Wildcat Nr. 69, Frühjahr 2004, S. 3-5 [w69edi.htm]


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Editorial der Wildcat 69

Muss man selber zum Motor werden, um Vertrauen in Motoren zu haben?


Neulich hat eine Freundin per email gefragt, »wie macht man Ironiezeichen in mails?« Die meisten machen das mit <irony on> bzw. <irony off>. Jenseits des Mailverkehrs überwiegt aber die Meinung: wenn man die Ironie nicht auch so merkt, dann ist schlecht. »Es gibt nichts Hässlicheres als einen gesetzten Text voller smilies«, schrieb uns ein Leser. Gehorsam ließen wir alle Icons weg, nun haben aber viele die Ironie im Editorial der letzten Nummer nicht verstanden von wg »diesmal weniger gut gelungen« – das war Bremer understatement, Leute!

Bei Fernsehverlautbarungen wie dieser wünscht man sich Icons als Untertitel: »Auch Sie ganz persönlich können Konjunkturmotor sein: Ihr Vertrauen in die Zukunft entscheidet mit über den Arbeitsplatz Ihres Nachbarn«. Satire? Kabarett? Nein, Neujahrsansprache des aktuellen Kanzlerdarstellers! Demnach hatte Florian Gerster zu wenig Vertrauen und zu viele Berater. Und ist jetzt seinen Job los, weil die zu teuer waren. Sein Nachfolger Weise baut gerade Vertrauen in die Zukunft auf und präsentierte die Arbeitslosen–Zahlen für Februar 2004 mit 65 900 Arbeitslosen weniger als vor einem Jahr. In Wirklichkeit waren zwar 1700 Menschen mehr arbeitslos, die Agentur zählt aber seit Anfang 2004 TeilnehmerInnen an Eignungsfeststellungs– und Trainingskursen nicht mehr als Arbeitslose. Der Bundeswirtschaftsminister sah in den Zahlen eine »insgesamt verbesserte Entwicklung am Arbeitsmarkt«. Auch er verfährt erkennbar nach der Schröderschen Maxime – denn die Beschäftigtenzahl geht seit 27 Monaten ununterbrochen zurück.

Was sind schon Zahlen gegen Vertrauen? Laut einer Anfang März veröffentlichten Studie nutzten 42 Prozent aller Befragten Tauschbörsensoftware wie Kazaa. 39 Prozent dieser 42 Prozent seien am Arbeitsplatz an Tauschbörsen aktiv. Das koste die Unternehmen bis zu 30 Prozent der Netzbandbreite. Glaubt jemand diesem hochprozentigen Zahlengebilde, wenn sie weiß, dass der Auftraggeber dieser Studie eine Firma war, die Produkte herstellt, mit denen Unternehmen ihre Angestellten davon abhalten können, an Tauschbörsen teilzunehmen? Glaubt jemand der Musikindustrie, an ihrer Krise seien lediglich Tauschbörsen und das Brennen von CDs schuld?

CD–Brennen und mp3–Downloaden zeigen, dass die Musikindustrie hinter der Zeit herhinkt. Ihre Krise sorgt für rote Zahlen bei den großen Plattenfirmen und wirft viele aus dem Geschäft, die in den letzten zwei Jahrzehnten mit dem Indie–Ticket gut verdient haben (Anfang März ist z.B. EFA Konkurs gegangen). Sie ist Ausdruck von neuen, sozialen und kulturellen Entwicklungen, die noch nicht in die Verwertung eingebunden sind, und konturiert die Unterschiede zwischen Musikmachen und Kommerz wieder deutlicher (sogar Metallica muss gegensteuern und bietet Downloads ihrer Konzertmitschnitte für 9.95$ an). Falls jemand von Kazaa bis Konzertmitschnitte eben nur Bahnhof verstanden hat: Artikel lesen! (S. 47) Wir haben uns bemüht, gerade auch solchen LeserInnen die Sachen zu erklären – und hoffentlich schmackhaft zu machen!

Könnte die Musikindustrie Arbeitsplätze schaffen, wenn sie mehr Vertrauen (zu ihren Kunden und zur Musik) hätte? In dem Buch »Alles Pop?« (S. 43) wird an einer Stelle der gegenteilige Gedanke präsentiert: Konkurrenz und Neid schaffen Arbeitsplätze: Das Bedürfnis zu Posen führe zum Besuch von Muckibuden und steigere somit das Bruttosozialprodukt. – allerdings ein eklatantes Beispiel dafür, dass die Steigerung des BSP manchmal doppelt negativ sein kann.

