Wildcat Nr. 83, Frühjahr 2009, Alles in Frage stellen III



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Alles in Frage stellen - III

It's Chimerica, stupid!

Die neue US-Außenministerin Clinton gab schon vor ihrer Reise nach China Mitte Februar das Motto bekannt: "Wer gemeinsam in einem Boot sitzt, sollte den Fluss friedlich überqueren." Sie zitierte damit den chinesischen Philosophen Sunzi, der erzählt, wie Soldaten der verfeindeten Staaten Wu und Yue sich in einem Boot wiederfinden und ihre Waffen niederlegen, um in einem Sturm sicher ans Ufer zu kommen.

In den letzten zehn Jahren waren Welthandel und Weltwährungssystem nur einigermaßen intakt durch ein symbiotisches Verhältnis zwischen den USA und China, für das sich im Englischen der Begriff Chimerica gebildet hat (zuweilen auch Bretton Woods II). Der Mechanismus lässt sich so zusammenfassen: In China produzierter Mehrwert wird durch Verkauf der Waren in den USA realisiert und als Dollarguthaben auf chinesischen Banken akkumuliert. Mit diesen Dollars kauft China dann Anleihen der US-Regierung. Das ermöglichte die US-amerikanische Niedrigzinspolitik und den Immobilienboom, wodurch wiederum die "amerikanischen Konsumenten" Geld leihen konnten, um die chinesischen Waren zu kaufen. Überkapazitäten in China wurden ausgeglichen durch "Überkonsum" in den USA, einer hohen Sparquote in China entsprach eine hohe Verschuldung in den USA. Somit waren die Kapital- und die Leistungsbilanz ausgeglichen. Aber jede Veränderung in einem dieser vier "Ströme" macht gleiche und entgegengesetzte Veränderungen in den anderen drei notwendig.

Der Überschuss an Geld führte in den USA dazu, dass die Banken aggressiv Kredite vergaben, das überschüssige Geld suchte nach "Anlagen" (s.o. "Anlagenotstand") - und fand sie vor allem in Immobilien. Dadurch stiegen die Hauspreise stark an (von 1995 bis 2007 jährlich zwischen zehn und 15 Prozent) und die Leute verschuldeten sich auf diese scheinbar ewig steigenden Hauspreise und konsumierten auf Pump. Ohne den Immobilienboom wäre das BIP der USA in den letzten acht Jahren nur noch um ein Prozent jährlich gewachsen.

Beide Länder hingen am selben Wachstumsmodell: der immer weiteren Hebelung des Konsums der amerikanischen ArbeiterInnen. Dazu mussten die Kreditmengen ausgeweitet werden, immer mehr Leuten mussten Kredite aufgedrückt werden, notfalls eben subprime. Diese Konstellation war selbstverstärkend und so erfolgreich, dass sie an Grenzen zu stoßen drohte ("China kauft alle Rohstoffe auf"). Aber wie jedes Schneeballsystem musste die Immobilienblase in den USA früher oder später platzen. Die "Subprime-Krise" war Auslöser, nicht Ursache der aktuellen Krise. Diese ist eher eine Krise der gigantischen Ungleichgewichte der internationalen Zahlungsströme.

