Wildcat Nr. 82, August 2008 [w82_bauern.html]



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Was nach der Bauern-Internationalen kommt

Der WTO-Gipfel im Juli 2008 scheiterte – zumindest propagandistisch – an der Frage der »armen indischen Bauern«. Die Beilage in diesem Heft kommt mehrfach drauf zu sprechen, dass sich die Situation in den neuen Industriezentren Indiens und die Dynamik der dortigen Klassenkämpfe nur vor dem Hintergrund der Situation auf dem Land verstehen lassen. Und in den letzten Jahren standen immer wieder die »Neuen Bauernbewegungen« im Mittelpunkt globaler Kampagnen. Ihre Kämpfe thematisieren die wirklich grundlegenden Fragen: die Lage eines Großteils der (armen) Weltbevölkerung, Umweltprobleme, wie produzieren wir unsere Nahrungsmittel – und geben Antworten! Eine »andere Welt« scheint in der Aneignung von Produktions-/Lebensmitteln z.B. in Form von Landbesetzungen, direkt greifbar zu werden. Und in »jahrhundertelangen« Kämpfen einiger ›kleiner Einheiten‹ dieser Bewegungen, z.B. den Indígenas in Ländern Mittel- und Südamerikas, bündelt sich die Geschichte von »500 Jahren Kapitalismus«. Die globalen Bewegungen im Kampf gegen Agrarkonzerne, WTO und Weltbank sind faktisch die neue »Internationale« – im Unterschied zu den weltweit aufgesplitterten Ausbeutungssituationen in Fabriken, Call Centern und Büros. Dem gegenüber stellte der Historiker Hobsbawm Mitte der 90er Jahre den »Untergang des Bauerntums« fest. In der Tatsache, dass nicht mehr die Mehrheit der Menschen mit der unmittelbaren Lebensmittelproduktion beschäftigt ist und auf dem Land lebt, sah er »die größte Umwälzung von Klassenverhältnissen seit der Jungsteinzeit«.[1] In früheren geschichtlichen Phasen produzierten die Menschen ihre Lebensmittel in kleinen Gemeinschaften und waren abhängig von natürlichen Produktionsschwankungen. Dagegen schuf der Kapitalismus von Anfang an den Weltmarkt, und seine wesentliche Produktivkraft (Maschinerie) ist selber produziert. Der Gesamtzusammenhang einer globalen Gesellschaft wird zur Grundlage unserer Reproduktion und unserer Existenz (»zweite Natur«) und in diesem Sinne zum realen Gemeinwesen. Erst seitdem die Menschen von gesellschaftlicher statt individueller Arbeit leben, lässt sich die Frage nach der kollektiven Aneignung der Produktion überhaupt stellen – und nun wirklich weltweit!
Im Unterschied zur Russischen Revolution und zur Phase der »nationalen Befreiungsbewegungen« nach 1945 geht es heute nicht mehr um ein »Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern«. Wir müssen endlich die leninistische (»Arbeiteravantgarde verbündet sich mit den Bauern«) und die maoistische (»Einkreisung der Städte vom Land her«) Perspektiven aus den Köpfen kriegen; beides waren Ideologien, die Entwicklungsdiktaturen nachholender kapitalistischer Entwicklung rechtfertigten. Heute geht es aber nicht mehr um kapitalistische Entwicklung »von oben«, sondern um die Neuzusammensetzung als globale Klasse von unten. Als Beitrag zu dieser Fragestellung versucht der folgende Artikel eine Einschätzung der sogenannten »Neuen Bauernbewegungen«.

Das Ende der »Bauernfrage«

Die Prozesse der weltweiten Proletarisierung, d.h. der Trennung der ProduzentInnen von den Produktionsmitteln und ihrer Verwandlung in LohnarbeiterInnen, verlaufen gewaltsam. Aber die treibende Kraft der vollständigen Proletarisierung waren und sind die ProletarierInnen: die Kapitalisten haben meist zu verhindern versucht, vollständig für die Reproduktion der Arbeitskraft aufzukommen. Gerade dieser Punkt wird oft übersehen, wenn die »Subsistenz« als eine dem Kapitalismus entgegengesetzte Gesellschaftlichkeit gesehen wird, wie z.B. in den Debatten um die IWF-Riots in den 80er Jahren, der Romantisierung der »indigenen Gemeinschaften« in Chiapas oder der heutigen Thematisierung der »neuen commons«.

Wenn die Kämpfe der »neuen Bauernbewegungen« und/oder die »Subsistenzperspektive« politisch gegen die Proletarisierungsthese gesetzt werden, so hat das auch damit zu tun, dass »der Proletarier« mit dem »weißen, männlichen Fabrikarbeiter im Normalarbeitsverhältnis« gleichgesetzt wird – ein Erbstück der traditionellen Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Parteien, das so noch nie real war – heute allerdings weniger denn je!

Wir wollen fünf Punkte dafür anführen, dass es heute keine »Bauernfrage« als von den »Arbeitern« oder »Proletariern« getrennter Klasse mehr gibt:

– Seit den 1970er Jahren wird Landarbeit in steigendem Maß zur Lohnarbeit.

– Immer mehr LandarbeiterInnen produzieren für den Weltmarkt.

– Die landwirtschaftliche Arbeitskraft wohnt zunehmend in Klein- und Mittelstädten. (In Chile, Brasilien und Venezuela kommen bereits 20 Prozent der LandarbeiterInnen aus Städten.)

– Das wachsende Landproletariat reproduziert sich zwischen zeitweiser Lohnarbeit, Migration, Farmarbeit auf dem verbliebenen eigenen oder fremden Land und informeller Dienstleistungsarbeit – kann also nicht mehr als »Bauernschaft« gefasst werden.

 – Die ökonomische Bedeutung der Landwirtschaft im globalen Süden nimmt ab. (In Lateinamerika beispielsweise kommen nur noch zwischen 10 und 20 Prozent des Bruttosozialprodukts aus landwirtschaftlicher Produktion.)

