JAPAN:
Tagelöhner ...
»Zischende Molotowcocktails über nächtlichen Straßen, Wasserwerfer gegen den gezielten Steinschlag von Asphaltbrocken, Schlagstöcke gegen den über Megaphone brüllenden Volkszorn. Immer wieder verlangen sie eine Entschuldigung von der 'korrupten' Polizei: 'Jetzt hat es sich gezeigt, daß ihr Geld von der Yakuza nehmt. Wen wundert es da noch, daß ihr die Spielhöllen nicht ausnehmt und stattdessen uns schlagt.' Überall sind umgestürzte Autos, geplünderte Geschäfte, wahllose Brandstiftungen, aufgebrochene Automaten. ... Im Kordon um die Wache im Stadtteil Kamagasaki (Osaka) stehen 2500 Bereitschaftspolizisten hinter Schilderwänden, nur einen Pflastersteinwurf entfernt stehen 1500 Demonstranten hinter brennenden Barrikaden. ... Als am Sonntag die Kämpfe abzuflauen scheinen, spricht man offiziell von 160 Verletzten, 127 davon Polizisten und sechzig Festnahmen. ... Seit den blutigen Kämpfen um den Ausbau des Tokioter Flughafens Narita hat Japan solche Szenen nicht gesehen. Nun erteilten fünf Tage lang allabendlich die wütenden Tagelöhner von Kamagasaki in Osaka der Fernsehnation eine schockierende Lektion. Denn auch wenn das prosperierende Japan sie ohne Mühe verleugnet und verdrängt, es gibt sie doch, die anderen Japaner: verarmt, von Gangstern abhängig und ausgebeutet, von der Staatsmacht erniedrigt ... Zum Beispiel die 20 000 Tagelöhner im größten Getto Japans: eben Kamagasaki, ein erbärmliches Viertel, das sich angeblich 45 Sub-Gangs der größten Yakuzagruppe, Yamaguchi-gumi, unter sich aufteilen. Früher spezialisiert auf Hafenarbeiter, heute auf die alltäglich neu geheuerten Bauarbeiter, die hohe 'Kommissionen' für ihre Vermittlung zu zahlen haben. ... Würden die Leute von Kamagasaki, so die neue Schreckensvision, eines Tages gemeinsame Sache machen mit Hunderttausenden koreanischen, chinesischen und anderen 'Gastarbeitern' hier, den Illegalen zumal, die sich wie die Tagelöhner im Würgegriff der Yakuza winden: sie hätten das Zeug dazu, dem reichen Haus Japan ein paar Teufel an die Wand zu malen.« (FAZ, 8.10.1990, Der verzweifelte Aufstand der Tagelöhner von Kamagasaki)
In mehreren großen Städten Japans gibt es solche Stadtteile, in denen Tagelöhner wohnen, die sogenannten Yoseba, und sie haben eine jahrhundertelange Tradition. In Tokio liegt der Stadtteil Sanya. Die Entstehung der Yoseba geht auf die Hungersnot von 1780 zurück, als viele BäuerInnen nach Edo, dem heutigen Tokio kamen. Den hier lebenden Menschen, schon damals die unterste soziale und diskriminierte Schicht, die burakumin oder eta, waren nur gesellschaftlich geächtete Arbeiten erlaubt. Die obdachlosen Menschen wurden in den Yoseba zusammengepfercht und zu Arbeiten bei der Eindeichung und Landgewinnung gezwungen.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde Ende der 50er Jahre das System der Yoseba reaktiviert, um auf die Bedürfnisse des schnellen Wachstums des japanischen Kapitalismus zu reagieren. Ihre Rolle war nun, billige Arbeit je nach täglichem Bedarf für den Bau, die Schiffsindustrie und die Produktion bereitzustellen. Speziell die Baufirmen hatten das Interesse, langandauernde Arbeitsverhältnisse (in Japan normalerweise ein Leben lang) durch Arbeiten von Tagelöhnern zu ersetzen.
