Wildcat Nr. 75, Winter 2005/2006, S. 60–63 [w75_rezensionen.htm]



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Kämpfe auf DVD

Bezahlbare Digitalkameras und einfach handhabbare Filmbearbeitungssoftware haben es möglich gemacht, dass neben etablierten Dokumentarfilmern auch AktivistInnen ihre Kämpfe dokumentieren.
Die Kämpfe 2004 von Montagsdemonstrationen bis zum Opelstreik haben beide auf den Plan gerufen. Die DVD neueWUT ist produziert von dem professionellen Dokumentarfilmer Keßler, die Filmemacher von 7 Tage im Oktober verstehen sich dagegen »als Teil der neuen internationalen Industriearbeiterschaft«, auf Deutsch: Parteigänger der MLPD. Der dritte Film Von Mauern und Favelas versucht wiederum das Beste von beidem zusammen zu führen. Die Dokumentarfilmerinnen haben den Rohschnitt mit den ProtagonistInnen gemeinsam diskutiert, daraus ist dann der Film für die weitere Diskussion entstanden.
Nach den Filmen switchen wir zurück zum »wilden Streik« bei Opel und zum Medium Buch. Ein Jahr nach dem wilden Streik bei Opel/Bochum ist ein Buch dazu erschienen. Darin zeichnen die Aktivisten der GOG ihren Werdegang in den letzten Jahrzehnten nach.

»neue WUT«

neueWUT
(90min) DVD oder VHS,
27,50 Euro, Studenten und Arbeitslose 17 Euro, plus 3,50 Euro Versandkosten.
www.neueWUT.de

Die »Solidaritätspreise« für öffentliche Vorführungen von 150 Euro bei 50 Zuschauern, 300 Euro bei 100 oder 400 Euro bei 200 Zuschauern mag zwar für eine vom Arbeitgeber hängengelassene Produktionsfirma absolut Sinn machen, für einen von Organisationen unabhängigen Selbstvertrieb sicherlich nicht.
 

Bei dem Film mit dem vielversprechenden Titel neue WUT war die Presse voll des Lobes: »Dokumentarfilm über die Montagsdemonstrationsbewegung zeigt,dass diese womöglich mehr bewirkte, als man gemeinhin glaubte.« (Telepolis) »Keßler ist es gelungen, ganz dicht an die Menschen heranzukommen - nicht nur in zahlreichen Naheinstellungen. Er ist ihnen so nahe gekommen, dass die Zuschauer sie nicht länger als Objekte der Politik wahrnehmen.« (Frankfurter Rundschau) Mit vielen weiteren Vorschußlorbeeren bedacht, stellt der Dokumentarist Keßler, dessen Arbeiten normalerweise bei großen Sendern laufen, in der taz klar: »Ich bin doch nicht der Anwalt des kleinen Mannes. Ich verstehe mich als unabhängiger Dokumentarfilmer.« Wobei es weniger schlimm ist, dass er kein Anwalt sein will, sondern dass er die ProtagonistInnen als »kleinen Mann« bezeichnet – diese arrogante Haltung durchzieht den gesamten Film. Obwohl das ZDF den Ankauf abgelehnt hat, hat Keßler eine stinknormale Fernsehproduktion hingelegt. Mit typischer Fernsehsprecherstimme und belangloser Musik unterlegt, wird einigen AktivistInnen der Montagsdemonstrationen auf den Leib gerückt. Empörung und Enttäuschung werden von denen, die sozial abgestürzt sind, in die Kamera geschrien, andere brechen in Tränen aus. Die Kamera begleitet auch Andreas Ehrholdt aus Magdeburg, der als »Erfinder« der Montagsdemonstrationen gegen den Sozialabbau seine Autorität auf der Straße gewann, zum medialen Volkshelden hochstilisiert wurde und mit einer kruden Mini-Parteigründung seine Autorität auch gleich wieder auf der Straße verlor. Weitere Szenen dokumentieren seine Wohnsituationen bei den Eltern oder die imposante Brustbehaarung seines Vaters. Der »unabhängige« Blick auf die soziale Realitäten bringt nur tragikomische Charaktere hervor; Verlierer, denen jede Vorstellung fehlt, wie sie sich ohne auf die staatlichen und parlamentarischen Instanzen zu hoffen, durchsetzen könnten. So erscheint es logisch und schlüssig, dass die Bewegung zwischen MLPD-Dominanz, Lafontaine'scher Professionalität und eigener Ziellosigkeit zerrieben wurde.