Die Gleichsetzung von »Nahrungsmittelproduzenten« mit »Bauern« stimmt schon beim oberflächlichen Blick auf die Agrarproduktion nicht mehr. Die Weltgetreideproduktion findet heute hochmechanisiert in den Metropolen statt. In den USA liegt die Produktivität pro LandarbeiterIn im Jahr bei bis zu 2000 Tonnen Getreide; die eine Hälfte der rund drei Milliarden Kleinbauern weltweit produziert weniger als eine Tonne pro Kopf im Jahr – und kann davon nicht leben. In der Peripherie bauen die Bauern arbeitsintensiv Gemüse oder Blumen an – Güter, von denen sie sich selbst nicht mehr ernähren können. Der Industrialisierungsprozess verschlechtert die elenden Reproduktionsbedingungen der KleinbäuerInnen und LandarbeiterInnen weiter: durch die Reduzierung der Arbeitsplätze, die sinkenden Abnahmepreise für Agrarprodukte und die Vertreibung von guten Anbauflächen. Die Anbindung auch der entlegensten ländlichen Regionen an den (Welt-)Markt bedeutet, dass Geld das Mittel geworden ist, über das man alles erhält, was man zum Überleben braucht, was die Arbeit erleichtert und den Ertrag erhöht, oder was Mobilität und Zugang zu den weltweiten Konsumgütern ermöglicht (z.B. Radio, Fahrrad, Moped, neue Nahrungs- und Genussmittel).

Damit wird Lohnarbeit zur Voraussetzung für ein Leben ohne Not, unabhängig von den Wechselfällen der Natur.

Mit der Beschleunigung der Proletarisierungsprozesse nach dem Kriseneinbruch Ende der 1960er/Mitte der 70er Jahre hat sich die Proletarisierung nur in wenigen Regionen als direkter Übergang in kapitalistische Lohnarbeit entwickelt. Auf dem Land selber weiten sich »informelle« Klein- und Familienbetriebe, proletarisierte Landarbeit und Lohnarbeit aus. Oder die Leute wandern ab und gehen direkt in die – in wenigen Regionen konzentrierten – Fabriken. Die Weltmarktfabriken und Sonderwirtschaftszonen sind klassische Arbeiterkonzentrationen; hier arbeitete 2006 über 60 Millionen, 40 Millionen davon in China (zehn Jahre zuvor waren es erst 27 Millionen).

Die Migration ist die wichtigste Verlaufsform der Proletarisierung: Weltweit sind Millionen ProletarierInnen auf Wanderschaft, auf der Suche nach besseren Bedingungen.[2] Die transnationale Migration ist im Verhältnis nicht bedeutend höher als beispielsweise vor 100 Jahren. Sie wird durch nationale Grenzen und Einwanderungsgesetze stark eingeschränkt, vor allem aber reguliert: Der illegale oder legal schlechtere Status der Einwanderer sorgt dafür, dass sie die miesen Jobs machen, während die Ansässigen ihren Status noch halten können (Rigidität der Arbeitsteilung nach unten). Diese Möglichkeit des Kapitals, örtlichen Arbeiterklassen zu »unterschichten« und sie dadurch produktiv zu verwerten und politisch zu kontrollieren, ist auf den ständigen Zufluss neuer Arbeitskraft angewiesen: I. Wallerstein geht aber davon aus, dass die globalen Arbeitskraftreserven »um 2025« erschöpft seien. Bereits heute kündigt sich das als »Arbeitskräfteknappheit« an – die Grenzen der »Arbeitskräftereservoirs« in Osteuropa, in China, in Indien sind bereits sichtbar.

Karl und Wera: heute!

Solche Überlegungen tragen nur, wenn die Proletarisierung ein unumkehrbarer Prozess ist. Historisch gibt es wenige Ausnahmen (z.B. die Siedlerkolonien). ProletarierInnen, die durch Migration und Lohnarbeit die materiellen Möglichkeiten des Kapitalismus kennengelernt haben, werden sich nicht mehr mit weniger abspeisen lassen. Die Kämpfe in den Proletarisierungsprozessen sind nicht Kämpfe gegen die Proletarisierung, sondern Kämpfe um die Bedingungen der Proletarisierung.

In der Geschichte des kapitalistischen Weltsystems wurde die Bauern-/Agrarfrage vier Mal in einem politischen Sinne gestellt – und es war jedesmal auch eine Debatte um Reform oder Revolution: zuerst beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus (die französische Revolution war eine städtische Revolution gegen die Bauern), danach ab Ende des 19. Jahrhunderts als Frage der Proletarischen Revolution »im Westen« und Rußland, drittens nach dem Zweiten Weltkrieg in den nationalen Befreiungsbewegungen, und nun wieder seit den »neoliberalen« Krisenangriffen und dem Auftauchen der »neuen Bauernbewegungen«.

Die ersten drei Male ging es darum, wie eine Minderheit durch »Bündnisse« an die Macht kommt. Die Partei einer Minderheit (städtische Arbeiter) stützte ihren Avantgardeanspruch auf ihre »historische Mission«, die nur durch ein vorübergehendes taktisches Bündnis mit der Mehrheit (Bauern) zu erfüllen war. Das ist »klassischer Marxismus« – nämlich das, was Kautsky und Lenin aus Marx gemacht haben. Die heutige Debatte lässt sich damit nicht mehr führen.

