Wildcat Nr. 68, Januar 2004, S. 30-31 [w68boliv.htm]


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Der Oktoberaufstand in Bolivien

Am 17.10. musste wieder ein lateinamerikanischer Präsident seinen Regierungssessel vorzeitig verlassen. Sánchez de Losada floh vor dem Zorn der BolivianerInnen - symbolträchtig direkt nach Miami, via US-Botschaft. Im September hatte in Bolivien der Krieg um das Gas begonnen, eine breite Mobilisierung gegen die Pläne der Regierung, mit dem Erdgas eine weitere Ressource an die multinationalen Konzerne zu verscherbeln. Aus den Protesten gegen die neoliberale Ausverkaufspolitik entwickelte sich ein Volksaufstand mit einem gemeinsamen Ziel: die Regierung zu stürzen. In diesem Aufstand haben sich Bewegungen vereint, die in den letzten Jahren getrennt gekämpft haben. Die Einheit kam durch den Druck der Basis zustande, der Partei- und Gewerkschaftsführungen überrollte. Der Aufstand war unkontrollierbar, und es entwickelten sich neue Strukturen von Gegenmacht und (teilweise bewaffneter) Selbstverteidigung. Entgegen vorherigen Ankündigungen konnten die USA ihren Präsidenten Sánchez de Losada nicht halten. Aber es ist ihnen gelungen, mit Carlos Mesa eine sozialverträglichere Figur zu installieren und die Rebellion zunächst aufzuhalten. Aus dem Oktoberaufstand ist noch keine Revolution geworden.


Seit dem Wasserkrieg im April 2000, mit dem die EinwohnerInnen von Cochabamba die Privatisierung der Wasserversorgung verhindert haben, ist es in Bolivien immer wieder zu Blockaden und Aufständen gekommen. Mal blockierten die Aymarabauern auf dem Hochland die Straßen, dann wieder die Kokabauern im tropischen Chapare. Die Bergarbeiter meldeten sich mit ihren Dynamitstangen in der Hauptstadt zu Wort, und RentnerInnen gingen auf die Straße. Verschiedenste Gruppen mobilisierten gegen ihre unerträglichen Lebensbedingungen. Zu einer ersten Vereinheitlichung kam es im Februar 2003, als die Ankündigung einer massiven Steuererhöhung zu einem Aufstand führte, der mit 33 Toten und der Rücknahme der Steuererhöhung endete. Die Einheit und Stärke, die in den Kämpfen im Oktober entstanden ist, ging wesentlich weiter und wurde heftiger unterdrückt. Die Repression hinterließ mehr als achtzig Tote und fünfhundert Schussverletzte. Die Verletzten demonstrieren zur Zeit im Zentrum von La Paz für Entschädigungen. Den meisten fehlt das Geld für Medikamente und medizinische Versorgung.

Zentrum des Aufstands war El Alto, die Stadt der Armen oberhalb der Hauptstadt. La Paz liegt in einem Talkessel. Wer Geld hat, wohnt in den tiefer gelegenen Stadtteilen, wo die Luft nicht ganz so dünn und die Kälte nicht so beißend ist. Oberhalb der Kante des Kessels, auf mehr als 4000 m Höhe, haben sich die MigrantInnen vom Land niedergelassen. El Alto ist die Hauptstadt der Aymara und hat inzwischen 800 000 EinwohnerInnen. Ehemalige Bauern und Bergarbeiter schlagen sich hier mit Straßenhandel, informeller Arbeit und Klitschenwirtschaft durch. Sie leben teilweise seit Generationen in der Stadt, aber die Verbindungen zu den Aymara auf dem Land sind vielfältig.

Die bolivianische Gesellschaft besteht aus zwei Welten: der der weißen Minderheit und der der indigenen Mehrheit. Landbevölkerung und städtische Aymara waren die ProtagonistInnen des Aufstands. Sie provozierten damit teilweise bürgerwehrähnliche Angriffe von Weißen (wie der Nación Camba - Nation der Weißen in Santa Cruz), aber es gelang ihnen auch, absteigende weiße Mittelschichten mitzuziehen. In den letzten Tagen des Aufstands kam es auch in Mittelschichtsvierteln in La Paz zu Mobilisierungen.

Die Jugendlichen von El Alto sind moderne Vorstadt-Kids mit städtisch-westlicher Kultur. Aber in einer Gesellschaft, in der sie zu Armut und miesesten Jobs verdammt sind und als "Scheiß-Indios" beschimpft werden, beziehen sie sich ebenso auf ihre Identität als Aymara. Am 20.9. erschoss das Militär bei der Räumung einer Straßenblockade in Huarisata auf dem Andenhochland fünf Aymara-Bauern. Die Bauern und Bäuerinnen intensivierten daraufhin ihre Blockaden und begannen sich zu bewaffnen. Die Aymara von El Alto schlossen sich dem Aufstand an. Die Hauptstadt La Paz war von den Blockaden eingekreist. Besonders umkämpft war die Autobahn, die La Paz mit El Alto und dem Flughafen verbindet. Hier kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Militär und DemonstrantInnen, die die Straßen mit Barrikaden und entgleisten Bahnwaggons blockierten und Gräben aushoben.

