Wildcat Nr. 75, Winter 2005/2006, S. 58–59 [w75_interface.htm]



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»Man kommt nicht als Flüchtling, sondern man wird zu einem gemacht«

 

interface WiderstandsBewegungen – Antirassismus zwischen Alltag & Aktion
Verlag Assoziation A, 408 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Fotos, €19,50

 

Im schon bewährten Fast-Quadrat-Format hat Assoziation A ein schönes Lesebuch zum Antirassismus herausgebracht. Viele Bilder und ein gutes Lay-Out laden dazu ein, kreuz und quer durch die vielen Artikel verschiedenster AutorInnen zu blättern, die sich zu einem Bild antirassistischer Bewegungen der letzten 15 Jahre zusammensetzen – in all ihrer Widersprüchlichkeit. Akademische Texte stehen neben Erfahrungsberichten von Flüchtlingen, die Perspektive von deutsch-weißen AntirassistInnen stößt auf Überlegungen und Forderungen der migrantischen AktivistInnen, es geht um verschiedene soziale Realitäten, den Paternalismus in antirassistischen Gruppen und die Schwierigkeiten der Selbstorganisierung. Die Redaktionsgruppe interface will mit dieser Collage zur gemeinsamen Perspektivensuche innerhalb der Bewegungen beitragen und hat besonderen Wert auf versteckten und Alltagswiderstand gelegt. Zahlreiche Beiträge von und Interviews mit MigrantInnen berichten von solchen Aktionen, die oft selbst in den antirassistischen Gruppen unbeachtet bleiben. Literaturlisten und ein Glossar mit Internetlinks weisen auf weiterführendes Material hin.

Wir sind unter euch

Unter diesem Motto der Gesellschaft für Legalisierung beschäftigt sich gleich das erste Kapitel mit einem bisher eher unterbelichteten Thema, mit der Ausbeutung von MigrantInnen. »Die antirassistische Bewegung hat sich in den vergangenen Jahren mit der Reorganisierung des Kapitalismus unzureichend auseinandergesetzt. Rassismus reichte als Erklärungsvariable für die Abschottungspraxis der Festung Europa weitgehend aus. Die »Dienstboteneingänge« blieben ein Randthema…« (S.75). Die »Dienstboten« in den Hotels und auf den Baustellen wehren sich – manchmal organisiert, wie bei der Kampagne gegen Lohnklau in Berlin, oft in Einzelaktionen, aus denen aber organisierter Widerstand entstehen kann: »Nach solchen kleinen persönlichen Widerstandsaktionen merkst du, dass alle schon so was Ähnliches im Kopf hatten, sich aber nicht getraut haben, es umzusetzen« (S.33).

Ein Exkurs in die 60er und 70er Jahre erinnert an die Kämpfe der »GastarbeiterInnen«. Der Rassismus in den Gewerkschaften wird thematisiert und andere Formen der Organisierung wie die US-amerikanischen Workers Center.

Break the Law

Im zweiten Kapitel geht es um den organisierten Widerstand: um die älteste Flüchtlingsselbstorganisation in der BRD The Voice (seit 1994), die Flüchtlingsinitiative Brandenburg, die eine Struktur von VertreterInnen in den Heimen aufgebaut hat, um die Kampagne gegen die Residenzpflicht und um Selbstorganisierung von Roma und libanesischen Bürgerkriegsflüchtlingen gegen Abschiebungen. Heftigen Widerstand gab es auch gegen die »Dschungelheime«, gegen im Abseits gelegene Flüchtlingslager in Ostdeutschland. Die dezentralen Lager sind »direkte Folge des Wunsches der westdeutschen Wirtschaft nach billigen Arbeitskräften. So wurde Ende 1974 die Verteilung von AsylbewerberInnen vor Abschluss ihres Verfahrens auf die Länder und Kommunen beschlossen und im folgenden Jahr wurden sie zum Arbeitsmarkt zugelassen« (S.135). Trotz dieses Zusammenhangs kämpfen die Flüchtlinge meist alleine gegen die Lager. Anders in Italien: 2002 streikten beim ersten »MigrantInnenstreik« in der Provinz Vicenza 30 000 ArbeiterInnen gegen die Verschärfung der Ausländergesetze und Lagerinternierung.

Die größte Revolte in einem Abschiebeknast fand 1994 in Kassel statt. Der Knast wurde dabei nachhaltig zerstört, aber für die Aufständischen ging die Geschichte nicht gut aus. Sie wurden schwer misshandelt und teilweise zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ein bitteres Gefühl bleibt bei vielen antirassistischen Aktionen, selbst wenn sie Erfolg haben wie die Kampagne deportation class, die die rumänische Linie TAROM dazu brachte, aus dem Abschiebegeschäft auszusteigen, und Lufthansa ziemlich nerven konnte. Aber: Das »ändert nichts daran, dass die BRD ihre Abschiebepolitik fortsetzen wird« (S.173). Einen praktischen Schritt in Richtung offene Grenzen unternahmen »autonome FluchthelferInnen« – ein sehr interessantes Interview über eine Praxis, über die aus Sicherheitsgründen wenig berichtet wurde, wobei die AktivistInnen auch die Probleme dieser »Dienstleistung« benennen. Und schließlich gehört zum organisierten Widerstand auch der migrantische Selbstschutz, in Form von Gangs oder in politischen Organisationen wie Antifaşist Gençlik.

Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme

Das Motto der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen für ihre Tour zur Bundestagswahl 1998 führt zum Kapitel über Diskurs- und Kulturproduktion, zu den institutionellen und gesellschaftlichen Mechanismen, mit denen MigrantInnen zu Flüchtlingen gemacht werden, und den Ansätzen, dem eine eigene Kultur entgegenzusetzen. Kanak TV distanzieren sich »vom Grundübel vieler antirassistisch wohlmeinender Produktionen, die den Migranten oder Flüchtling vorwiegend als Opfer und scheinbar handlungsunfähiges Objekt und den Rassismus als entweder übermächtig darstellen oder aber so tun, als ginge es nur um das Problem Neonazis« (S.224). Sie drehen die Rollen um und befragten z.B. Passanten in einem »Deutschen-Viertel« in Köln, wie sie es geschafft hätten, Lindenthal so ausländerfrei zu halten, und warum sie sich als Deutsche nicht integrierten. Ihre Kamera-Methode, die sie zur Nachahmung empfehlen, ist die Respektlosigkeit gegenüber rassistischen Hierarchien.

Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist der HipHop als widersprüchliche Kultur und Selbstbehauptung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Und auch hier ein historischer Exkurs, zu militanten Protesten gegen einen rassistischen Film 1966, der an die Frage von interface im Vorwort erinnert: Ist das, was hier unter dem Titel WiderstandsBewegungen behandelt wird, wirklich Widerstand, oder bewegen wir uns mit dem, was wir derzeit machen, allenfalls auf der Ebene des Protestes?

 

»Wir wollten Respekt und natürlich Mädels beeindrucken« – aus dem Interview mit Neco Çelik, früher Jugendgang 36ers

Hier wohnte die Szene der Autonomen und Punks und dann gab es ja auch die Riots um den 1. Mai herum. Wenn Touristen damals in den Reisebussen durch die ziemlich heruntergekommenen Straßen gefahren sind, haben die Punks immer ihre Stiefel oder Bierflaschen gegen die Busse geschmissen. Wir haben als Kinder nie verstanden, was das bedeutet. Erst später haben wir verstanden, dass wir sozusagen in einem Zoo gelebt haben.

Letztlich war es bei uns wie bei den deutschen Jugendlichen, die sich gegen das autoritäre Familienleben wehrten und da ausbrechen wollten. Wir führten damals ein Doppelleben: Einmal zuhause das Leben, das sich der Vater wünschte, und dann das Leben, das wir führen wollten auf der Straße. Wir wollten anerkannt werden, Respekt bekommen und natürlich Mädels beeindrucken. Und da wir eh nicht in die Diskotheken reingekommen sind, haben wir versucht, uns unser eigenes Biotop, eine eigene Jugendgesellschaft zu schaffen. Das fing Ende der 80er Jahre mit den HipHop-Partys an.

Unbewusst waren wir mit den Autonomen und Punks schon immer in Kontakt, denn wir sind ja mit ihnen aufgewachsen. Intensiveren Kontakt gab es jedoch erst, als die Autonomen uns als eine schlagkräftige Truppe wahrnahmen. Erst dann wurden wir ernst genommen und durften an den Krawallen teilnehmen. Die Autonomen haben uns nie gesagt, ihr gehört nicht dazu, geht nach Hause, sondern wir waren einfach da, und als die dann die Steine ausgebuddelt haben, standen wir neben ihnen und haben uns auch Steine genommen. Aber es war einfach eine Mauer zwischen uns. Es gab komischerweise in der Hinsicht zwei Kulturen. Wir haben eine Kultur gehabt und sie haben eine andere gehabt, aber es gab ein gemeinsames Ziel: Das war Anarchie. Wir wussten nicht, was Anarchie ist, aber es hat uns Spaß gemacht.

 

How is your liberation bound up with mine?

Das letzte Kapitel diskutiert die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit von MigrantInnen und antirassistischen UnterstützerInnen und sucht nach einer Perspektive von Gemeinsamkeiten sozialer Kämpfe. Die Geschichte der Grenzcamps (1998 bis 2003) und ihres Scheiterns wird nachgezeichnet. Erst in der Anti-Lager-Action-Tour 2004 gelang es, in Vorbereitung und Durchführung eine ausgewogene Beteiligung von »organisierten Flüchtlingen und eingeborenen Deutschen« herzustellen. Widersprüche gibt es allerdings auch zwischen den Organisationen von MigrantInnen. Während Flüchtlingsorganisationen Integration fordern, meint Kanak Attak: »Integration, wie sie allerorts verlangt wird, ist Domestizierung« (S.228) und weist auf die »Autonomie der Migration« hin. Dies führte zu heftigen Diskussionen mit der Karawane, die die Verfolgung und Entrechtung der Flüchtlinge betont: »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört«.

Der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Verbindung von antirassistischen mit sozialen und Klassenkämpfen taucht im Buch immer wieder auf. Antworten gibt es nicht. Der Brückenschlag zurück zum ersten Kapitel, zu den Kämpfen gegen die Ausbeutung, fehlt in dieser »Geschichtsschreibung von unten« noch – was aber keine Schwäche des Buches, sondern der real existierenden Bewegungen ist.

alix


 

Zu den Aktionen gegen den Lohnklau auf Berliner Baustellen siehe Wildcat #66



aus: Wildcat 75, Winter 2005/2006



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