen versucht, was es für uns und unsere Arbeit bedeutet. Das war sehr anstrengend, das konnten wir nur schaffen, weil wir so jung waren. Wir haben uns immer gewundert, warum keine älteren Leute zu uns stoßen. Aber bei dem Arbeitspensum wären die innerhalb von zwei Monaten gestorben. Wir haben ja nicht nur die Arbeit im Betrieb gemacht, sondern mußten uns dort auch noch mit den K-Gruppen auseinandersetzen. Außerdem hatten wir harte Auseinandersetzungen mit dem 2. Juni. Denn die fanden das falsch, in die Betriebe zu gehen und zu arbeiten, man müßte kämpfen gehen und so. Da gab's eine harte Auseinandersetzung, da ist auch die Sympathie für die Leute zersprungen, da sind Sachen auseinandergegangen.
Was habt ihr im Betrieb an politischer Arbeit gemacht?
Wir haben erstmal eine systematische Erfassung gemacht: Zusammensetzung des Betriebes, wie wird dort gearbeitet, was ist Akkordarbeit, welche Stückzahlen, wie werden die Leute ausgebeutet? Wer mehr, wer weniger: Frauen, Ausländer, Männer, Facharbeiter? Wir haben versucht, möglichst in jeder Abteilung mindestens einen Genossen unterzubringen. Wir haben ganz breit Informationen gesammelt und Kontakte zu knüpfen versucht. Später haben wir regelmäßig eine Betriebszeitung verteilt. Und wenn es Informationen gab, die so wichtig waren, daß sie nicht auf die Zeitung warten konnten, haben wir zudem Flugblätter gemacht - das war oft. Im Betrieb haben wir mit den Leuten über die Arbeitsbedingungen geredet, Lärm, Akkordhetze usw. Wir haben versucht, ne Forderungsliste aufzustellen, was geändert werden muß. Außerdem haben wir natürlich tägliche Agitationsarbeit gemacht, um die Leute zu bewegen, sich an der Revolution zu beteiligen. »Frauen, Deutsche und Ausländer - gemeinsam sind wir stark!« war immer unser Motto. Dann gab es Sprühaktionen im Betrieb und außerhalb. Damals war der ganze Betrieb vollgesprüht, jedes einzelne Gebäude war vollgesprüht mit konkreten Angriffen auf bestimmte Personen.
Das heißt, ihr habt zu der Zeit einen ziemlichen Einfluß im Betrieb gehabt?
Wir waren überall! Und überall volle Pulle. Betriebsversammlungen gingen damals einen ganzen Tag lang. Durch unser Beispiel und unsere tägliche Überzeugungsarbeit haben wir viele Leute ermutigt. Die sind dann auf den Betriebsversammlungen nach vorne gegangen und haben von ihren eigenen Problemen gesprochen. Wir haben eine Teuerungszulage gefordert und sie mit Streikandrohung durchgesetzt. So was ist bei Krone nur ein einziges Mal gelaufen!
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, eine eigene Liste bei den Betriebsratswahlen aufzustellen?Einer von uns ist unerkannt in den Betriebsrat reingegangen. Der hat in der Schlosserei gearbeitet und die Kollegen haben ihn gedrängt… Im Betriebsrat hat er andere Auffassungen von BR-Arbeit gehabt, deshalb wollten die ihn rauskanten. Das hat er im Betrieb an die große Glocke gehängt und sehr viel Unterstützung von den Kollegen gekriegt. Wir haben gesagt, »So nicht, das war der beste Mann im Betriebsrat!« Wir haben den Betriebsrat gestürzt, Neuwahlen provoziert und uns selber aufgestellt. Und dadurch haben wir das ganze Jahr 72 über eine Wahnsinns-Stimmung gemacht im Betrieb. Damals hat der Arbeitgeber schon angefangen, uns zu sortieren. Alle Leute, die in großen Abteilungen waren, wurden in ganz kleine Abteilungen versetzt und Leute, denen sie das geringste nachweisen konnten, wurden entlassen. In der Situation haben wir gedacht, wir reichen die Liste ein, dann sind wir Kandidaten und sie können uns ein halbes Jahr lang nicht rausschmeißen. Und dann werden wir sehen, was nach der Wahl ist. Danach können sie uns vielleicht rausschmeißen, aber in dem halben Jahr kann man einiges machen. Das war das erste Mal bei Krone, daß es eine von der IGMetall unabhängige Liste gab. Zum ersten Mal wurde Listenwahl gemacht, und die Gewerkschaft hat uns rausgeschmissen, weil wir gegen die offizielle Gewerkschaftsliste kandidierten und uns nicht gewerkschaftskonform verhalten haben.
Da lief aber schon der Gegenangriff des Unternehmers …
Krone hatte zu der Zeit 4000 Arbeiter und hat innerhalb von zwei Jahren auf 2000 reduziert. Aber das hätte nicht gereicht, um uns alle rauszuschmeißen, denn einige hatten Kinder, waren schon lange Jahre im Betrieb usw. Deshalb haben sie alles beobachtet, was wir gemacht haben, alles konnte ein Entlassungsgrund werden: auch erfundene Geschichten, wo dann Leute bezeugten, das und das gesehen zu haben usw. Auch Leute, die sich auf Betriebsversammlungen für uns ausgesprochen haben, wurden am Tag danach rausgeschmissen. Einmal haben sie im Betrieb eine Demonstration gegen uns gemacht mit 50 Leuten. Richtig mit Transparenten und so. Natürlich organisiert durch Gewerkschaft und Betriebsrat, von ner Vertrauensfrau angeführt … Wir haben ungefähr 30 Gerichtsprozesse gegen die Rausschmisse geführt und einen einzigen gewonnen: der hat Abfindung gekriegt, aber trotzdem keine Wiedereinstellung. Keine einzige Wiedereinstellung!
Was, denkst du, waren die besten Sachen, die ihr gemacht habt?
Unsere beste Sache war diese Erfahrung - für uns selber und für die anderen Arbeiter. Alle Leute haben gesehen, was damals passiert ist. Das war eine Zeit, wo die Leute tatsächlich zum Denken angeregt wurden.
Was war eure Niederlage?
Wir waren eine Bombengruppe, wir haben uns gegenseitig erfüllt und waren gerne zusammen. Und auf einmal mußten wir woanders arbeiten und waren völlig zerstreut und verloren. Das war eine bittere Niederlage. Viele konnten das nicht verkraften. Deshalb gab es auch diesen absoluten Schritt, daß viele gesagt haben, jetzt verlaß ich dieses Land. Ich bin ja auch zurück in die Türkei. Wenn ich zurückgucke, würd ich sagen, es war auch ne persönliche Niederlage. Keiner von uns hat es geschafft, Beziehungen aufzubauen, die das ausgehalten hätten; weder Frau noch Mann. Die wichtigste Zeit, die wir zusammen waren und wo sich was zwischen zwei Leuten entwickeln kann, Liebe und so was, hatten wir dafür keine Zeit. Wenn du denkst, kurz vor der Revolution zu stehen, wirfst du alle Kraft da rein, werden andere Sachen unwichtiger. Wir haben gedacht, wir haben keine bürgerliche Ehe, sondern revolutionäre Beziehungen unter Genossen, und die können solche Belastungen ertragen. Aber da ist ganz viel zusammengebrochen danach. Später haben wir zwar die Termine nicht mehr gehabt, aber die Annäherung hat dann nicht mehr stattgefunden. Wir hatten einen Versuch unternommen, aus den gesellschaftlichen Zwängen und aus uns selbst. Wir hatten einen unvorstellbaren Energieaufwand getrieben.