1899 hatte Karl Kautsky in seinem Buch Die Agrarfrage diese »klassische Position« entwickelt: Auflösung des Bauerntums, Vorrang der großflächigen Landwirtschaft im Sozialismus. Lenin setzte auf ein minderheitliches, kämpfendes Industrieproletariat, das aber nur eine Chance auf die Revolution hatte, wenn es sich mit den Bauern verbündete: »Wir müssen die Bauerninsurrektion auf jede Weise unterstützen bis zur Beschlagnahme der Ländereien, aber niemals bis zu abstrakten kleinbürgerlichen Projekten. Wir unterstützen die Bauernbewegung in dem Maß, wie sie eine demokratische revolutionäre Bewegung ist. Wir bereiten uns (unmittelbar, sofort) auf den Kampf gegen sie vor, für den Fall, dass sie einen reaktionären, antiproletarischen Charakter annimmt.«(Die Lehren der Revolution, 1910). Loren Goldner verdeutlicht[3]: »Lenin wollte im Arbeiterstaat ‹human und bewusst› das machen, was der Kapitalismus ‹blind und blutig› durchgesetzt hatte: die Verwandlung der agrarischen KleinproduzentInnen in FabrikarbeiterInnen. Es blieb Stalin vorbehalten, diesen Prozess bewusst und blutig durchzusetzen«. (Beilage Wildcat-Zirkular Nr. 46/47, S. 6).

Es ist bezeichnend, dass dann, wenn die Bauern zu einer Minderheit werden, auch jedesmal die kommunistischen Massenparteien verschwinden (oder zu sozialdemokratischen Parteien werden); sie sind (bzw. waren) die Parteien der forcierten kapitalistischen Entwicklung und hatten ihre stärksten Basen auf dem Land (z.B. waren noch 1960 Landarbeiter die Mehrheit der Mitglieder der KPI!).

Marx selber setzte lange Zeit auf das revolutionäre Potential der schnell anwachsenden, sichtbaren und kämpfenden Arbeiterklasse. Aber nachdem die Niederlagen von 1848 und 1871 diese Hoffnungen auf einen schnellen Sieg zerstörten, verschob sich der Schwerpunkt seiner Analysen darauf, was diesen Kapitalismus so »instabil und stabil« zugleich macht. Er schaute sich nochmal genau in der Welt um. In den Briefwechseln mit Wera Sassulitsch (1881; MEW 19, S. 384 ff.) sprach er von einer »besonderen historischen Möglichkeit«: Wenn die Krise der »orientalischen Produktionsweise« in Russland auf die Krise des Kapitalismus in den Ländern Westeuropas trifft, bestehe die Chance, dass die Kämpfe der ArbeiterInnen mit denen der Landbevölkerung zusammen kommen, daraus könne sich etwas revolutionäres »Neues« entwickeln. Marx hatte den »inneren Dualismus« der russischen Dorfgemeinde zwischen kollektivem Eigentum und privater Produktion herausgearbeitet. Eine russische Revolution könne den Untergang der Dorfgemeide stoppen, die kollektiven Momente im gegebenen »historischen Milieu« (Krise des westlichen Kapitalismus) zusammen mit einer »Arbeiterrevolution« Ausgangspunkt einer neuen Vergemeinschaftung sein. Meist sollen diese Briefen entweder belegen, dass Marx doch kein »deterministisches Geschichstsbild« hatte, oder dass er den »direkten Sprung« aus vorkapitalistischen Gemeinwesen propagieren wollte. Wichtiger ist aber, wie Marx an die Fragestellung herangegangen ist. Marx dachte in Begriffen von »globaler Neuzsammensetzung« – auch wenn wir heute darüber natürlich anders diskutieren können und müssen. So wird es heute weniger um ein »Zusammenkommen aus dem besten zweier Welten« gehen…

Seit den 1990er Jahren werden die »neuen Bauernbewegungen« als weltweite Avantgarde im Kampf gegen den »Neoliberalismus« und als wichtiger Teil der Antiglobalisierungsbewegung betrachtet. Ihre Kampfformen in allen Ecken der Welt sind breit gefächert: Bauernunruhen in China, Vietnam und Ägypten, Landbesetzungen in Brasilien oder anderswo, Blockaden, Aktionen gegen »Großprojekte« bis hin zu bewaffneten Formen in Lateinamerika, Mexiko, Indien und auf den Philippinen. In diesen Bewegungen sind Organisationen mit einigen hundert oder tausend Mitgliedern (z.B. die Landarbeitergewerkschaft SOC in Andalusien) aktiv, aber auch Massenorganisationen wie der MST in Brasilien, oder die indischen Bauern-/Farmerorganisationen, deren Mitgliederzahlen in die Millionen gehen. Seit 1993 koordiniert Vía Campesina, eine »Dachorganisation« der weltweiten Bauernbewegungen Aktionen ihrer Mitgliedsorganisationen, die Beteiligung an den Weltsozialforen, oder das Auftreten bei/gegen die G8-Gipfel. Machtpolitisch seien diese Bewegungen für den »Linksruck in Lateinamerika« verantwortlich (Brasilien, Bolivien).

Maßgeblich für diese Entwicklung war der Aufstand in Chiapas[4]. Die EZLN setzte nicht auf die potenziellen Möglichkeiten und Realitäten der Proletarisierung, die Erfahrungen mit ländlicher und urbaner Lohnarbeit, die Migrationserfahrungen. Obwohl sich ihre eigene Basis aus (zurückmigrierten) LandproletarierInnen zusammensetzt, betonten die Zapatisten von Anfang an die Werte der indigenen Gemeinschaften und suchten das Bündnis mit den globalen politischen Bewegungen. Dieser Versuch, sich gegen die permanenten Einkreisungsversuche der mexikanischen Armee und »gegen den Neoliberalismus« zu wehren, blieb schwach. Auch der anschließende Versuch, weniger auf die ominöse Zivilgesellschaft und linke Parteien zu setzen, sondern ein Netz mit autonomen, radikaleren Gruppen aufzubauen – die Andere Kampagne – konnte die Zuspitzung der Repression nicht verhindern. Im Dezember 2007 kündigte Subcommandante Marcos mit dem Hinweis auf die »fehlende soziale Antwort der Internationalen Zivilgesellschaft« und den »Geruch des Krieges« den vorläufigen Rückzug aus der Öffentlichkeit an. Und gerade die Beispiele Brasilien und Bolivien zeigen, dass der »Linksruck« auf Kosten der Bewegungen geht, die den neuen Regierungen an die Macht verholfen haben (s.u.). Dabei wären aufgrund der sozialen Umwälzungen radikalere Wege möglich.