Die USA hatten 2007 ein Außenhandelsdefizit von fast 750 Milliarden Dollar. Die gewaltige Überproduktion in China führte 2006 zu einem Handelsbilanzüberschuss von 177,5 Mrd. Dollar (BRD 160 Mrd. Euro), 2007 sogar von 262 Mrd. Dollar (BRD knapp 200 Mrd. Euro; zur BRD vgl. den Krisenartikel in Wildcat 82; seit 2007 ist übrigens die EU der größte Abnehmer chinesischer Waren). Der Handelsbilanzüberschuss eines Landes ist die Lücke zwischen seiner Produktion und dem Binnenkonsum. Obwohl, am Börsenwert gemessen, drei der fünf größten Banken der Welt inzwischen aus China kommen, ist das chinesische Finanzsystem noch sehr rückständig. Deshalb ist China gezwungen, die riesigen Dollarmengen, mit denen die USA ihren Konsum chinesischer Waren bezahlen, "durchzureichen", sonst hätten sie sofort eine Hyperinflation im eigenen Land. Letztlich wurde die Dollarhegemonie seit einem Jahrzehnt nur noch von den asiatischen und den OPEC-Ländern gestützt. China hat die größten Währungsreserven der Welt, Brad Setser hat sie auf 2,2 Billionen Dollar Ende 2008 geschätzt (das sind mehr als 1600 Dollar für jede Chinesin). Davon sind etwa 1,7 Billionen in Dollar angelegt, Japan hält knapp eine Billion Dollar; Taiwan, Südkorea und die OPEC-Staaten zusammen nochmal zwei Billionen Dollar als Währungsreserven. Es ist klar, dass die USA diese Summen nie zurückzahlen können. Trotzdem steckt China etwa zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts jährlich in US-Papiere. Diese warfen die ganze Zeit sehr wenig ab, nun drohen sogar Verluste (Dollarabwertung und Nullzins-Politik in den USA). Weil China gedroht hatte, seine Währungsreserven sonst in Euro umzuschichten, musste die US-Regierung im September 2008 die beiden Hypothenkenbanken Fannie Mae und Freddie Mac verstaatlichen (China war dort mit 376 Milliarden Dollar Kredit engagiert - ca. einem Fünftel seiner gigantischen Dollarreserven) - die bis dahin größte Rettungsaktion seit dem Zweiten Weltkrieg, und eine historische Niederlage der Hegemonialmacht.

Die Ablösung des Dollars vom Gold (siehe Beilage) war die Voraussetzung zur scheinbar schrankenlosen Ausweitung der Dollarmenge. Bereits Mitte der neunziger Jahre war nur noch jeder sechste umlaufende Greenback durch Wertproduktion gedeckt. In den vier Jahren nach der dot.com-Krise hat die Fed mehr Dollars in Umlauf gebracht als in der gesamten 200-jährigen US-Währungsgeschichte zuvor. Es kam zur größten Ausweitung von Konsumentenkrediten und Hypotheken in der Geschichte des Kapitalismus. Bereits vor den Bankenrettungsprogrammen brauchten die USA Kapitalzuflüsse von vier Milliarden Dollar am Tag! Diese gewaltige Summe hat sich verdoppelt, der Finanzierungsbedarf für 2009 wird auf gigantische 2,5 Billionen Dollar, das Haushaltsdefizit für 2009 auf 1,2 Billionen Dollar geschätzt. Eine Hälfte der Chimerica-Symbiose, die scheinbar schrankenlose Verschuldungsfähigkeit der USA, wird hinfällig. Und bei einbrechenden Exporten kann China absehbar diese Kapitalströme nicht mehr aufbringen (und in der Tat sind im vierten Quartal 2008 diese Zuflüsse zurückgegangen).

Um den Welthandel aufrechtzuerhalten, müssten die monetären Ungleichgewichte zwischen den USA und China ausgeglichen werden. Die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren zeigte, dass dazu die Nationen mit einem Handelsbilanzüberschuss den Binnenkonsum ausweiten müssen, also China (und nebenbei gesagt, auch die BRD). In den Handelsbeziehungen zwischen zwei Staaten drücken sich aber auf sehr komplexe Weise die jeweiligen Klassenverhältnisse aus, das lässt sich nicht durch einfache politische Entscheidung ändern. Um einigermaßen ins Gleichgewicht zu kommen, müsste die Sparquote in den USA um mindestens fünf Prozent steigen, also der Konsum um fünf Prozent zurückgehen (wenn alle anderen Variablen gleich blieben!), und der Konsum in China um 40 Prozent steigen. Also Lohnerhöhungen von 40 Prozent, die dann auch noch alle in den Konsum fließen müssten - ein Ding der Unmöglichkeit, die Profite der Unternehmer in China würden zusammenbrechen, Waren made in China würden massiv verteuert. Eine Alternative wäre, die (Export-)Produktion zusammenbrechen zu lassen und gleichzeitig den Konsum aufrechtzuerhalten bzw. durch Infrastrukturmaßnahmen den Binnenmarkt zu stimulieren. Weder ein Einbrechen der Industrieproduktion in dieser Größenordnung noch die Fortsetzung von Chimerica ist gegen die chinesische Arbeiterklasse auf Dauer durchsetzbar: in China hat eine heftige Debatte darüber eingesetzt, warum in Zeiten der Krise (China leidet neben den großen Problemen der Exportindustrie unter einer gewaltigen Immobilienkrise) jährlich zehn Prozent des BIP verschleudert wird, um die USA zu stützen.