Die Arbeiter ziehen von einem Yoseba ins andere auf der Suche nach Arbeit. Angezogen von den Bauprojekten zur Olympiade 1964 in Tokio waren viele Arbeiter in Sanya, danach zogen viele nach Kamagasaki wegen der anstehenden Bauten zur Weltausstellung in Osaka 1970. Die Gesamtzahl der Tagelöhner in allen Yosebas Japans beträgt etwa 100 000.
Sanya
In Sanya leben etwa 8000 Tagelöhner und es existiert ein informeller Arbeitsmarkt, an dem sich Arbeitsvermittler und Firmen tageweise Arbeiter suchen.
Die Arbeiter in Sanya (es sind praktisch nur Männer; benachbart liegt das Prostitutionsviertel Yoshiwara, in dem entsprechend Frauen arbeiten) repräsentieren die unterste Schicht der japanischen Gesellschaft. Sie haben keinerlei soziale oder familiäre Bindungen mehr außerhalb von Sanya, wohingegen normalerweise in Japan diese Bindungen zum Herkunftsort als letzte »Versicherung« angesehen und gepflegt werden. Und dies in einer Gesellschaft, wo das System der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung nicht staatlich ist und schlecht. Sie stammen traditionellerweise zumeist aus Nordjapan, da Sanya nahe bei der Bahnlinie liegt, die aus dem Norden nach Tokio kommt. Viele von ihnen haben früher in Kohlebergwerken oder der Schwerindustrie in der Provinz gearbeitet, die heute alle geschlossen sind. Mit der Arbeitslosigkeit und der darauf folgenden Entwurzelung und des Auseinandergehens der Familien kamen sie auf Arbeitssuche nach Sanya und bleiben dort oft ein halbes Leben lang. Unter ihnen befinden sich auch zahlreiche Nachkommen von KoreanerInnen, die während der japanischen Besetzung Koreas (1910-1945) als ZwangsarbeiterInnen nach Japan verschleppt worden waren. Diesen werden auch heute noch normale »Bürgerrechte« verweigert, sie haben keine Staatsangehörigkeit, müssen sich Ausländerausweise besorgen, haben z.B. eine schlechtere Krankenversorgung und sind finanziell im allgemeinen schlechter gestellt. Sie werden sowohl institutionell als auch gesellschaftlich diskriminiert.
Viele der Menschen in Sanya leben als Obdachlose auf den Straßen, lediglich nach einer Zeit guten Verdienstes können sie sich in einer der zahlreichen »Pensionen« (doya) für eine gewisse Zeit ein Bett mieten. Im Winter schlafen sie zu mehreren um ein etwas wärmendes Feuer herum. Die Mehrheit der Arbeiter dürfte Alkoholiker sein. An der Straße nach Sanya steht ein Schild: »Vorsicht, viele Betrunkene unterwegs!«
Sie arbeiten vor allem auf dem Bau und sind durchaus Fachkräfte auf den jeweiligen Gebieten. Die Bezahlung ist für deutsche Verhältnisse nicht schlecht (zum Teil weit über 100 DM am Tag), aber die Kosten für das Leben sind in Tokio weitaus höher als hier, und in der Regenzeit und im Winter gibt es kaum Arbeit, so daß diese Zeit jeweils überbrückt werden muß. Seit der Rezession durch die »Ölkrise« wurde die Arbeit knapper, die Löhne wurden gedrückt. Die jüngeren, für die es bis dahin attraktiv war, dort zu arbeiten, zogen weg. Zurück blieben die völlig Entwurzelten. Dadurch sind die Arbeiter im allgemeinen über 40 Jahre, ihr Durchschnittsalter liegt etwa bei 50 Jahren. Es existiert in der japanischen Gesellschaft gegen die Tagelöhner eine starke Diskriminierung. Da sie im allgemeinen äußerlich erkennbar sind, setzt sich z.B. im Zug niemand neben sie.