Anscheinend wollte Keßler keine politischen Analysen von AktivistInnen zeigen, sie hätten sein Bild der tumben Unterklasse zerstört. Für die politische Analyse ist der Professor und Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach zuständig, der nicht müde wird zu wiederholen, dass die Proteste von attac, den Gewerkschaften und der Wahlalternative getragen wurden. Im Gegensatz zu den Unterschichten wird die politische Prominenz professionell und fernsehtauglich präsentiert und sie kann sich auch artikulieren. So gibt Clement zu: »Es ist alles viel glimpflicher, sehr viel glücklicher abgelaufen, als ich gedacht habe und viele befürchtet haben und manche uns vielleicht auch gewünscht haben.« Und DGB-Chef Sommer redet nicht lange drumherum: »Wäre das gleiche unter einer CDU-geführten Koalition passiert, wären die Proteste anders gewesen.(…) Wenn wir … die Montagsdemonstrationen begleitet hätten, würden wir jetzt in einem anderen Land leben. Das hätte eine andere soziale Dimension gehabt.«

Die offensichtliche politische Schwäche der Montagsdemonstrationen wird durch den »unabhängigen Dokumentarfilmer« unter der Lupe gezeigt. Wo und wie die »neue soziale Wut« diese Grenze überwinden könnte, wird nicht diskutiert. AktivistInnen, die diese Frage umtrieb, kommen nicht zu Wort.

»7 Tage im Oktober«

7 Tage im Oktober
(30 min) DVD,
12 Euro plus 2,50 Porto und Verpackung.
www.opelkampf.de
 

Der Mangel der DVD zum Opel-Streik besteht genau umgekehrt in der eindeutigen Positionierung der FilmemacherInnen aus dem Dunstkreis der MLPD. Der Versuch, den wilden Streik in Zusammenhang mit anderen Kämpfen wie dem Daimlerstreik, der B10-Besetzung und den Montagsdemos zu stellen, ist stark parteipolitisch eingefärbt. Der Film hat auch deutliche Stärken: Die Kameras waren von Anfang an bei den Auseinandersetzungen im Werk dabei. Die Bilder geben einen Eindruck der Eigendynamik während des Streiks, dem blitzschnellen Lernen im Umgang mit bisher ungekannten Herausforderungen, dem Übernehmen von Aufgaben, die den Strukturen der Arbeitsorganisation folgen: die Werkslogistik übernimmt die Versorgung der Torposten, die Auspufffertigung die Blockade der Tore. Es sind filmische Dokumente der ungeahnten und berührenden regionalen Solidarität.

Die Machart des Films orientiert sich leider allzusehr an TV-Produktionen und erinnert deshalb häufig an die Versuche von Amateurfilmclubs. Die Digitaldropouts auf DVD mögen noch durchaus charmant sein, die GEMA-freie musikalische Untermalung hingegen ist eher hirnerweichend.

Jedoch kann all das Genörgel an den unübersehbaren Schwächen der Dokumentationen nur durch eine Kritik der Praxis ersetzt werden. Es müssen Filme gemacht werden, die sich sowohl um eine eigene kritische Geschichtschreibung kümmern, als auch eine Filmsprache entwickeln, die den Kämpfen gerecht werden. Die technischen Voraussetzungen und das technische Wissen dafür sind massenhaft vorhanden. Was das Videokollektiv AK Kraak draus macht, zeigt uns die folgende Besprechung.

