Wildcat Nr. 82, Herbst 2008, Beilage [w82_beilage_indien.htm]



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»Wenn man zuviel nachdenkt, wird man zum Terroristen«

Auf den ersten Blick scheint er das Bild einer überausgebeuteten Dritt-Welt-Arbeiterklasse zu unterstreichen: schon in frühen Jahren ausgelaugt durch 16-Stunden-Schichten und Tuberkulose, keine Zukunftsaussichten – ein Opfer. Was in Manus Bericht nicht auftaucht, sind seine eigenen Aktivitäten, sein wenig opfermässiges Wesen. Er ist für einen Überausgebeuteten meist erstaunlich gut gelaunt, hat zu viel zu lachen und stellt den älteren Genossen der Faridabad Majdoor Samaachaar (FMS) zu viele intelligente Fragen. Er hat die Genossen beim Verteilen ihrer Zeitung auf dem Weg zur Arbeit kennengelernt, auf dem unbeschrankten sechsgleisigen Bahnübergang des Güterbahnhofs Okhla. Er fand die Berichte der Zeitung interessant und nahm sich nach Feierabend drei Stunden Zeit, um in einer benachbarten Teebude seine eigene Geschichte zu erzählen. Seit dem macht er zwei Tage im Monat frei – seine einzigen arbeitsfreien Tage – um beim Verteilen der Zeitung zu helfen. Manchmal bringt er Kollegen mit oder vermittelt Kontakte zu anderen ArbeiterInnen, die ihre Erfahrungen in der Zeitung abgedruckt sehen wollen. Er versteht sich gut mit den anderen jungen Arbeitern von Michael Aram Export, die ebenfalls beim Verteilen der Zeitung helfen und kleine Summen spenden. Michael Aram ist ein US-amerikanischer Unternehmer, der in Delhi Metallkunstgegenstände in größeren Serien schweissen und schleifen lässt. Die Michael Aram Arbeiter sind ein weiteres hoffnungsstiftendes Beispiel, dass selbst 12-Stunden-Schichten nicht zu Passivität führen müssen. Nach erfolgreichem Kampf gegen ihre Entlassung treffen sich 20 der 30 Kollegen weiterhin regelmässig sonntags als Gruppe in einem öffentlichen Park und reden mit den Freunden der FMS über ihre Arbeitssituation. Diese Treffen haben einen oft bühnenreifen Charakter, einige der Metallschleifer halten längere prosaische Reden, jede gekonnte Wendung, Pointe oder satirische Darstellung eines Vorgesetzten wird von den Kollegen mit einem anerkennenden ’Shabash!‘ kommentiert. An diesen Treffen nimmt auch die einzige Frau der Belegschaft teil, die Witwe eines während des Kampfs um Wiedereinstellung bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Arbeiters. Die erste Forderung neben der Wiedereinstellung war ein Arbeitsplatz für die Frau des Verstorbenen. Bei den jüngeren Arbeitern geht es neben den Problemen in der Fabrik um die Frage des Zusammenlebens. Viele von ihnen sind mit Anfang-Mitte 20 noch nicht verheiratet, zum einen weil ihre Situation als Migranten weit weg von zu Hause eine Heirat verkompliziert, zum anderen weil eine arrangierte Heirat nicht mehr als schicksalsgegeben gesehen wird. Beim letzten Verteilen am Bahnübergang treffen wir Manu wütend. Sein Kumpel Santosh, LKW-Fahrer und Neffe eines FMS-Genossen, ist auf‘s Dorf zurückgekehrt, um sich mit Ende 20 nun doch verheiraten zu lassen. Manu ist wütend über diese Entscheidung und wütend auf Grund der zunehmenden Drangsalierung in seiner Fabrik. Die Überschrift des kurzen Berichts über die Situation in seinem Betrieb zitiert ihn selbst: »Wenn man zu viel nachdenkt, wird man zum Terroristen«.