Seit einem Jahr gibt es in Sanya zahlreiche Immigranten aus Bangladesh, die Arbeit suchen. Zwischen ihnen und den japanischen Arbeitern gibt es durchaus Schwierigkeiten wegen der neuen Konkurrenz bei der Arbeitssuche (»die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg«), aber andererseits auch viel von der allgemein vorhandenen Solidarität.
Sogidan - Die Sanya-Sogidan heißt übersetzt Sanya-Kampf-und-Diskussionsgruppe. Sie ist eine Gruppe von Linken, die aus der 68er Bewegung entstanden ist und seit zehn Jahren in Sanya gemeinsam mit den Tagelöhnern dort versucht, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Sie haben ein kleines Büro im Stadtteil, seit diesem Jahr auch noch ein Haus an der Einkaufsstraße von Sanya, in dem sich Rechtsberatung, medizinische Hilfe, Aufenthaltsräume und ein kleines Restaurant befinden. Aufgrund der Zerstrittenheit der japanischen Linken ist es formal in kirchlicher Trägerschaft, um es den Arbeitern Sanyas langfristig zu erhalten. Dieses Haus ist gemeinsam von ihnen und den Arbeitern erbaut worden, von denen alle das jeweils nötige Fachkönnen kostenlos zur Verfügung gestellt haben, weil sie das Haus als ihr Haus begreifen.
Die konkrete Arbeit der Sogidan
Jeden Morgen zur Zeit der Arbeitsvermittlung um 6 Uhr machen sie mit ihrem Lautsprecherwagen eine Kundgebung und gehen anschließend mit nicht vermittelten Tagelöhnern essen und diskutieren. Es existiert eine gemeinsam gegründete, kleine, unabhängige Tagelöhnergewerkschaft. Zur Zeit der in Japan traditionellen Frühjahrslohnkämpfe führt diese gemeinsam mit den Arbeitern sogenannte Kampfverhandlungen mit zahlreichen Jobvermittlern und kleinen Firmen. Bei diesen werden auch durch den Druck der zahlreich anwesenden Arbeiter konkrete Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen ausgehandelt.
Die Sogidan ist selbst oft Angriffsziel der Faschisten/Yakuza: Ganztägige Entführungen von Menschen der Gruppe, Schüsse auf das Büro, die Verwüstung desselben und schließlich der Mord an Mitsuo Sato, weil er den Film über die Arbeiter und den Widerstand in Sanya gemacht hat.
Die Sogidan organisiert gut besuchte Stadtteilfeste, wie das traditionelle japanische Sommerfest. Zum Neujahrsfest wird ein mehrtägiges Programm geboten, um die Zeit ohne Arbeitsmöglichkeiten zu überbrüken. Im Gegensatz zur Stadtverwaltung, deren Neujahrsfest für die Sanya-Arbeiter ganz abgelegen im Hafengebiet mit Eingangs- und Ausgangskontrolle eher an ein mehrtätiges Aus-dem-Verkehr-ziehen erinnert.
Im Winter werden nachts Patrouillen organisiert, die darauf achten sollen, daß die wärmenden Feuer auf den Straßen nicht von Faschisten gelöscht werden, so daß die Arbeiter erfrieren würden. So fahren sie mit warmem Reis und heißem Tee durch die Straßen und wecken diejenigen, die kurz vor dem Erfrieren sind.
Zusätzlich gibt es Beratung und Unterstützung gegen Sklavenhändler und z.B. Psychiatrien. Es ist für sie selbstverständlich, genauso mit Immigranten wie mit japanischen Tagelöhnern zu arbeiten.
Yakuza
Die Yakuza sind die japanische Art von Mafia oder sogenannter organisierter Kriminalität. Sie beherrschen ähnlich wie in anderen Ländern die Prostitution, den Frauenhandel, den (verhältnismäßig geringen) Drogenhandel, das Glücksspiel, die Arbeitsvermittlung (neuerdings auch mit ArbeiterInnen aus anderen südostasiatischen Ländern) und sind in der Bauspekulation tätig. Organisiert in verschiedenen Clans oder Familien sind sie zum Teil eng verbunden mit nationalistischen oder faschistischen Gruppen. Deutlich wird diese Verbindung schon in den Namen wie »Nationale Liga für das japanische Kaiserreich«, wobei der Kaiser (Tenno) das Symbol für die Rechten als nationale Gottheit ist.