Proletarisierung und Semi-Proletarisierung

Der klassische Marxismus und der Maoismus teilten die Landbewohner nach ihrem Besitz in Groß-, Mittel- sowie Kleinbauern und Landarbeiter ein. In den Ländern, die sich zwischen dem Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts industrialisiert hatten, dem sogenannten Zentrum, machte dies durchaus Sinn. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg lag der Anteil der in der Industrie Beschäftigen in den USA und Europa bei 40 Prozent. Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten verringerte sich von 1870 bis 1970 auf unter fünf bis zehn Prozent (in den USA liegt er heute unter zwei Prozent). In England, den USA, Deutschland und Frankreich wird die Landwirtschaft kapitalisiert – was sich allerdings bis in die 1960er Jahre hinzieht! –, so dass es »im Westen« keine Bauernfrage mehr gibt. In der sogenannten Dritten Welt werden die ländlichen Bevölkerungen in einem Prozess von abhängiger Industrialisierung (Agrarproduktion für den Weltmarkt) aufgesogen. Punktuell bilden sich hierbei starke Arbeiterbewegungen (z.B. in Südkorea in den 1980er Jahren). Aber in den Ländern der »Peripherie« mit einer starken Polarisierung des Landbesitzes macht die Dreiteilung in Groß-, Mittel und Kleinbauern/Landarbeiter wenig Sinn. Hier polarisiert sich die soziale Schichtung zwischen Großbauern und Kleinbauern/LandarbeiterInnen, und der oben beschriebene Prozess der Semiproletarisierung der Kleinbauern und Landarbeiter ist die materielle Grundlage der »Neuen Bauernbewegungen«.

Neue Bauernbewegungen

Im folgenden beschränken wir uns auf Indien, Brasilien und Teile Mittel-/Südamerikas, alles andere würde den Rahmen eines Artikels sprengen.

Indien

Indien ist das Land der Dörfer, mit den Gegensätzen zwischen landbesitzenden Bauern, Großbauern und einer Klasse von Landlosen.[5] Viele wurden erst durch die Landreformen vor 30 Jahren zu Kleinbauern – eine »Verbäuerlichung« auf wenig und schlechtem Land, was einen beständigen Wechsel zwischen landwirtschaftlicher Produktion und Lohnarbeit zur Folge hat. Die durchschnittliche Anbaufläche pro Haushalt hat sich seit den 1960er Jahren halbiert (1961: 2,6 Hektar – 1992: 1,3 Hektar) und der Anteil der von Familien mit weniger als 0,2 Hektar Land an der »landbesitzenden Bevölkerung« ist von 1971 bis 1992 von 62 auf 71 Prozent gestiegen. Rund 42 Prozent der Landbevölkerung besitzt gar kein Land. Den etwa fünf Prozent Mittel- und Großbauern gehören 42,8 Prozent des Landes. 80 Prozent der indischen Bauern können nicht von der Landarbeit leben, der durchschnittliche ›bäuerliche Haushalt‹ deckt nur 35 Prozent seines Einkommens über die Agrarproduktion. Die Ärmsten bleiben auf dem Land, denn um in die Stadt zu gehen braucht man ein Minimum an Ressourcen (Land).

Die »Neuen Bauernbewegungen« seit Ende der 1970er Jahre sind ein Produkt der sogenannten Grünen Revolution. In ihnen ist die neue Schicht der für den Markt produzierenden Mittel- und Großbauern aktiv, zusammengehalten von einer populistischen Ideologie (z.B. Land gegen Stadt) und dem gemeinsamen Interesse an höheren Preisen für Agrarprodukte. Denn seit den 1980er Jahren sehen sich diese während der Grünen Revolution zu Wohlstand gekommenen Schichten mit sinkenden Preisen und Gewinnen konfrontiert. Ihren Höhepunkt hatten sie Mitte bis Ende der 1980er Jahre in den Staaten der Grünen Revolution (Maharastra, Uttar Pradesh, Punjab, Haryana). Damals nahmen an den Mobilisierungen mehrere 100  000 Menschen teil, Tausende wurden nach Aktionen verhaftet, es gab Dutzende Tote. Shetkari Sangathana in Maharastra, die Bharatiya Kisan Union (BKU, in ganz Indien) und die KRRS in Karnataka sind die größten Organisationen. Als »neu« gelten die Bewegungen, weil es nur selten um Landverteilung geht, stattdessen die Preise im Mittelpunkt stehen (Dünger, Elektrizität etc., aber eben auch der Marktpreis bzw. staatlich garantierte Agrarpreise). Die Aktionsformen sind »modern« und »aktionistisch«: Eisenbahnen werden blockiert, staatlichen Bürokraten der Zugang zu den Dörfern verwehrt; Agrarprodukte dem Markt entzogen, Rechnungen boykottiert… Teilweise spielen Frauen eine wichtige Rolle, es gibt ›frauenspezifischen‹ Forderungen u.a. gegen Mitgift und Alkoholmissbrauch und für gleiches Recht auf Landbesitz. Shetkari hat eigene Frauenorganisationen, zu einem Treffen 1986 kamen 150.000 Frauen, während die BKU den patriarchalischen Norden widerspiegelt.

Insgesamt dominiert in der Bewegung die agrarische Elite, Groß-, Mittelbauern und die oberen landbesitzenden Kasten; Kleinbauern werden »mitorganisiert«. Für einen Großteil des ländlichen Proletariats boten die Bewegungen von Beginn an nur beschränkt Perspektiven. Shetkari äußert sich immer mal wieder auch positiv zu den Möglichkeiten, die in den globalen Handelsabkommen liegen, bei ihrer Gründungskonferenz wurde der Punkt ›Situation der Landarbeiter‹ fallengelassen. Während eines Textilarbeiterstreiks in Bombay hatte Shetkari bessere Verbindungen zu Verbänden der Kleinunternehmer des Handels- und Transportsektors als zu städtischen Gewerkschaften. Die BKU wollte die Forderung nach einem Mindestlohn für LandarbeiterInnen nicht einmal diskutieren. Ab Ende der 1980er wurden militantere Aktionen zunehmend abgeblasen, es wurde klar, dass für die Führung der Schritt in die Politik kurz bevorstand (Shetkari-Chef Joshi z.B. wurde 1989 Kabinettsminister und Vorsitzender des Ständigen Beratungsausschusses in Agrarfragen).