Eine Abwertung des Yuan zur Stützung der Exporte würde das "Abwertungsrennen" (Kagarlitzky) der verschiedenen Währungszonen dramatisch beschleunigen. Wie blank die Nerven diesbezüglich liegen, zeigte der Vorwurf des neuen US-Finanzministers Geithner Ende Januar an China, es würde den Yuan manipulieren. Die größte Gefahr für den Weltkapitalismus sieht Kagarlitzky im Moment aber in einem Zusammenbruch der US-Währung ähnlich dem Kollaps des Rubel 1998/99. Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein, u.v.a. hält auch die Financial Times eine "Flucht aus dem US-Dollar (für) das größte Risiko des Jahres 2009." Denn die US-Regierung hat ihre Verschuldung noch einmal dramatisch ausgeweitet. Aber auch die chinesische Regierung hat ihre Banken angewiesen, sehr viel mehr Kredite zu vergeben (allein im Januar 2009 wurden ein Drittel soviel Kredite vergeben wie im ganzen Jahr 2008) zur Subventionierung der Exportindustrie. Trotzdem ist der chinesische Außenhandel im Januar um 29 Prozent eingebrochen. Die Exporte fielen um 17,5 Prozent, die Importe um 57 Prozent (ein Teil des Rückgangs erklärt sich allerdings dadurch, dass das chinesische Neujahrsfest 2009 in den Januar statt wie im Vorjahr in den Februar fiel). Beide Regierungen kämpfen ums Überleben und sehen sich dabei zu protektionistischen Maßnahmen gezwungen. Der Welthandel ist in den Monaten von November bis Januar mit einer Dynamik eingebrochen, die stärker war als während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren. Beim Weltwirtschaftsforum Ende Januar in Davos musste die globale Elite eingestehen, dass die ersten beiden Versuche zur Eindämmung der Krise gescheitert waren. Alle waren sich in Davos einig, dass Protektionismus auf jeden Fall verhindert werden müsse - während viele Länder bereits die Abschottung starten (Erhöhung der Einfuhrzölle, buy american, Subventionen für frz. Autoindustrie, nationale Rettung von Opel usw.). Das nicht lösbare Problem: "Multilateralismus" setzt eine Hegemonialmacht voraus, die es aber nicht mehr gibt! Die Krise verschärft die Konkurrenz.

Am Ende der Geschichte von Sunzis "Kunst des Krieges" besiegen die Yue übrigens doch noch die Wu.


"Am 22. August [2008] meldete sich Yu Yongding per Mail bei der Finanznachrichtenagentur Bloomberg. Der Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Politik an der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften drohte unverhohlen: 'Wenn die US-Regierung Fannie und Freddie zusammenbrechen lässt und die internationalen Investoren nicht adäquat kompensiert werden, wird das katastrophale Konsequenzen haben. Es wird nicht das Ende der Welt sein, aber das Ende des gegenwärtigen internationalen Finanzsystems.' Yu ist Ratgeber Pekings, und es ist nicht das erste Mal, dass er als eine Art informeller Regierungssprecher fungiert: 'Die Folgen einer solchen Pleite können außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft sein.'"


Ende einer historischen Konstellation

Die heutige Krise überschreitet nicht nur in ihrer Dynamik und in ihrer voraussichtlichen Dauer die Weltwirtschaftskrise von 1929/31. Ein viel wichtigerer Unterschied liegt darin, dass sich in den 30er Jahren im wesentlichen "alle" einig waren, wie man aus der Krise wieder herauskäme: Kapitalisten, Stalinisten, Nationalsozialisten und US-Demokraten (Roosevelt) setzten auf die serielle Massenproduktion von langlebigen Konsumgütern und Maschinen, flankiert von einem nationalen Sozialstaat - und alle experimentierten mit Arbeitslagern. Das Fließband als Produktionsweise war bereits eingeführt, es musste lediglich forciert und flankiert werden (was dann mehr als 30 Jahre lang zu ungeheuren Produktivitätssteigerungen führte). Heute ist weder eine neue Produktionsweise noch eine neue Form von produktiver, staatlicher Einbindung in Sicht. Deshalb ist die aktuelle Krise eher mit der fünfjährigen "long depression" 1873-1878 vergleichbar, die in eine zwanzigjährige Stagnation bis 1896 mündete.

