Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 36–37 [w74_nordest.htm]



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Das Ende einesModells?

Italiens Nordosten in der Krise

Nachdem die großen Arbeiterrevolten 1980 besiegt waren und in den Fabriken die Umstrukturierung begann, kamen die Industriesoziologen mit einem neuen Unternehmensmodell: »Small ist beautiful« oder »schlanke Produktion« (Piore/Sabel). Man entdeckte die »Industriedistrikte«: Regionen, in denen seit langem auf der Basis kleiner und mittlerer Produktionsstätten bestimmte Produkte oder Halbfertigprodukte hergestellt und auf den Weltmarkt exportiert wurden. Grundlage der viel gelobten Produktivität war nicht eine besondere Schul- oder Ausbildung der Beschäftigten, sondern das gesamte Gefüge von generationenlanger Metall- oder Textilarbeit und gewachsenen, bei den ArbeiterInnen im gesamten Distrikt verbreiteten Spezialkenntnissen. Als Modellregionen wurden damals das Veneto (Modell Benetton) und die Emilia-Romagna herausgestellt. Auch die deutsche ehemals »alternative« Ökonomie stellte den italienischen Nordosten als Vorbild für produktive und gerechte, egalitärere und kooperativere Beziehungen zwischen Arbeitern und Kapital hin.

Die Autonomia Operaia [Arbeiterautonomie] im Veneto dagegen hatte schon Mitte der 70er Jahre diese »diffuse Fabrik« als strategische Antwort des Kapitals auf die Arbeiterkämpfe thematisiert: Die in den Tälern und Ebenen des Veneto verstreut liegenden Klitschen, in denen die Familie des Chefs mitarbeitete, sind ein schwer zu eroberndes Kampfterrain. Ein Problem sind auch ArbeiterInnen, die sich mit ihrer Abfindung selbständig machen und dann andere für sich arbeiten lassen. Auf zehn Einwohner kommt im Veneto ein Unternehmer. Kennzeichnend für diese Ökonomie waren arbeitsintensive Produktion mit nicht besonders neuer Technologie, lange Arbeitstage und Schwarzarbeit und der Einsatz von Subunternehmern und Scheinselbständigen. Ihre politische Vertretung fand sie in Bossi und seiner Lega Nord.

Das Veneto, von wo noch bis 1968 die Leute auf der Suche nach Arbeit abwanderten, erlebte in den 80er Jahren mit jährlich wachsenden Exportraten einen Aufschwung ohnegleichen, überstand die Krise Anfang der 90er Jahre glimpflich und hatte noch 2001 die niedrigste Arbeitslosenquote Europas und die höchsten Wachstumsraten Italiens. MigrantInnen aus Nordafrika und Osteuropa fanden hier Jobs außerhalb jeglicher Regulierung.

Seit Mitte der 90er Jahre aber werden massiv Produktionsschritte nach Osteuropa ausgelagert, vor allem nach Rumänien in die Gegend von Timisoara, die »achte Provinz des Veneto«, wo eine ähnliche Unternehmerstruktur besteht. Ein Büro des Unternehmerverbandes in Vicenza leistet Hilfestellung bei der Auslagerung nach Rumänien.

Eine SOFI-Studie von 2004 feiert das Modell Veneto nach wie vor ab; der folgende Artkel beschreibt hingegen die soziale Krise in der Provinz Vicenza, einst "Italiens Lokomotive"