Brasilien

Aus der kolonialen Plantagenwirtschaft entwickelte sich eine extreme Polarisierung zwischen Großgrundbesitz und einer Klasse landloser ArbeiterInnen. Nur in bestimmten Nischen können sich Kleinbauern halten. Mit der Verdopplung der landwirtschaftlichen Produktionsfläche seit 1940 verdoppelte sich auch die Zahl der Minifundien genannten kleinen Familienbetriebe. Diese sind keine »Zerfallsprodukte«, sondern das Ergebnis von Latifundienwirtschaft und Ausweitung der Agrarindustrie. Bei einer Bevölkerung von 188 Millionen Menschen können fast fünf Millionen Haushalte nicht von ihren Böden leben, 4,5 Millionen Haushalte haben gar kein Land. Offiziell hat sich das ländliche Proletariat seit den 1970er Jahren halbiert. Als Folge der Mechanisierung nimmt (auch permanente) Lohnarbeit in den Agrarfabriken zu, während die Arbeitskräfte der Klein-/Familienbetriebe zwischen Landarbeit, Lohnarbeit in Agrarbetrieben und anderer Lohnarbeit wechseln. Gleichzeitig produziert das Anwachsen von Agrofabriken und marginalisierten Minifundien »unfreie Arbeitsverhältnisse«.[6]

Der MST wurde 1984 gegründet. Er hat um die zwei Millionen Mitglieder (allerdings kursieren auch deutlich niedrigere Zahlen), 17   000 waren auf dem 5. Nationalen Kongress im Oktober 2007.

Seit Beginn geht es um Landbesetzungen. Dabei wird auf Artikel 186 der Verfassung verwiesen, wonach »unproduktives Land« besetzt werden darf. Die Besetzungen sind der Versuch, als Teil der Gewerkschaftsbewegung eine breite Organisation aufzubauen. Dabei stehen drei politisch-organisatorische Probleme im Mittelpunkt: die Beziehung zur brasilianischen Arbeiterpartei (PT), die polizeilich/militärische Repression und die »Erziehung« der eigenen Basis. Ein Teil der MST-Basis sind ehemalige Landarbeiter, die Kinder der Kleinbauern, Migranten vom Land, für die die Stadt nicht mehr das Ziel ist. Sie treffen sich in Camps entlang der zentralen Straßen. Mit Absicht werden sie hier sichtbar in den acampamentos gesammelt, ausgebildet und geschult. Sie leben in einfachen Hütten mit Plastikplanen, die »filhos da lona preta«, (Kinder der schwarzen Plane). Teilweise bauen sie Lebensmittel an, gehen im Umland arbeiten, die Kinder besuchen in den nahe gelegenen Ansiedlungen oder Städten die Schule. Oft wird ein breites Unterstützungsnetz aufgebaut, Busverbindungen eingerichtet. Die Camps sind Ausgangspunkt für die Landbesetzungen. Die zweite Hälfte der MST-Basis lebt in den eigentlichen Besetzungen, den Agrarreformsiedlungen. Im ersten Jahrzehnt seines Bestehens hatte der MST versucht, in den Siedlungen »Produktionskooperativen« aufzubauen. Das wurde seit Mitte der 1990er weitgehend eingestellt, weil es immer wieder zu Ausdifferenzierungen entlang der Familenbande gekommen war, und weil viele in der »Wiederankunft« auf dem Land keine dauerhafte Rückkehr aufs Land sahen. Besonders die Jüngeren gehen weg, ca. 30 Prozent der Familien verlassen die Siedlungen nach wenigen Jahren.

Mit der Regierung Lula kam der MST unter doppelten Druck. Der MST betonte immer seine Unabhängigkeit von politischen Parteien, insbesondere diejenige von Lulas PT. Trotzdem erhielt er immer Unterstützung vom Staat, und besonders die Agrar – und Sozialpolitik sind für die Mobilisierungsmöglichkeiten der MST wichtig. Die versprochene Landreform hat es auch unter Lula nicht gegeben, die Regierung setzt auf Exportproduktion und Agrokraftstoffe. 2004 wurden genauso viele Leute vom Land vertrieben, wie andere über die Agrarreform welches bekommen haben. Trotzdem gehen seit dem Regierungsantritt von Lula im Jahr 2002 die Landbesetzungen drastisch zurück: 2003 waren es noch knapp 300, 2004 noch 150, 2007 keine 50 mehr. Auch die Anzahl der acampamentos soll seit 2003 um 60 Prozent zurückgegangen sein. Anstelle einer Landreform hat Lula auf niedrigem Niveau umverteilt: mittlerweile erhalten elf Millionen Familien la Bolsa Familia, eine Art »Familiengeld«. Dadurch wird die Stadt gegenüber dem »harten Leben« in den Camps wieder attraktiv. »Die Leute aus den Städten waren schon immer unsere Zielgruppe, doch jetzt wollen sie nicht mehr aufs Land und das harte Leben in den Camps auf sich nehmen«.[7]

Bolivien

Auch in Bolivien gibt es eine Landlosenbewegung. Das Movimiento Sin Tierra (MST) wurde im Jahr 2000 gegründet, ähnlich wie in Brasilien sammeln sich darin die »zwischen Stadt und Land« lebenden ProletarierInnen. Ihre Basis hat sie in den östlichen Provinzen, wo die Polarisierung zwischen Agrarfabriken und Landlosen/Landproletariat am ausgeprägtesten ist. Die trotz Repression immer wieder erfolgreichen Landbesetzungen haben die Bewegung auf um die 50  000 Mitglieder ansteigen lassen. Kurz vor dem Antritt der Regierung Morales hat sich der MST gespalten, u.a. an der Frage, ob man weiterhin Land besetzen soll. Hier hat die Regierung Morales dann auch den Hebel angesetzt: die Beteiligung an den Beratungen um die verfassungsgebende Versammlung wurde an die Aussetzung der Besetzungen gebunden. [8]