Und womöglich wollte Schröder genau das sagen. »Einem Bundeskanzler mit grauen Haaren traut keiner den Aufschwung zu, deshalb hat meine Friseurin immer Arbeit.« Die Ich–AG! Hundepension (siehe letztes Heft), der Arbeitsplatz des Nachbarn – alles passt! Es war keine Ironie, es war schlampiges Ablesen vom Teleprompter – und falls das überhaupt jemand aufgefallen sein sollte (in den 80ern wurde mal »versehentlich« eine Neujahrsansprache von Kohl aus dem Jahr zuvor gesendet – war auch nicht weiter schlimm), warum sollte man wg. einer so kleinen Differenz Geld ausgeben und nochmal drehen?

Die Gesellschaft des Spektakels setzt sich heute mehr denn je über Kinkerlitzchen wie »Wahrheit« hinweg. Die Herrschenden reiten längst virtuos das Paradepferd der Postmoderne, die Dekonstruktion, bei der man bekanntlich niemals zum Ursprung kommt, sondern nur von einer kapriziösen Falle oder Verschleierung zur anderen. Das beherrschen nicht nur Intellektuelle, sondern auch Politiker wie Schröder, Bush und Bliar.

Ein Manager wie der neue EZB–Präsident Trichet, der nur deshalb vom Vorwurf der Korruption freigesprochen wurde, damit er diesen Job antreten konnte, braucht keine Rhetorik mit Vertrauen und Motoren. Er forderte Anfang März zur kapitalistischen Bedürfnisbefriedigung auf: Die Bürger sollten endlich ihre Geldbörsen öffnen und »konsumieren« . Dann springt die Konjunktur, dann werden Arbeitsplätze, dann füllen sich Geldbörsen. Kleines Problem: von welchen Arbeitsplätzen reden die? Wo gibt es noch Arbeitsplätze mit guten Löhnen? In Muckibuden (M.! Alle warten auf Deinen Bericht übers Kiesertraining!)? im Copyshop (S. 53)? als »Manövriermasse« im Kaufhaus (S. 55)? als Putzfrau (S. 52)? Auch als freelancer kann man »ein nettes Arrangement« finden (S. 54) – nur die Geldbörse füllt sich da nirgends. Auch die FahrerInnen im Öffentlichen Nahverkehr werden so lange voller Vertrauen prekär am Steuer (S. 19) rumgurken und dabei immer weniger verdienen – bis sie von ihren italienischen KollegInnen lernen und wild streiken (S. 23). Zwar werden erste Schritte gerade im Busstreik in Leverkusen ausprobiert (S. 22), aber Kämpfe innerhalb der juristischen Regeln erreichen nix. Das lehren die Streiks in Italien, der Streik in Leverkusen, das bittere Ende des Supermarktstreiks in Kalifornien (S. 62 f.), und es ließ sich am Studistreik sehen (S. 15). »Sich selbst nicht mehr ernst zu nehmen ... ist wohl eine Voraussetzung des Politiktreibens«, so ein Resümee der Berliner Erfahrungen.

Apropos: Der Antideutsche Bruhn verlegt den Rätekommunisten Huhn – das reimt sich mehr schlecht als recht und endet auch böse – es kommen aber interessante Texte zutage (S. 64). Huhn hat sich viele Jahre lang durch sozialdemokratische Parteiliteratur gefressen und ein anti–revolutionäres Wüten und eine Staatsverliebtheit in der gesamten Geschichte der SPD zutage gefördert, die jedem die Zunge austrocknen sollte, der die Agenda 2010 als »Verrat«, »Bruch mit sozialdemokratischen Traditionen« o.ä. kommentieren zu müssen glaubt.

In den allgemeinen neoliberalen Breitseiten gegen Sozialstaat und Sozialdemokratie der letzten Jahre ging unter, dass ein kapitalistisches Modell ohne starken Staat gar nicht existiert. Alle »Aufschwünge« in den letzten 30 Jahren waren planwirtschaftlich organisiert (Taiwan, Süd–Korea, China ...). Im Irak ist »die freie Marktwirtschaft« nicht in der Lage, die zerbombte Infrastruktur in angemessener Zeit wiederherzustellen – die Diktatur von Saddam Hussein war damals schneller.