Die tehaishi (Arbeitsvermittler) sind fast alle yakuza. Im Endeffekt arbeiten die Tagelöhner bei großen angesehenen Konzernen. Damit die sich aber nicht mit illegalen Arbeitsbedingungen und der Unterbezahlung die Hände schmutzig machen, sind zwischen ihnen und den tehaishi noch 2 oder 3 Subunternehmer zwischengeschaltet.
Stadtverwaltung und Bullen
Die Stadt hat in Sanya ein Arbeitsamt eingerichtet, das aber im Prinzip nicht viel anders funktioniert als die private Vermittlung. Bestimmte Extremfälle werden allerdings dort ausgeschlossen. Die Tagelöhner haben einen Tagelöhnerausweis, den sie von den Unternehmern abstempeln lassen. Nur bei genug nachgewiesener Beschäftigungszeit gibt es Schlechtwettergeld für die Zeit, in der keine Arbeit angeboten wird (für 7 Tage nach 28 Tagen Arbeit).
Im allgemeinen gibt es eine eher versteckte Zusammenarbeit zwischen Arbeitsamt, Stadtverwaltung und Yakuza, weil sie den Behörden öffentlich unangenehm ist oder sie ahnungslos tun. Die Zusammenarbeit zwischen Bullen und Yakuza ist offensichtlicher. Die Yakuza dürfen erstmal machen, was sie wollen, während Arbeiter, die sich gegen sie wehren, sehr schnell in den Knast kommen.
Die eingangs geschilderten Auseinandersetzungen in Kamagasaki/Osaka brachen z.B. aus, als bekannt wurde, daß ein Bulle des zuständigen Reviers von den Yakuza bezahlt wurde. Der Widerstand gegen die Bullen war für die Arbeiter dort wie des öfteren in Sanya eine logische Konsequenz.
Über das Leben und den Widerstand in Sanya gibt es den erwähnten Film, dessen Regisseur Mitsuo Sato aus der Sogidan wegen dieses Films von den Yakuza 1984 umgebracht wurde. Der Film ist kein Dokumentarfilm nach deutschem Verständnis. Er wurde zusammen mit und für die Arbeiter in Sanya und anderen Yosebas (Arbeitsmärkten) Japans gemacht und richtet sich demzufolge nach dortigen Maßstäben. In langen, ruhigen Einstellungen werden die Arbeiter, ihr Leben und ihr Widerstand beobachtet.
Der Film heißt »Sanya - Wenn du getreten wirst, schlag zurück« (110 Minuten, 1986, deutsche Fassung), erhältlich bei autofocus - videowerkstatt, Berlin
[Anmerkung aus 2007: zur aktuellen Entwicklung der Situation und der Kämpfe von Wohungslosen und Tagelöhnern in Japan, siehe den Film »public blue« von 2006 und den Beitrag Public Blue: eine Besetzung des öffentlichen Raums. Wohnungslose in Japan.]