Zentralamerika: Honduras

Neben den internationalen Agrarrichtlinien lässt die Nähe zu den USA eine Existenz durch Landarbeit für Kleinbauern und -bäuerinnen in Honduras wegbrechen. Reis, nach Mais und Bohnen das drittwichtigste Nahrungsmittel in Honduras, wurde Anfang der 1990er Jahre von 25000 Reisproduzenten hergestellt, 2005 noch von 1300. Grund dafür sind die Importe aus den USA, die Preise der fünf führenden Importeure fielen zwischen 1994 und 2000 um 40 Prozent, während die Verbraucherpreise um über 10 Prozent stiegen. Für die Kleinbauern und -bäuerinnen bedeutet dies eine Reproduktion zwischen Subsistenzlandwirtschaft und Arbeitsmigration in »doppelter Weise«: ein Teil von ihnen migriert in die USA oder in die Maquiladoraindustrie Mittelamerikas; ihre Geldüberweisungen sichern das Überleben der zurückgebliebenen Verwandten. In der Konsequenz verlassen immer mehr Leute ihren Boden, suchen nach anderen Einkommenquellen. Die Produktion auf dem eigenen Stück Land deckt gerade noch den täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln.[9]

La Vía Campesina

….war im Gründungsjahr 1993 Ausdruck der Breite und Stärke der »neuen Bauernbewegungen«, aber 15 Jahre später sind die inhaltlichen (»Bauern«) und organisatorischen (»networking«) Grenzen offenkundig.

Nicht zufällig ist La Vía Campesina 1993 in Mittelamerika gegründet worden und hatte zwischen 1996 und 2003 den Hauptsitz in Honduras. Die Organisation entstand aus einer Initiative von Bauernorganisationen aus Nord-, Mittel-, Lateinamerika und Europa. Die 1990er Jahre waren das »Jahrzehnt der NGOs«, nicht wenige der anfänglichen Mitgliederorganisationen hingen organisatorisch und finanziell an solchen NGOs. Daraus hat La Vía Campesina Schlüsse gezogen und sich organisatorisch und finanziell unabhängiger gemacht. Seit Ende der 90er Jahre ist die »Globale Kampagne für Landreform« ein Mittelpunkt der Aktivitäten. Die Auswirkungen der von der Weltbank geförderten Landreformen (»Vom Markt bestimmte Reformen«) werden kritisiert und Forderungen nach einer »wirklichen« Landreform dagegengestellt: »expose and oppose« (in etwa »bloßstellen und dagegenstellen«), so lässt sich die Strategie der Organisation zusammenfassen. Eine Mischung aus Medienkampagnen, öffentlichkeitswirksamen Auftritten bei globalen Großereignissen, lokaler Unterstützung von Bauernbewegungen, aber auch Treffen mit Vertretern von FAO (Agrarorganisation der UNO) und IFAD (International Fund for Agricultural Development, auch eine Einrichtung der UNO).

Inzwischen wird entlang der selbst gesteckten Kriterien bilanziert: konnte das Thema durchgesetzt werden? konnten politische Akteure unter Druck gesetzt werden? haben diese gar ihr Verhalten geändert? kam es zu realen Veränderungen? … Kriterien aus der Networking-Welt. Aber auch mit solchen Kriterien lässt sich einigermaßen nüchtern feststellen, dass nicht viel Zählbares zu vermelden ist. Im wesentlichen werden dafür zwei Ursachen verantwortlich gemacht: Erstens ersetze die Form des Netzwerks selbst allzuoft »eine politische Analyse der Realität, oder verhindere diese sogar« (Riles 2001, Edelmann 2008). Zweitens sei aus einer anfänglichen Stärke der Bewegung (vielfältige Zusammensetzung) eine Schwäche geworden (Klassenunterschiede und politische Differenzen). Auf den Philippinen und in Indien sei die Situation regelrecht »blockiert«, in Indien sind z.B. KRRS und BKU (siehe oben) die Hauptorganisationen von Vía Campesina. Sie halten kleinere, meist proletarischere Gruppierungen »draußen«. In den letzten Jahren hat es deshalb innerhalb dieser Strukturen immer wieder gekracht.

Revolution statt »Bündnisse«

Die Frage danach, wie Arbeiter und Bauern zusammenkommen, war eine oder vielleicht sogar die Frage des 20. Jahrhunderts. Und sie wurde sehr lange von großen Teilen der Linken mit Vorstellungen von Bauernrevolution beantwortet. Noch nach der weltweiten 68er Bewegung zog der Maoismus in die Städte der westlichen Welt ein – zwar nur in Form der lächerlichen Parteiaufbauversuche der K-Gruppen, das allerdings fast weltweit! Auf lange Sicht war allerdings »68« der Tod für den Maoismus, wie für alle Entwicklungsideologien. Heute werden die Bauern nicht mehr in Dienst gestellt für die nachholende kapitalistische Entwicklung, sondern als Kraft aufgerufen, um diese aufzuhalten. In diesem Sinn behauptet etwa James Petras, die »neuen Bauernbewegungen« seien die Avantgarde gegen den Imperialismus in Lateinamerika. Und in diesem Sinn sehen die Antiglobalisierungsbewegung seit Chiapas und Seattle die neuen Bauernbewegungen an der Front im Kampf »globaler Süden gegen globalen Norden«.