Kuddel

»Von Mauern und Favelas«

Von Mauern und Favelas.
Polizeigewalt in Rio de Janeiro
Dokumentation, 60 min, OmU
Brasilien / BRD 2005
von Susanne Dzeik, Kirsten Wagenschein, Marcio Jeronimo
www.akkraak.squat.net
 

Der neue Film von AKKraak dokumentiert die Polizeigewalt in den Favelas, den Armenvierteln von Rio de Janeiro. Allein im Jahr 2003 hat die Polizei hier 1195 Menschen ermordet, Tendenz steigend. Wer in einer Favela wohnt und zudem noch dunkelhäutig, jung und männlich ist, lebt in großer Gefahr, durch Polizeikugeln zu sterben. Vorwand für die Morde ist der Drogenhandel. Aber auch in Brasilien werden nicht die internationalen Drogenbosse verfolgt, sondern die kleinen Dealer. Schließlich geht es nicht um die Bekämpfung, sondern um die Kontrolle des Drogenhandels. Die Polizei hängt mit im Drogengeschäft und bessert das Gehalt durch Erpressung auf. Gleichzeitig muss sie »Erfolge« vorweisen, und so werden immer wieder Unbeteiligte erschossen. Ob sie tatsächlich Drogenhändler waren, das interessiert bei ermordeten Favela-Bewohnern in der Regel sowieso niemanden. Eine Ausnahme war die Ermordung von vier Jugendlichen in der Favela Borel im April 2003. Unter den Toten befand sich ein Jugendlicher mit Schweizer Pass. In diesem Fall ist es gelungen, den Vorfall vor die UNO zu bringen, und die Presse musste ihre übliche Hetze revidieren. Danach bildete sich das »Netzwerk der Kommunen und Bewegungen gegen Gewalt« (Rede de Comunidades e Movimientos contra a Violencia), eine Basisorganisation, die begonnen hat, den Widerstand gegen die Staatsgewalt zu organisieren.

Der Film zeigt die Situation aus der Sicht der Favela-Bewohnerinnen und lässt diejenigen zu Wort kommen, die sonst kaum Gehör finden: Mütter und Angehörige von Opfern, wie z.B. eine 14-jährige Jugendliche, die im fünften Monat schwanger war, als ihr Freund von der Polizei ermordet wurde. Ihre Berichte und die Bilder von so viel Polizeigewalt sind schwer erträglich und lassen einen ohnmächtig zurück. Ein kleines Gegengewicht bildet die beginnende Organisierung der Favela-BewohnerInnen, die ebenfalls dokumentiert wird. Versammlungen, Feiern, Demonstrationen und Interviews mit AktivistInnen zeigen das Selbstbewusstsein und den Lebensmut der Leute, die sich in einem Selbsthilfenetzwerk organisieren und vom Staat nichts mehr erwarten, auch nicht von ihrem linken Präsidenten Lula.

Susanne Dzeik und Kirsten Wagenschein haben sich für dieses Projekt viel Zeit genommen und sind nach der bewährten Methode vorgegangen, mit der sie auch ihren letzten Film über die besetzte Fabrik Zanon in Argentinien gemacht haben. Sie haben mit der örtlichen Videogruppe aTreVer! (Trau Dich!) zusammengearbeitet, der Film ist in enger Kooperation mit den ProtagonistInnen selbst. entstanden. Der erste Rohschnitt wurde ihnen im Netzwerk präsentiert und mit ihnen diskutiert. Dieses Verhältnis ist im Endprodukt spürbar und unterscheidet den Film von anderen Dokumentationen »von außen«. Der Film erfüllt jetzt einen doppelten Zweck. Er zeigt uns und anderen Teilen der brasilianischen Gesellschaft die Realität der Favelas, jenseits der Klischees, die die Medien üblicherweise transportieren, und er wird vom Netzwerk benutzt, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Er wird aber auch in Favelas gezeigt, um dort die Diskussion in Gang zu bringen.

alix

»… immer noch Gänsehaut«

Sechs Tage der Selbstermächtigung.
Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004
herausgegeben von Jochen Gester und Willi Hajek.
226 Seiten, 10 Euro
ISBN 3-00-017269-6
Verlag Die Buchmacherei
Bestellungen per Telefon: 030 81 85 77 59, Fax: 01212-5-968 42 710 oder per Mail: DieBuchmacherei@web.de
 

Auch das Buch Sechs Tage der Selbstermächtigung möchte die Diskussion um den »weiteren Weg des sozialen Widerstands« (Nachwort S. 223) voran bringen.