... und Nomaden
Der Aufstieg der japanischen Wirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg, die Durchsetzung eines für das Weltkapital beispielhaften Ausbeutungsmodells - und das trotz militanter Klassenkämpfe in der Nachkriegszeit - hat eine wesentliche Voraussetzung: eine massenhafte Abwanderung aus den ländlichen Gebieten, die rasche Konzentration von Millionen Arbeitskräften in den Großstädten. Das Kapital verfügte damit über eine Arbeitskraft, die aus ihren alten sozialen Zusammenhängen herausgerissen war und noch über keine industrielle Erfahrungen verfügte. Sie waren daher bereit, extreme Arbeitsbedingungen und geringe Löhne hinzunehmen. Vor dem Hintergrund dieser riesigen Binnenmigration konnte das Kapital eine extreme Spaltung des Arbeitsmarktes aufbauen: auf der einen Seite die ArbeiterInnen der Großbetriebe, denen das Recht auf lebenslange Beschäftigung und damit Existenzsicherheit eingeräumt wurde, auf der anderen Seite die ArbeiterInnen der kleinen Zulieferbetriebe mit sehr viel geringeren Löhnen und schlechteren Bedingungen. Verbunden sind diese Zulieferbetriebe, die einen viel größeren Teil der Gesamtproduktion des jeweiligen Produkts übernehmen als hierzulande bisher üblich, über das berüchtigte »Just-in-time-Prinzip«. Damit soll der Produktionsfluß zwischen Teileherstellung und Endmontage fast so flüssig laufen, als handele es sich um eine große Fabrik, andererseits aber die Entstehung der rebellischen Arbeitermacht, wie sie die Großfabrik mit sich brachte, vermieden werden.
Mittlerweile stößt nicht nur »Just-in-time« (siehe Kasten), sondern das japanische Ausbeutungsmodell insgesamt an seine Grenzen: Die Industrie findet nicht mehr genügend »neue« Arbeitskräfte . Zwar steigt auch in Japan die illegale Einwanderung explosiv an, aber Staat und Unternehmer schrecken vor einer regulierten Arbeitsmigration noch zurück. Möglicherweise fürchten sie die Entstehung eines explosiven neuen Klassengemischs (siehe den vorstehenden Artikel zu Sanya).
Und das für die Stabilität der Ausbeutung so wichtige Recht auf lebenslange Beschäftigung gerät doppelt unter Druck: es wird zu teuer - und die jungen ArbeiterInnen pfeifen darauf. Ohne genügende Expansion führen die Beschäftigungsgarantien für die sogenannten »Stammbelegschaften« zu einer Überalterung der Belegschaften, was in den großen Automobilkonzernen bereits stattfindet. Deren Rechte anzugreifen, könnte ihnen ihre weltweit gerühmte Arbeitsmotivation rauben. Aber es finden sich auch nicht mehr genügend ArbeiterInnen, die sich damit ködern lassen. In den letzten Jahren entwickeln sich in der japanischen Gesellschaft neue Arten von prekärer Arbeit: Teilzeit, Zeitverträge, Heimarbeit usw. Aufgrund der Engpässe auf dem Arbeitsmarkt greifen die Unternehmen immer öfter auf solche »externen« Kräfte. Der Staat fördert die Ausbeutung von Gelegenheitskräften, denn er läßt bis zu 1 Mio. Yen (knapp 13.000 Mark) im Jahr steuerfrei und die Firmen brauchen sie nicht krankenversichern.
Aber die Ausweitung der Gelegenheitsarbeit ist nicht bloße Kapitalstrategie, sondern Ausdruck einer neuen Arbeitersubjektivität in Japan. Das Land lernt gerade ein völlig neues Phänomen kennen: drei Millionen Lohnabhängige, das ist einer von zwölf, wechseln die Arbeit im Lauf eines Jahres. 90% von ihnen sind unter dreißig, etwa genausoviele Männer wie Frauen. Diese japanischen Jobber, »Freeter« genannt, geben einer Umfrage des Arbeitsministeriums zufolge als Gründe für ihre Jobberei an: »was besseres zu tun zu haben als zu arbeiten; nicht an das Unternehmen gebunden sein zu wollen; sich selber die Arbeitszeit einteilen zu können «
Dazu haben wir den folgenden Artikel aus einer französischen Zeitung in Auszügen übersetzt.