Die Regierung Berlusconi war vor vier Jahren mit dem Programm einer massiven Senkung der Sozialausgaben angetreten. Letztlich sollte nur noch die geleistete Arbeit und keine Lohnnebenkosten mehr bezahlt werden. Dieses Projekt der gesellschaftlichen Restrukturierung beginnt nun offensichtlich Früchte zu tragen. Die Krise – die eher eine gesellschaftliche als eine ökonomische ist – erscheint immer klarer als weitere Bereicherung des reichsten Bruchteils der italienischen Bevölkerung und als Verarmung aller anderen sozialen Schichten. Seit Mitte der 90er Jahre ist der Anteil der Einkommen aus abhängiger Arbeit am Nationaleinkommen um zehn Prozentpunkte gesunken und der Anteil des Einkommens aus (mobilem und immobilem) Eigentum um ebensoviel gestiegen. Auch die Einkommen der sogenannten Mittelschicht sind zunehmend verfallen. Darüber hinaus ist das Bruttoinlandsprodukt in den letzten beiden Quartalen um 0,5 Prozent gesunken, was offiziell den Beginn einer Rezession anzeigt. Die Arbeitslosigkeit liegt knapp über acht Prozent und zwar einzig deshalb, weil nun auch in Italien nach dem internationalen Standard gerechnet wird. Von den 22 Millionen »Beschäftigten« sind 2,5 Millionen unterbeschäftigt – dank Gesetz Nr. 30, das nunmehr 40 verschiedene Arten der prekären Beschäftigung vorsieht. Die Zahl der Arbeitslosen wird auf zwei Millionen geschätzt, wobei Hunderttausende, die die Suche nach einer Beschäftigung enttäuscht aufgegeben haben, gar nicht mitgezählt werden. Die zunehmende Prekarisierung der Arbeit zeigt sich auch daran, dass immer mehr Migranten aufgrund des Bossi-Fini-Gesetzes in irregulären Verhältnissen landen: Von den Ende 2002 regularisierten ImmigrantInnen waren ein Jahr später gerade noch 40 Prozent regulär beschäftigt.

Typisch für die aktuelle Krise des Nordostens ist die Provinz Vicenza. Durch Produktionsauslagerungen ist die Kurzarbeit von 700.000 Stunden im Jahre 2000 auf 2,8 Millionen im Jahr 2004 gestiegen: das bedeutet einen Anstieg um 898 Prozent in der Metallverarbeitung, um 194 Prozent in der Textilbranche und um 363 Prozent in der Lederverarbeitung (Schuhe und Gerberei). Die Zahl der ArbeitslosengeldempfängerInnen ist von 2003 auf 2004 um acht Prozent gestiegen, die der ArbeiterInnen, die Mobilitätsgeld bekommen, nur um ein Prozent. Für die vielen in Klitschen Beschäftigten aber gibt es weder Arbeitslosen- noch Kurzarbeitergeld. In allen Provinzen des Veneto wurden 2004 mehr Betriebe geschlossen als neu eröffnet. Gleichzeitig nimmt die Beschäftigung in der Großindustrie in ganz Italien seit Jahrzehnten beständig ab.

Innnerhalb weniger Jahre ist das Wirtschaftswunder des Nordostens an der Endstation angelangt, nachdem es ungebremst über die Landschaft hergefallen ist und zuerst die ansässigen ArbeiterInnen und dann die ImmigrantInnen aus Süditalien und der ganzen Welt ausgepresst hat. Im Veneto lagen die Löhne immer unter dem italienischen Durchschnitt, besonders für Frauen, die immer als Dienstmädchen der erweiterten Familie betrachtet wurden. Nur die extreme Ausweitung des Arbeitstags machte es ein paar Jahre lang möglich, Löhne zu bekommen, die den gesellschaftlich bestimmten Lebensbedürfnissen entsprachen.

Das Ausmaß der Implosion in Vicenza, der Provinz mit der dritthöchsten Industrieproduktion Italiens, zeigt sich in Zahlen am Einbruch der Exporte (um 21 Prozent in 2004 gegenüber dem Vorjahr). Selbst die Zahl von 4.500 durch Betriebsschließungen unmittelbar bedrohten Arbeitsplätzen, kann nicht vermitteln, wie groß die Perspektivlosigkeit ist. Die Unternehmer von Vicenza hatten immer nur eins drauf, nämlich die Intensität der Arbeitsleistung auszubeuten, die sie ihren Beschäftigten abpressten. Sie haben daraus ein Modell gemacht (piccolo è bello), zuerst auf dem Rücken der örtlichen Arbeiterbauern, dann auf dem der ArbeitsmigrantInnen und schließlich durch die Auslagerung nach Osteuropa (vor allem Rumänien) und Nordafrika, die immer größere Löcher in den lokalen Arbeitsmarkt reißt.