Der wilde Streik bei Opel in Bochum war der bisherige Höhepunkt der gesellschaftlichen Mobilisierungen seit 2003/2004 in der BRD und markierte die unübersehbare Rückkehr des Klassenkampfs. Wir hatten in zwei Artikeln (wildcat 72 und 73) versucht, die innere Dynamik des Kampfs vor dem Hintergrund der Überakkumulationskrise der Autoindustrie zu diskutieren. Wer hat wie gekämpft, welche Diskussions- und Organisierungsstrukturen sind darin entstanden?

Die nächsten Auseinandersetzungen werden nicht lange auf sich warten lassen, die Krise der großen Konzerne ist viel zu dramatisch, als dass sie sich Zeit lassen könnten, die ArbeiterInnen materiell zu spalten und ideologisch auszuhungern. Die Insolvenz des General Motor-Zulieferers Delphi ist die größte Pleite in der Automobilgeschichte, Lohnkürzungen bis 60 Prozent und Werkschließungen (auch in Deutschland sollen zwei Werke dicht gemacht werden) könnten einen Streik provozieren, der wiederum den weltgrößten Automobilkonzern GM selbst in den Ruin treiben würde. In Finanzkreisen werden auch Ford und DaimlerChrysler als Wackelkandidaten betrachtet. Trotz »Beschäftigungssicherungsverträgen« werden also weitere, noch dramatischere Einschnitten kommen.

Und da könnten die Erfahrungen der Opel-ArbeiterInnen wichtig werden. Das Buch liefert eine ausführliche Innenansicht des wilden Streiks und seiner Vorgeschichte. Die Herausgeber betten dies in die Gruppengeschichte der GOG (Gegenwehr ohne Grenzen, ursprünglich »Gruppe oppositioneller Gewerkschafter«) ein und haben dazu mehrere Gespräche mit deren Aktivisten geführt, was einen Großteil des Buches ausmacht.

»… wenn man bedenkt, dass die Gruppe sich 1972 gegründet hat und besteht bis zum heutigen Tage! Das ist doch ohne Beispiel, dass die Leute auch noch nach Jahrzehnten in einer Gruppe zusammenhocken und gewisse Dinge diskutieren. Aber man vermisst Jugendliche, die reinkommen, mit neuen Ideen, neuen Schwüngen…« (S. 55)

In den Gesprächen und Interviews mit GOG-AktivistInnen kommen Lehrlings- und Antivietnambewegung, K-Gruppen und Juso-Politik zur Sprache, und es entsteht ein lebendiges Bild des sozialen Alltags in der Fabrik und der Betriebsarbeit. Die sich kontinuierlich von den aufwühlenden 70ern, über Terrorismushetze, unternehmerische und gewerkschaftliche »Kalte-Kriegs-Politik« bis zu den heutigen »Standortsicherungen« zieht. Am spannendsten sind die Abschnitte, in denen die Arbeiteraktivisten ihre eigene »Selbstermächtigung« als kollektiven Lern- und Selbstschulungsprozess beschreiben:

»Schon damals haben wir Versammlungen gemacht. Und es wurde viel diskutiert. Aber ich habe nicht den Mumm gehabt da aufzutreten. Ich habe da kein Wort rausgekriegt … Und dann gab es bei Opel diese Infostunden. Die haben mir eigentlich geholfen. Da sind so 60 Mann, es gibt eine Mikrophonanlage und man muss nach vorne gehen. 1991, 92 war es das erste Mal und ich habe mir gesagt: Wenn du jetzt nicht gehst, dann gehst du nie wieder. So hat sich das entwickelt. Einmal habe ich den Jaszcyk [ehemaliger BR Vorsitzender und DKPist] richtig fertig gemacht. Und heute lassen wir uns nichts mehr sagen. Das hat vielen Leuten Selbstbewusstsein gegeben. Die Infostunden haben wir damals eingetauscht gegen Betriebsversammlungen. Die Infostunden waren schon ein guter Nährboden, um Selbstbewusstsein zu fördern.« (S. 51)

Aus den Interviews wird auch sichtbar, wie die Gruppe über die enge Betriebspolitik und die Frage von politischen Erfolgen und Misserfolgen hinaus das ganze Leben der Aktivisten geprägt hat:

»Ich habe die Gruppe als unheimliche Bereicherung empfunden. Da sind ja tolle Dinge gelaufen: z. B. Auslandsreisen… […] dieses geschärfte Bewusstsein für politische Abläufe, das geht einem nie wieder verloren. […] das finde ich unheimlich wichtig, egal in welcher Form auch immer, wenn junge Leute bereit wären, sich mal irgendwo zusammenzutun und einfach nur die Zeit und die Kraft aufwenden würden über grundlegende Dinge, die alle betreffen, zu diskutieren. Es muss nicht immer die Lösung herauskommen, die haben wir ja auch nicht gefunden.« (S. 63)

Die GOG setzte sich kontinuierlich mit ihrer Position zur Gewerkschaft und ihren Institutionen auseinander. Dazu war sie auch gezwungen, denn die IGM konfrontierte sie immer wieder mit Ausschlüssen und Funktionsverboten. So durchzieht dieses Thema das Buch als roter Faden.Vorangestellt wird ein Artikel zu den wilden Streiks der 50er und 60er Jahre. Die Dissertationsvorarbeit von Peter Birke (Gruppe Blauer Montag Hamburg) enthält interessante Hinweise auf längst vergessene Kämpfe und relativiert das Bild einer Klasse in Nachkriegsstarre, die erst durch die 68er Bewegung aufgerüttelt worden wäre. Doch er bleibt etwas unvermittelt und so wird die Chance vertan, die materielle Sprengkraft der wilden Streiks, ihre Eigendynamik und Qualität der Selbstorganisierung von der bloßen Verlängerung (radikal-, links-, alternativ-, basis-) gewerkschaftlicher Betriebsarbeit abzugrenzen. Dies hätte die Auseinandersetzung um die »Gewerkschaftsfrage« erden können, die nun etwas ermüdet daherkommt. Manni Strobels Plädoyer für die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen bleibt isoliert und verschroben: »Ich sage zerstören, weil sonst immer noch die Vorstellung mitschwingt, man könne diesen Apparat [die Gewerkschaft] reformieren, umkrempeln oder sich irgendwie nützlich machen.« (S. 155). Dies widerspricht offensichtlich zu sehr der Intention der Herausgeber: »Unser Buch versteht sich als Anregung für alle, die diese Schwäche erkennen und darüber nachdenken, wie wir handlungsfähige gewerkschaftliche Basisstrukturen schaffen können …« (Nachwort S. 223)

Erfrischend sind dagegen die verstreuten Innenansichten aus dem »wilden Oktober« 2004:

»… schlafen konnte man sowieso nicht. Da ist man auch schon mal nachts aufgestanden und ist um 3 Uhr da runter gefahren. Auch Samstag und Sonntag. Das war schon Wahnsinn. Was ich da so auf dem E-Wagen gesehen habe in den ersten Tagen, das sah so aus, als ob die Revolution stattfinden würde.« (S. 113)

»Das war wie im Rausch. Die Belegschaft hat bestimmt, so wie es sein sollte. Wir haben da gestanden. Die einen haben Flugblätter auf Leinen gespannt. Es gab Kultur. Jeder konnte da reingehen und mitbestimmen, was machen wir jetzt? Die einen haben Flugblätter in der Einlaufzone verteilt, die anderen haben Kaffee gekocht. Das war echt Wahnsinn, was da abgelaufen ist.« (S. 83)