Nomadenlöhne gegen Unternehmenskult
(aus: Courier International vom 16/5/91)
Viele junge JapanerInnen, selbst Leute mit Diplom, arbeiten nur hin und wieder, opfern nicht Körper und Geist dem Unternehmen wie ihre Ahnen. Diese »freeter« (zusammengezogen aus dem englischen »free« und dem deutschen »Arbeiter«) wollen nur so viel verdienen, wie zum Leben und zum Reisen brauchen. Die Personalnöte der Unternehmen sind dermaßen, daß sie sich deren Anstellung einiges kosten lassen. Die StammarbeiterInnen aber betrachten diese Konkurrenten sehr verärgert, weil diese für eine Arbeit ohne Verantwortung genauso viel bekommen, wie sie selber nach zehn Jahren Unternehmenszugehörigkeit.
Letzten Februar hat sich Herr Okada (Pseudonym) im Alter von 27 Jahren zum fünftenmal entschlossen, die Arbeitsstelle zu wechseln. Das Verlagshaus, in dem er seit zweieinhalb Jahren ohne festen Vertrag arbeitete, hatte ihm die Festeinstellung angeboten, wenn er ein Examen ablegt, aber er hat das abgelehnt: man rechnete auf ihn und das genau ist es, was ihm auf die Nerven ging. Nach seiner Kündigung reiste er einen Monat lang durch Südost-Asien und arbeitet nun in einem kleinen Werbebüro, das von einem Freund geleitet wird, den er während einer seiner vorhergehenden Jobs kennengelernt hatte.
In den Tag hinein leben ... Das auf Zeitarbeit spezialisierte Kleinanzeigenblättchen "Recruit form A" hat den Namen "Freeter" aus der Taufe gehoben für junge Leute, die von "kleinen Jobs" leben und keine Lust auf Karriere haben. Wie Herr Okada wollen sie sich nicht in die Unternehmensorganisation einspannen lassen und ziehen lange Auslandsreisen der Arbeit vor. Arbeit ist für sie nur ein Mittel, um Geld für Reisen auf die Seite zu schaffen. Einer Umfrage seines Magazins zufolge haben sich 37% der Jugendlichen ohne festen Arbeitsplatz dazu entschieden, "Freeter" zu sein.
Die Wut der Gewerkschaftler ... Anläßlich der Lohnverhandlungen im Frühjahr hat die Arbeitergewerkschaft von Mitsubishi das Problem der Lohnunterschiede zwischen Festangestellten und Zeitvertraglern aufgeworfen. Letztere verdienen durchschnittlich 350 000 Yen (etwas über 4000 Mark), in etwa das, was Festangestellte mit 27, 28 Jahren, zehnjähriger Betriebszugehörigkeit und möglicherweise mit Abitur verdienen. Die Gewerkschaftler sind unzufrieden, sie verstehen nicht, warum ein junger Festangestellter weniger verdient als ein 18jähriger Zeitvertragler ohne jede Verantwortung. Mit dem Boom der neuen Autos begannen alle Autohersteller, massiv Zeitvertragler einzustellen. In einer Fabrik im Norden von Tokio beschäftigt Isuzu 1200 Personen, 500 davon sind Zeitvertragler. ...
Sie kommen nicht zur Arbeit, wenn es regnet. Insgesamt beschäftigt Isuzu 3300 und muß allein um die ausscheidenden Zeitvertragler zu ersetzen, monatlich 500 neue einstellen. Das gleiche bei Toyota, wo es 2500 Freeters gibt, oder bei Nissan mit 3500 und Mitsubishi mit 4000. Die einzige Möglichkeit, Freeters anzuziehen, besteht für die Autoindustrie darin, ihnen höhere Löhne anzubieten. ... Aber es gibt nicht nur das Problem des Lohns. Oft verlassen die Freeters ihre Arbeit ohne Vorankündigung, oder sie kommen nicht, wenn es regnet. ... Wenn ein Nomadenarbeiter fehlt, übernimmt ein berufserfahrener Arbeiter seinen Platz. Aber wenn das nicht ausreicht, muß das Band langsamer gestellt werden. ...