Ein 19-jähriger Textilarbeiter

Ich stehe morgens um halb sieben auf. Für das sechs Quadratmeter große Zimmer zahlen wir drei rund 910 Rupien im Monat. Das Haus hat zwei Stockwerke, insgesamt 15 Zimmer, der Vermieter wohnt woanders. Auf den Stockwerken gibt es jeweils eine Latrine. Momentan sind drei oder vier Räume leer, von daher ist die Schlange vor der Latrine nicht zu lang. Es gibt kein Badezimmer, die Männer waschen sich draußen, die Frauen in den Räumen. Das Haus, in dem ich vorher gelebt habe, war wesentlich vollgestopfter und die Miete lag mit 920 Rupien auch höher. Um sieben Uhr wäscht einer von uns die Alu-Töpfe ab, der andere macht Rotis aus Weizenmehl, der dritte bereitet das Gemüse zu. Um 8:30 Uhr, nachdem wir die Rotis gegessen haben, machen wir uns auf den Weg zur Arbeit. Momentan arbeite ich in der Anand Internationals-Fabrik in Okhla. Bereits ab Arbeitsbeginn um 9 Uhr müssen wir uns abmühen, das Soll zu erfüllen. In letzter Zeit fertigen wir Krawatten. Zuerst gab uns das Unternehmen zwölf Minuten pro Krawatte, dann elf Minuten, zehn, neun, acht und jetzt sieben Minuten. Weil das Soll zu hoch war, verließ ich die andere Anand Internationals-Fabrik. Dort haben sie uns am ersten Tag 20 Minuten pro Hemd gegeben, am zweiten 19 Minuten und so ging es weiter bis auf zehn Minuten. Du musst das Arbeitstempo so sehr beschleunigen, dass der Körper gar nicht hinterherkommt, und die Arbeit braucht den Körper auf.

Mein Vater ist ein Kunsthandwerker. Er stellt Geschirr aus Metall her. Reiche Leute des Handwerks luden ihn nach Kanpur, Nagpur oder Nepal ein. Heutzutage gibt es Geschirr aus Stahl oder Aluminium, da sind Teller oder Wasserbehälter aus Messing oder Kupfer nicht mehr gefragt.

Im Dorf habe ich die Schule nach der siebten Klasse verlassen und Nähen gelernt. Als ich fünfzehn war, also 2002, bin ich mit einem Onkel nach Delhi umgezogen. Er hat mir dort eine Arbeit in der Raj Mataar-Fabrik in Okhla besorgt. Anstatt der kleinen Nähmaschinen wie auf dem Dorf gab es dort große ’Zukki‘-Maschinen (Japanische Firma) und ’Fashion Production‘. Während der ersten vier Monate, der sogenannten ’Lernen und Arbeiten‘-Probezeit, habe ich jeden Tag von neun Uhr morgens bis ein Uhr in der Nacht gearbeitet. Das Unternehmen machte ganz klar Druck: ’Mach mit, oder geh«. Mein Onkel sagte auch, dass ich am Ball bleiben sollte. Ich war noch im Wachstum und nach vier Monaten harter Arbeit wurde ich krank. In Delhi nahm ein Arzt, Doktor Usha Maheshvari, 200 Rupien Gebühr und diagnostizierte Tuberkulose. Ich ging zurück ins Dorf. Dort nahm Doktor Pande 20 Rupien und stellte ein schlechtes Blutbild fest. Ich blieb vier Monate im Dorf, kaufte Medizin im Laden von Doktor Pande, der im übrigen 20 Prozent überteuert war, und blieb in Behandlung. Zurück in Delhi begann ich bei PeeEmparo Exports. Ich arbeitete dort drei Jahre, das Unternehmen übernahm weder Kranken- noch Arbeitslosenversicherung. Alle acht bis neun Monate kehrte ich nach Ilahabad zurück, um die Behandlung fortzuführen, bis ich mich mit jemandem in Okhla anfreundete, der mich dort behandeln konnte.

Dann in der Anand Internationals-Fabrik arbeiteten wir von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts. Wegen nichterfüllter Stücken hatte ich bei der Abrechnung der letzten 15 Arbeitstage ein Minus von 30 Stunden. Das Unternehmen strich fast 500 Rupien von meinem Lohn. In der Fabrik ist man ganz fanatisch auf die Soll-Erfüllung ausgerichtet. Wenn du Pinkeln gehen musst, gibt es Minus, wenn du Wasser trinken gehst, gibt es Minus. Man geht nur pissen oder trinken, wenn es nicht mehr anders auszuhalten ist. Rund 500 Männer und Frauen arbeiten in der Fabrik, aber es gibt nur jeweils eine Latrine im Erdgeschoss. Dort steht man immer Schlange.