Bereits unser kurzer Blick auf die soziale Zusammensetzung der verschiedenen Bauernorganisationen hat diese Vorstellungen widerlegt . Jenseits aller theoretisch-politischen Unterschiede gleichen sich die Befunde [10], ob von linken/marxistischen AgrarexpertInnen oder »Mainstreamökonomen«: die »Semiproletarisierung« ist die überwiegende Form der Proletarisierung – eine Situation, aus der heraus die Subsistenz oft nicht mal mehr als »Fallback Option« funktioniert. »Traditionelle Landwirtschaft«[11] gibt es kaum noch, gleichzeitig nimmt die Lohnarbeit weltweit zu – auch die in der Fabrik. Selbst die Anhänger einer eigenständigen politischen Vertretung der Kleinbauern- und -bäuerinnen kritisieren die »Subsistenzperspektive« inzwischen als irreal (z.B. Wienold 2007, Inkota-Brief 144). Es macht gerade die Stärke der »Bauernbewegungen« aus, dass sie an diesen realen Entwicklungen ansetzen und nicht an Ideologien (»Subsistenz«), die in sie hineinromantisiert werden. Dass im globalen Krisenangriff der letzten 35 Jahre die Bauernbewegungen stark schienen, lag zum einen daran, dass die Arbeiterbewegungen schwach waren. Es lag zweitens daran, dass die »Neuen Bauernbewegungen« gerade an der Uneinheitlichkeit der Proletarisierung ansetzten.

Politische Ansätze, die die Erzeugung von Mehrwert durch industrielle Warenproduktion mit den Voraussetzungen dieser kapitalistischen Akkumulation zusammenzufügen versuchen, der Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft, schienen in den 80er Jahren in der Lage zu sein, beide Pole zusammenzubringen (Fortunati, Caffentzis, Meillassoux, Federici). Wie die Fabrik der Ort von Kämpfen der ProduzentInnen ist, so sind Arbeitsmarkt und Familie die Orte, an denen die Produktion/Reproduktion der Ware Arbeitskraft umkämpft ist. Inzwischen hat G. Caffentzis von den Midnight Notes daraus einen »Labor-Power Production approach« gestrickt, einen »Arbeitskraftproduktions-Ansatz«. Er sieht in der Verteidigung der »Subsistenzgarantien« gegen die Angriffe des Kapitals (Vertreibung vom Land, Abbau sozialstaatlicher Leistungen, das Schleifen der Länder des ehemaligen Realsozialismus), im Kampf um die »commons«, die globale Frontlinie. Das ist sympathisch, weil es nicht allzu schwer scheint, sich selber auf die richtige Seite zu stellen. Aber dieser idealisierenden Sichtweise gelingt es immer weniger, die realen Kämpfe in den Blick zu bekommen. Sie rutscht immer stärker auf Positionen der moralischen Verurteilung der Arbeiterklasse in den Metropolen, und indem sie rein auf die »Verteidigung gegen die Angriffe des Kapitals« setzt, verpasst sie auch die Potenziale, die z.B. in den Kämpfen in Indien oder in Ägypten liegen (siehe die entsprechenden Artikel in diesem Heft). Auch in China deutet sich mit der zweiten Generation der Wanderarbeiter, für die eine Rückkehr aufs Land immer weniger eine Option ist, eine politische Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse an.

Im Vergleich zu solchen allerneuesten Ideologieproduktionen ist der oben skizzierte Versuch von Marx, die Krise der Dorfgemeinschaft mit der Krise der kapitalistischen Produktion zu verbinden, um Lichtjahre aktueller. Denn heute erleben wir tatsächlich die Herausbildung einer globalen Arbeiterklasse, deren Bedingungen ungeheuer weit aufgefächert sind, aber in direkter Beziehung zueiander stehen. Vor dem Hintergrund einer absoluten und relativen (zur Weltbevölkerung) Zunahme der Lohnarbeit im Norden, Süden, Osten und Westen, in den Städten, auf dem Land, den Fabriken, Call Centern, Agrarfabriken sollten wir versuchen, aus den Formen der Ausbeutung, der Arbeit, und natürlich den Kämpfen gegen die Unterordnung unter das weltweite Kapitalverhältnis die globale Perspektive auszumachen: wie konstituiert sich in der globalen produktiven Kooperation eine Weltarbeiterklasse als handelndes Subjekt?

Wir haben zu Beginn gefordert, endlich die leninistischen und maoistischen Perspektiven aus den Köpfen zu kriegen. Wir müssen aber auch die Perspektiven des »Kampfs gegen den Neoliberalismus«[12] aus den Köpfen kriegen! Denn sie ist verknüpft mit reformistischen Vorstellungen, den Kapitalismus »zähmen« zu wollen.

Mit seiner These von der »Neuen Proletarität« hat K. H. Roth 1994 versucht, eine Debatte über die weltweite »Homogenisierung« unter ein weltweites Kapitalverhältnis anzustoßen. [13] Angesichts der Herausbildung einer globalen Arbeiterklasse wollte er die Frage nach den »Aufgaben der Linken« stellen. Der Versuch misslang, die These von der »Homogenisierung« wurde als Angleichung der Lebensbedingungen missverstanden, die Frage nach der globalen Arbeiterklasse durch theoretische Kleinkriege unwirksam gemacht. Es wäre an der Zeit, nochmal am »Leopardenfell« der globalen Ausbeutung anzusetzen, mit 15 Jahren mehr Erfahrung in und mit den »neuen Bauernbewegungen«, mit zehn Jahren Erfahrung in den diversen no-glob-Bewegungen, vor dem Hintergrund der aktuellen food riots, der Nahrungsmittelkrise und der sogenannten »Klimafrage«


Literatur:

– Eric Wolf, Peasant Wars of the Twentieth Century, 1969

– Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Dikatur und Demokratie, 1966

– Hans Wienold, Leben und Sterben auf dem Land (Indien und Brasilien), Westfälisches Dampfboot 2007

– Silvia Pérez-Vitoria, Bauern für die Zukunft, Rotpunktverlag 2007

– Anette Desmarais, La Vía Campesina, Pluto Press 2007

– Annelise Riles, The network inside out, Michigan Press 2000

– Tom Brass (Edit), New Farmer Movements in India, 1995, Library of Peasant Studies No.12

– Loren Goldner, Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft, Beilage Wildcat-Zirkular 46/47

– George Caffentzis, On the Notion of a Crisis of Social Reproduction: A Theoretical Review. (Caffentzis 2002: http://www.commoner.org.uk/caffentzis05.pdf , S.13ff).