Als erste von der Rezession bedroht. Um gegen den Absentismus vorzugehen, haben die Unternehmen die Anwesenheitsprämien für Zeitvertragler erhöht, was wiederum den Streit mit den Festangestellten verschärft. Im letzten Herbst mußten die Personalchefs erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß zukünftige Abiturienten einen Arbeitsplatz mit dem Argument ablehnen, Zeitarbeit werde besser bezahlt. Die Nomadenarbeiter destabilisieren also sogar die Rekrutierung neugebackener Schulabgänger. Aber vom Standpunkt der Unternehmen ist die Zeitarbeit nicht anderes als ein Puffer, der die Arbeitsplätze der Festeingestellten sichert. Für die japanischen Unternehmen sind die Freeter letztlich Außenseiter, ... die im Fall der Rezession als erste entlassen werden. ...
Stunden von "Just-in-time" offenbar gezählt
Unter diesem Titel berichtet der Kölner Stadtanzeiger (17.9.91) über die zunehmenden Schwierigkeiten, an dieser »Zauberformel der japanischen Autoindustrie« festzuhalten: »Stolz nimmt Japans Autoindustrie zur Kenntnis, daß sie für Produzenten in aller Welt längst vom Schüler zum Lehrer geworden ist. Das von Toyota-Pionier Taiichi Ohno vor 40 Jahren entwikelte 'Just-in-time-Prinzip', nach dem Autofabriken keine großen Lager unterhalten, sondern im Rhythmus der Produktion mit den gerade benötigten Einzelteilen beliefert werden, wird in Europa und den USA begeistert kopiert. Doch während sich die ausländische Konkurrenz von der traditionellen Massenproduktion trennt und auf die japanische Linie einschwenkt, gerät 'Just-in-time' im Erfinderland unter Beschuß. Wegen des drückenden Arbeitskräftemangels finden sich immer weniger Fahrer für die unzähligen Lastautos und Lieferwagen, die nötig sind, um die Fabriken, oft im Stundentakt, beliefern zu können. Die ständig rotierende Flotte von Lieferfahrzeugen wird auch für das Chaos auf Japans Straßen verantwortlich gemacht. Tokio verdankt seine hohe Luftverschmutzung nicht zuletzt den täglichen Staus der Dieseltransporter. ...« Das Handels- und Industrieministerium MITI fordert die Autoindustrie auf, über mögliche Alternativen der gerade rechtzeitigen Belieferung nachzudenken. »... Der Autohersteller Mazda gab Ende August bekannt, er werde wegen steigender Kosten im Straßentransport mehr Güter seiner Zuliefer auf die Schiene verlagern. Die Anlieferung dauere mit der Bah zwar eine Stunde länger, sei aber billiger und zuverlässiger. Auch der Vater des flexiblen Liefersystems, Toyota, denkt um. Zwar wird offiziell am 'Kanban'-System - benannt nach einer Kontrollkarte, die mit jedem Einzelteil zwischen Toyota und dem Zulieferer pendelt - nicht gerüttelt. Doch außerhalb der Zentrale bei Nagoya, wo viele Zulieferer für den einzigen Abnehmer Toyota produzieren, sucht der Konzern nach neuen Wegen. 'In Reinform funktioniert das System eben nur in Toyota-City', sagt ein Firmensprecher. ...«
In einer Satire wurde einmal ausgemalt, wie sich Just-in-time selbst ad absurdum führen könnte: die vollständige Durchsetzung von JIT in der Automobilindustrie würde den täglichen LKW-Verkehr derartig anschwellen lassen, daß niemand mehr Lust hat, sich mit dem Auto fortzubewegen. Mit ihrer flexiblen Produktion vergraulen die Autokonzerne so ihre eigene Kundschaft. Die Satire wird schon Realität. Als das Management bei Opel-Bochum jüngst über weitere Auslagerungen beriet, wurde eingewandt, es könne angesichts der angespannten Verkehrssituation auf den Straßen und Autobahnen des Ruhrgebiets dem Image der Autofirma Opel schaden, wenn sie für noch mehr Stau sorge ...