War das wirklich der letzte Rausch? Oder wird es Ende März 2006 noch einmal spannend – wie Manni Strobel es andeutet -, falls die erzwungenen »Freiwilligen« nicht zusammen kommen und betriebsbedingte Kündigungen anstehen? Besteht die Möglichkeit, dass zukünftige Kämpfe über Abwehrkämpfe hinausgehen und offensiv werden? Wo und wie kann eine solche Macht entstehen? Diese Fragen stehen nicht im Zentrum des Buches. Es ist zwar häufig von »Perspektive« die Rede, doch bleibt dies sehr abstrakt. Das mag mit der Auswahl der Gesprächspartner und der jetzigen Gruppenstruktur der GOG zu tun haben. Viele haben nach jahrzehntelanger betrieblicher Wühlarbeit das Werk altersbedingt verlassen, einer mit der hohen Abfindung, die nach dem Streik geboten wurde. Doch auch, wenn die eigene politische Arbeit sich verstärkt an den Sozialforen orientiert, bleibt die jahrzehntelange Betriebserfahrung, so dass Wolfgang Schaumberg diese abstrakte »Perspektivsuche« kritisieren kann: »Auch sind die Vorstellungen von einem anderen Leben in einer ›anderen Welt‹sehr geprägt von Nischen-Träumen, die die Hoffnung auf die Erkämpfung eines erträglichen und schönen Lebens abseits einer auf Verwertung und Tausch ausgerichteten Produktion nähren. Dies ist womöglich noch mit der Vorstellung verbunden, es ließe sich mit der Organisation des Lebens abseits des Produktionsprozesses (oft ›Erwerbsarbeit‹ genannt) ein solch zersetzender gesellschaftlicher Prozess entwickeln, dass der Kapitalismus damit abgeschafft werden könnte.« (S. 168)

Für die Diskussion innerhalb der GOG ist die Situation im Werk immer noch sehr vom gebrochenen wilden Streik und der Spaltung durch die hohen Abfindungen geprägt, was einen offenen Blick nach vorn schwierig macht. Auch wird bis auf einen kurzen Beitrag nicht auf die laufenden Auseinandersetzungen bei Ford, VW, DaimlerChrysler usw. eingegangen. Die aktuelle politische Diskussion bleibt im Buch also etwas unterbelichtet. Dafür gelingt es ihm im Blick zurück aber ausgezeichnet, anhand der Geschichte der GOG im Bochumer Opelwerk beispielhaft eine Klassengeschichte der Autoindustrie in der BRD zu erzählen.

Zu erwähnen bleibt noch der günstige Preis von 10 Euro, welcher hoffentlich zu einer starken Verbreitung beträgt.

gr

Im Bochumer Opelwerk ist seit langem die Gruppe Gegenwehr ohne Grenzen (GOG) aktiv, die in den 70er Jahren als gewerkschaftsoppositionelle Liste weder der ideologischen Parteipolitik, noch der betriebsblinden Moderatorenposition verfiel.

Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision… Oder: Zur Aufgabe von postkapitalistisch orientierten Linken, am Beispiel des Kampfes in Auto-Multis.
Diskussionspapier von Wolfgang Schaumberg

»Nach der vorletzten Aktion im Juni 2000, als wir zwei Tage draußen waren, dachte ich auch, es würde nie wieder etwas in diesem Rahmen passieren. Und dann kam im Oktober 2004 der Höhepunkt überhaupt – wenn ich daran zurückdenke, kriege ich immer noch eine Gänsehaut.« Andreas Felder ist Mitglied der IG-Metall-Vertrauenskörperleitung bei Opel Bochum und aktiv in der oppositionellen Gruppe Gegenwehr ohne Grenzen (GoG). Interview in der jungen Welt, veröffentlicht 15.10.2005



aus: Wildcat 75, Winter 2005/2006



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