– George Caffentzis, No Blood For OIL, Energy, Class Struggle, and War, 1998-2004, http://www.radicalpolytics.org/caffentzis/no_blood_for_oil-entire_book.pdf

– Sam Moyo & Paris Yeros (Edit.), Reclaiming the Land; The Resurgence of Rural Movements in Africa, Asia and Latin America; Zed Books 2005

– Bryceson, Kay and Mooji, Disappearing Peasantries, Rural Labour in Africa, Asia and Latin America, 2000

– James Petras hat eine eigene Webseite

– Wallerstein, Immanuel, Der historische Kapitalismus, Argument-Verlag, 1984

–Journal of Agrarian Change, Special Issue on Transnational Agrarian Movements, April/July 2008; darin besonders die Beiträge von Brenda Baletti, Marc Edelmann, Saturnio M. Borras, Xochtil Bada




[1] »Der dramatischste und weitreichendste soziale Wandel in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, der uns für immer von der Welt der Vergangenheit getrennt hat, war der Untergang des Bauerntums… Wenn sich das Land leert, füllen sich die Städte. Die Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in einem Ausmaß urbanisiert wie nie zuvor.« (Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München und Wien 1995, S. 365 u. 370)

[2] Seit 1960 hat sich absolut die Zahl der transnationalen MigrantInnen verdoppelt, 2005 sind 185 Millionen Migranten »unterwegs«, das sind knapp drei Prozent der Weltbevölkerung. Der zunehmenden Polarisierung der Weltgesellschaft entspricht eine Konzentration der Migration: gelangte in den 1970er Jahren nur die Hälfte des Migrationsanstiegs in Metropolen, so »landete« in den 1990er Jahren fast der komplette Anstieg an transnationaler Migration in Asien, den USA oder Europa; die meisten Länder Lateinamerikas sind zu »Entsendeländern« geworden.

[3]So zum Beispiel auf dem Plakat in der Wildcat 69; auch L.Goldner, Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft, Beilage Wildcat-Zirkular 46/47

[4] Wer die damals teilweise hitzig geführte Diskussion über Chiapas nachlesen möchte: z.B. Zirkular 45

[5] Die »alten Bauernbewegungen« seit den 1930er Jahren, die von der Kommunistischen Partei dominiert waren, wurden zunehmend zu parteipolitischen Massenmobilisierungen, bis hin zur Machtübernahme der Kommunistischen Partei in West Bengalen 1977 und Kerala. An die Macht gelangt wendet sich die Partei gegen die darauf Folgenden Landbewegungen. Die maoistischen Bewegungen seit den späten 1960ern gibt es teilweise bis heute. Diese ’neue Maoistische Bewegung‘ bestand aus LandarbeiterInnen, StudentInnen, urbanem Proletariat, weniger aus Bauern. Heute ist die ’maoistischen Bewegung‘ z.B. in Orissa und Bihar weitestgehend militarisiert bzw. als lokale Verwaltung etabliert.

[6] In Brasilien werden offiziell seit Jahren jährlich 4000-6000 Fälle von »Schuldknechtschaft«, »neuer Sklaverei« angezeigt, meist in den großen Agrarbetrieben in der heißen Phase der Ernte. Die Strafen können aus der Portokasse beglichen werden. Im Unterschied zur »alten Sklaverei« besteht kein legaler Besitz an der Person, die Arbeit wird durch Gewalt und »Verschuldung« erzwungen (z.B. müssen »vorgeschossene« Nahrungsmittel bezahlt, also abgearbeitet werden)

[7] Zitat MST, zitiert nach Inkota-Brief 144, Juni 2008

[8] Zu Bolivien siehe Wildcat 78, Seite 57 f.

[9] »INKOTA ist ein ökumenisches Netzwerk entwicklungspolitischer Basisgruppen, Weltläden, Kirchgemeinden und Einzelengagierter und existiert bereits seit mehr als 30 Jahren im Osten Deutschlands« (Aus der Selbstdarstellung auf der Webseite). Im Rundbrief finden sich immer wieder erfrischend unideologische Darstellungen zur Landwirtschaft und den Bewegungen.

[10] Zahlen der ILO von 2007: 2006 gab es eine offizielle Erwerbsbevölkerung von 2,9 Mrd., das sind 16 Prozent mehr als 1996. 2006 arbeiten davon 22 Prozent im produzierenden Gewerbe, 1996 waren es 21,5 Prozent gewesen. Die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft sinkt von 1996 43 Prozent auf 38 Prozent 2006. Der Anteil der Dienstleistungen steigt im selben Zeitraum von 35 auf 40 Prozent. (Hinter den Zahlen für die Landwirtschaft und die Dienstleistungen »versteckt« sich viel industrielle Arbeit!)

[11] »Traditionelle Landwirtschaft« ist ein viel diskutierter Begriff. Im »Westen« war Landwirtschaft durch die Industrialisierung schon früh nicht mehr sehr »traditionell«. Die heutige Landwirtschaft in der Peripherie ist ein Produkt des Kolonialismus. Heute versteht man üblicherweise darunter einen Betrieb, der wenig bis keine fremde Arbeitskraft anwendet, für die Selbstversorgung produziert, bzw. höchstens einen kleinen Überschuss verkauft (»Kleinbauern«, »Family Farm«).

[12] vgl. Richard Greeman »Gefährliche Abkürzungen« - Brief an alle Freunde der Zapatisten
http://www.wildcat-www.de/zirkular/40/z40greem.htm

[13] K.H.Roth (Hrsg.), Die Wiederkehr der Proletarität, Dokumentation einer Debatte, ISP 1994


aus: Wildcat 82



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