Die Krise zeigt sich daran, dass die bekanntesten Firmen der Provinz Vicenza ins Wanken geraten: Marzotto, eine Textilfabrik mit langer Geschichte, lässt in Valdagno nur ein paar Büros und ein paar Produktionslinien stehen, während 80 Prozent der Produktion im Ausland gefertigt und der Verwaltungs- und Finanzsitz nach Mailand verlegt wird. Fiamm, ein berühmter Hersteller von Autobatterien, droht als Folge von erfolgreichen Auslagerungsprozessen mit der Schließung des Werks in Montecchio Maggiore. Pedrazzoli, ein Metallbetrieb mit langer Tradition in Bassano, hat fast die gesamte Fertigung in die Tschechische Republik verlagert. IAR in Bassano, ein Hersteller von Kühlschränken mittlerer Qualität, macht alle paar Wochen ein paar Wochen Kurzarbeit. Und unzählige Klitschen schließen, weil ihnen die Konkurrenz der sogenannten Schwellenländer mit ausgereiften Fertigungsprozessen und unter westeuropäischen Bedingungen unerreichbar niedrigen Arbeitskosten – bisher der größte Standortvorteil der hiesigen Unternehmer – auf den Fersen ist.

Wir erleben einen Prozess extremer Polarisierung der sozialen Verhältnisse, bei dem der Reichtum – vor allem das Geld, der schon erwähnte nationale Privatbesitz, etwa das Siebenfache des Bruttoinlandsprodukts – sich zunehmend in den Händen einer Klasse konzentriert, die in Grundrenten investiert: Autobahnen, Telefonnetze, Immobilien und alles, womit man Geld verdienen (und waschen) kann, ohne sich der internationalen Konkurrenz zu stellen. Gleichzeitig sinken die Einkommen der Mehrheit, nicht nur der abhängigen Beschäftigten, sondern auch der kleinen Gewerbetreibenden, Selbständigen usw. Monat für Monat.

Wo all das hinführen wird, ist unklar: die Dynamik der Globalisierungsprozesse, in deren Rahmen sich die Krise des Veneto vollzieht, geht über die geopolitischen Grenzen des Veneto und auch Italiens weit hinaus. Die Betroffenen erleben eine ganz neue Situation: Das Leiden und die Angst von immer mehr Menschen erwecken gleichermaßen Sorge und Staunen, und Junge wie Alte erwartet eine unsichere Zukunft. So nötig es wäre, die Frage nach der Klasse zu stellen, so schwierig und ungewiss erscheint dies im Moment. Aber das betrifft ein bisschen den ganzen Kontinent und wird an anderer Stelle und bei anderer Gelegenheit zu diskutieren sein. m.

2002 wurde in Vicenza erfolgreich ein großer MigrantInnenstreik organisiert. (siehe dazu: Wildcat-Zirkular 64,

Devi Sacchetto: Il Nordest e il suo Oriente. Migranti, capitali e azioni umanitarie. Verona 2004 (Ombre Corte)

M.J. Piore, C.F. Sabel: Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Berlin 1985 (Wagenbach)

SOFI-Studie: »Il caso italiano and Globalization«, in: Michael Faust, Ulrich Voskamp und Volker Wittke (eds.): European Industrial Restructuring in a Global Economy: Fragmentation and Relocation of Value Chains. Göttingen 2004

Arbeitslosengeld bekommen alle Entlassenen, die mindestens zwei Jahre lang sozialversichert beschäftigt waren, neun Monate lang in Höhe von 50 Prozent des bisherigen Lohns, aber maximal 1200 Euro pro Monat.

Mobilitätsgeld wird gezahlt an alle Entlassenen aus Betrieben in der Krise mit mehr als 15 Beschäftigten nach einer bestimmten Beratungsprozedur und Übereinkunft mit der Gewerkschaft. Die Zahlung beträgt ungefähr 1200 Euro pro Monat über eine Zeitdauer von ein bis drei Jahren ja nach Alter der Beschäftigten. Mobilitätsgeld und Arbeitslosengeld schließen sich gegenseitig aus.

Wer Kurzarbeitergeld bekommt, gilt noch als beschäftigt, die Beschäftigung ist nur unterbrochen.



aus: Wildcat 74, Sommer 2005



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