Nach dem Sturz Saddam Husseins kam es im Irak zu einer Explosion von sozialen Kämpfen (S. 32), die aber in die Zange zwischen Besatzungsmacht und baathistischem und islamistischem Terror zu geraten drohen. Die Medien blenden die sozialen Konflikte größtenteils aus. Der Streit zwischen linken Anti–Imperialisten und anti–deutschen Kritikern der Friedensbewegung tut ein übriges, um diese Kämpfe zu isolieren. Ein Genosse aus dem Irak, der hier im Exil lebt, schreibt über die Arbeiterklasse im Irak (S. 36). Die italienische libertäre Zeitschrift Collegamenti/Wobbly bemüht sich um die Hintergründe des Irak–Kriegs (S. 39).


In der Ost–Slowakei haben sich Ende Februar hauptsächlich Roma–ProletarierInnen mit Plünderungen und Demos gegen einen massiven Abbau der sozialstaatlichen Leistungen gewehrt (S. 12). Rumänien, Slowakei, Polen ... die Situation in den EU–Beitrittsländern ist alles andere als befriedet (siehe nächstes Heft) – und das vor dem Hintergrund einer massiven Krise des Stabilitätspakts und eines Aufschwungs der Klassenkämpfe in den Kernländern (siehe letztes Heft).


Die Lage in China wird bereits als explosiv eingeschätzt (S. 26). Der Nationale Volkskongress beschloss soeben, die »Armut zu bekämpfen« – vor allem auf dem Land (400 der 900 Millionen Dorfbewohner leben von weniger als einem Dollar pro Tag). Außerdem solle das Problem des Lohnbetrugs an Wanderarbeitern »grundsätzlich gelöst« werden. Nach offiziellen Angaben stellen sie die Hälfte der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, 60 Prozent der Fabrikarbeiter und 80 Prozent der Bauarbeiter. 2004 sollen 14 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen und gleichzeitig das überhitzte Wirtschaftswachstum auf sieben Prozent zurückgefahren werden. Bremsen und Gasgeben gleichzeitig: China kommt ins Schleudern (da kann man gut nachvollziehen, warum Herr Köhler einen geruhsameren Job sucht). China ist nach wie vor die Wachstumslokomotive, aber die Angst vor dem Motor – derArbeiterklasse – wächst.


Jetzt haben wir die Neujahrsansprache verstanden: Die Kapitalisten haben kein Vertrauen in die Zukunft, weil sie Angst vorm Motor des Aufschwungs haben. »Politik« und »Ökonomie« fallen sozusagen auseinander. Politisch geht es um Isolierung, Vereinzelung. Es wird sehr viel dafür getan, dass die ArbeiterInnen sich atomisiert fühlen, alleingelassen mit ihrer Ich–AG, selber schuld an der Pleite. »Ökonomisch«, vom Standpunkt der Entwicklung der Produktivität aus müssten »die Menschen wieder Vertrauen fassen«. Damit irgendwo »ein Ruck durch« geht, braucht's ein Gemeinschaftsgefühl: wir ArbeiterInnen spucken in die Hände und fahren die Karre aus dem Dreck – ein Gefühl von Macht, das Schröder und die Seinen fürchten wie der Teufel das Weihwasser ... aber das wären zwei andere Geschichten!


Dieser Ausgabe liegt ein Plakat bei. Wer eins mehr will, kann es für 2 Euro bestellen (wer mehrere will, soll uns schreiben; von 2 Euro gehen 1,50 für Porto und Verpackung drauf). Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung hatten wir ein Plakat gemacht: »35 Stunden–Woche, Golf GTI?... pah!!«, auf dessen Rückseite ausführlich die Arbeit und der Kampf dagegen beschrieben waren. Das wiederholen wir diesmal nicht, deshalb sind einige Stellen für »Neu–LeserInnen« sicherlich zu knapp. Aber ein A2–Plakat ist endlich – und wir versprechen, das Thema »Arbeit« , »ArbeiterInnen« und Operaismus in der Wildcat 70 ausführlichst zu behandeln! Nachdem wir das dreimonatliche Erscheinen im Griff haben, werden wir uns nun verstärkt um Qualität kümmern. Zumindest wird sich beim Erscheinen der nächsten Wildcat niemand mehr fragen »who the fuck is Köhler?«

<irony off> wer hatte die überhaupt eingeschaltet? und wann?

Apropos Selbstläufer: Bisher reicht es meistens, ein Thema anzuschneiden, dann brechen dort die Konflikte aus – deshalb läuft auch unsere Rubrik »Was bisher geschah« so gut. Mal sehn, ob's wieder klappt:

<kapitalverhältnis off>



aus: Wildcat 69, Frühjahr 2004


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