Nur während der Mittagspause um Viertel nach eins verlassen wir die Maschinen. Auf dem Schild in der Kantine steht, dass ein Essen acht Rupien und der Tee anderthalb Rupien kosten, tatsächlich zahlt man aber zwölf und zwei Rupien. Wenn man nachfragt, sagen sie, dass das Schild nur zur Schau dort hängt. Die Mittagspause beträgt 45 Minuten, und damit die Leute die Fabrik schnell verlassen können, haben sie zwei Security Guards zur Kontrolle aufgestellt. Um Mitternacht, zu Feierabend, bilden sich lange Schlangen, weil nur ein Security Guard auf dem Posten ist. Dann braucht man mehr als zehn Minuten, um die Fabrik zu verlassen. Während der Mittagspause gehe ich zurück zum Zimmer, da gibt es das Essen, was wir am Morgen vorbereitet haben. Nach dem Essen lasse ich das Geschirr so wie es ist, um wenigstens etwas Zeit zum Ausruhen zu haben.
Um zwei Uhr sind wir zurück in der Fabrik, hinter den Maschinen. Um vier Uhr gibt es noch eine viertelstündige Teepause. Dann bis um sechs Uhr abends wieder hinter der Maschine. Dann noch eine Teepause und etwas Essen vom Straßenstand.
In der Fabrik stehen 300 Nähmaschinen, alle im Erdgeschoss, dort ist es sehr heiß. Selbst im Winter schwitzt man. Man kriegt keine Luft. Von den 300 Arbeitern sind vielleicht zehn gesund, alle anderen haben gesundheitlichen Probleme. Keiner von uns hat eine Krankenversichertenkarte. Wir zahlen alle privat für Behandlungen, und wenn du krank wirst, feuert dich das Unternehmen. Im ersten Stock der Anand Internationals-Fabrik sind die Büros, in den zwei Stockwerken darüber die Finishing-Abteilung: Fäden kürzen, Flecken entfernen, bügeln, verpacken. Im vierten Stock sind Leute, die zwischen 15.000 und 20.000 Rupien verdienen, die reden nicht mit uns. Im fünften Stock, neben der Kantine, werden Chemikalien für das Waschen der Stoffe vorbereitet.

Weil sie uns momentan bis um Mitternacht arbeiten lassen, kriegen wir eine halbe Stunde Pause um halb neun abends. Wir essen am Straßenstand. Das Unternehmen gibt uns 20 Rupien für das Essen. Dann von neun bis um zwölf hinter der Maschine.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, lasse ich das Geschirr so, wie es seit der Mittagspause ist. Ich gehe gegen ein Uhr schlafen.

Es gibt keinen freien Tag, wir arbeiten auch am Sonntag. Die Abordnungen der Importeure von GAP und Lenson kündigen ihre Besuche an, dann arbeiten wir nur bis um sechs Uhr abends.

In der Fabrik sind die Gespräche nicht so, wie sie sein sollten, Leute verhalten sich nicht so, wie sie sollten – Beleidigungen, Beschimpfungen, Lügen, Übertreibungen, kleinere Betrügereien. Wenn ein Stück schlecht bearbeitet worden ist, bekommst du einen Anschiss vom Meister oder Vorarbeiter. Zu Hause bekommst du einen Anschiss vom Vermieter, wegen des Wasser- und Stromverbrauchs.

Wenn die Arbeit schon um neun Uhr abends endet, geht einer von uns auf den Markt, um Gemüse zu kaufen. In Okhla ist der Markt immer überfüllt, selbst um zehn Uhr nachts. Die Leute packen ihre Stände erst um Mitternacht zusammen. Wir kaufen Gemüse, Reis, Linsen, Öl, Gas und Seife zusammen und jeder Paisa (kleinste Einheit der Rupie) wird im Buch festgehalten. Wir haben in jeder Hinsicht gelernt, alles separat festzuhalten, was jeder von uns ausgibt. Momentan lebe ich mit engen Verwandten. Für Essen und Miete gibt jeder von uns 1100 Rupien aus, dazu kommen täglich 10 Rupien für Essen in der Fabrik. Wenn du von neun Uhr morgens bis Mitternacht arbeitest, bekommst du 5000 Rupien im Monat, für die Zwölf-Stunden-Schicht 4000 Rupien. Ich schicke Geld heim ins Dorf, denn man weiß nie, ob man wieder krank wird und wieviel es einen kostet. In den letzten vier Jahren in Delhi ging es mir körperlich nie gut – die Krankheit hat mich 30.000 bis 32.000 Rupien gekostet. Was gibt es da für eine Hoffnung? Man muss einfach weitermachen.



aus: Wildcat 82, Herbst 2008



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