Die BewohnerInnen von El Alto benutzten die bestehenden etwa 500 Nachbarschaftskomitees (Juntas Vecinales), um sich zu organisieren. Auf den Straßen fanden ständig Versammlungen statt. An den Mobilisierungen waren besonders viele Frauen und Jugendliche beteiligt. Nachts traf man sich an den Feuern, die zur Absicherung der Stadtviertel brannten und von organisierten Nachtwachen bewacht wurden. Um das Vordringen von Polizei und Militär zu verhindern, wurden Barrikaden gebaut, Brücken gesprengt, Autoreifen verbrannt und Stacheldraht ausgelegt. Selbstverteidigungskomitees sorgten für die Ausrüstung mit Molotow-Cocktails, Sprengsätzen und anderen Mitteln zur Verteidigung. Schließlich bildete sich für die Fragen der militärischen Verteidigung eine Koordination aus der Vereinigung der Nachbarschaftskomitees (FEJUVE), dem Regionalen Gewerkschaftsdachverband (COR) und der Gewerkschaft der Hochlandbauern (CSUTCB). Die BewohnerInnen von El Alto haben die Organisation und Absicherung ihrer Stadt selbst in die Hand genommen. Manche sprachen schon davon, die Kommune von El Alto auszurufen - wozu es dann aber nicht mehr kam.

Unter dem Druck der Ereignisse hatte der Gewerkschaftsdachverband COB zu einem unbefristeten Generalstreik und Straßenblockaden aufgerufen. Der Generalstreik war zunächst umstritten, da der COB an der Basis keinerlei Vorbereitungen getroffen hatte, wurde dann aber zu einem Bezugspunkt. In diesem Rahmen fand auch der Bürgerstreik, das völlige Lahmlegen des öffentlichen Lebens in El Alto statt. Die Leitung des Aufstands lag jedoch weder beim COB, noch bei den beiden Bauernparteien (der Indigena-Bewegung der Hochlandbauern MIP, unter Leitung von Felipe Quispe, und der Bewegung zum Sozialismus MAS, der Partei der Kokabauern unter Evo Morales, die bei den Wahlen im August 2002 die zweitmeisten Stimmen bekam). Bei einem erweiterten Treffen des COB am 18.10., mit 150 Führungspersonen aus den verschiedenen gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen, die an dem Aufstand beteiligt waren, kam der COB-Vorsitzende Jaime Solares unter allgemeiner Zustimmung zu dem Schluss: "Kein Führer und keine politische Partei hat diesen Volksaufstand angeführt. Weder Evo, noch Felipe, noch wir haben an der Spitze der Rebellion gestanden. Dieser Konflikt hatte - leider - keine einheitliche Führung. Es waren die bolivianischen ArbeiterInnen, die den Mörder Goni (Sánchez de Losada) von unten mit Fußtritten von der Macht vertrieben haben. Es waren die wütenden Massen, die dem nordamerikanischen Imperialismus eine Ohrfeige versetzt haben. Niemand kann sich als Individuum oder Partei die Führung in diesem Konflikt zuschreiben. Niemand."

Die Einheit der Bewegungen ist von unten und auf der Straße entstanden. Als Hunderte Bergarbeiter aus Huanuni und Oruro nach tagelangen Märschen und Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär in El Alto ankamen, um sich dem Aufstand anzuschließen. Als sich nach den beiden Massakertagen am 12./13.10., an denen in El Alto 54 Menschen starben, eine Massendemonstration von El Alto ins Zentrum von La Paz bewegte und der Aufstand sich auf das ganze Land ausweitete. Als Bergarbeiter und Bauern, Aymara und weiße Mittelschichten gemeinsam den Sturz des Präsidenten feierten.

Die Bewegungen haben dem neuen Präsidenten einen Waffenstillstand von 90 Tagen eingeräumt. Viele halten das jetzt schon für einen Fehler und bereiten sich auf neue Auseinandersetzungen vor. In der Krisenprovinz Chapare hat Evo Morales bereits Schwierigkeiten, seine Bewegung von der Beibehaltung des Waffenstillstands zu überzeugen. Hier führt die Regierung unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung seit Jahren Krieg gegen die sozialen Bewegungen, gemeinsam mit US-Militärs. Mit der Verhaftung von acht AnführerInnen der Kokabauern am 10.12. haben sie neues Öl ins Feuer gegossen.



aus: Wildcat 68, Januar 2004


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