Damals hielten viele Zeitgenossen den Kapitalismus für endgültig erledigt (nach den revolutionären Bewegungen 1831 bis 1848 und der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1850er Jahre). Er kam aber aus der Krise heraus, indem er sich radikal verwandelte und das entstand, was man heute überhaupt unter "Kapitalismus" versteht: industrielle Herstellung von langlebigen Produkten des Massenkonsums (Nähmaschine, Staubsauger, Auto, Kühlschrank...). Die wesentliche Innovation war das Fließband: die Umstellung der Fabrik vom Meisterregime auf den Massenarbeiter. Die Ingenieure nannten das Fließband damals "Bauerngeschirr" - weil es mit ihm erstmals möglich war, frisch vom Land rekrutierte Arbeitskraft (Migranten oder Pendler) in die Fabrik zu stellen und die Macht der bisherigen Arbeiterklasse zu brechen. Für diese bedeutete das Fließband das Ende ihrer historischen Organisationen (Facharbeiter- und Handwerker-Gewerkschaften). In den revolutionären Umbrüchen Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Räte und in den USA die Wobblies. Nach deren Niederschlagung setzten sich in den Kämpfen der 30er Jahre in den USA die Industriegewerkschaften durch. Dieses Organisationsmodell haben wir bis heute.

Auf der anderen Seite zerstörten die Kolonialmächte in dieser Phase die Ökonomie der damaligen Peripherie (vor allem in China und Indien) derart umfassend, dass eine Hungerkatastrophe mit Millionen Toten die Folge war. Diese größte ökologische Krise seit 1492 gilt als Geburtsstunde der "Dritten Welt". Das war die andere Seite der ungeheuren Produktivitätsentwicklung seither. (Übrigens entstand damals auch der strategische Einsatz von Auslandsschulden, um periphere Staaten in Abhängigkeitsverhältnisse zu drängen.)


Der Clou der Geschichte:

In diesem auf extreme Ungleichheit, Massenelend, Spaltung der ArbeiterInnen (Sprechverbot bei Ford!), industrielle Vernichtung, Arbeitslager, Teilung der Welt in einen globalen Norden und einen globalen Süden usw. angelegten System kam es zu zutiefst egalitären Bewegungen, und aus dieser buntscheckigen Klasse "angelernter Bauernarbeiter" entstand erstmals in der Menschheitsgeschichte ein weltweites Subjekt (Massenarbeiterkämpfe Ende der 60er Jahre). Ihre Kämpfe verstärkten sich gegenseitig mit den antikolonialen Kämpfen in der "Dritten Welt", was zur Weltkrise 1973 führte - was aber auch innere Grenzen hatte, die von den damaligen Kämpfen nicht überwunden wurden (deshalb unser Augenmerk auf die weltweite Proletarisierung z.B. in diesem und im letzten Heft der Wildcat).

Die 35jährige neoliberale Krise hat diese am Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Konstellation abgeschlossen: Ende der Industriegewerkschaften als Organisationsform der Industriearbeiter und Ende der "Dritten Welt". In der BRD z.B. vertreten die Gewerkschaften weder die real 9 Mio. Arbeitslosen, Aufstocker usw. noch die (im Herbst 2008 fast) eine Million Leiharbeiter. Sie sind trotz aller Bemühungen im letzten Konjunkturaufschwung auch nicht in die "neuen Sektoren" reingekommen und ihre Strategie, die Interessen der Stammbelegschaften zu vertreten, ist heute an die Wand gefahren. Es gibt keinen Grund, diesen Organisationen nachzutrauern; wenn man sich etwa die Rolle der DGB-Gewerkschaften bei der Einführung von Hartz IV anguckt, ist man daran erinnert, wie massiv die AFL in den 30er Jahren gegen die Einführung von Arbeitslosengeld kämpfte. Die heutigen Gewerkschaften sind genauso wenig zu retten wie "Fordismus" oder "Neoliberalismus". Viel spannender ist die Frage, was an neuen Organisations- und Kampfformen entsteht.

Es gibt eine weitere, wichtige historische Parallele: In der long depression entstanden nicht nur das Fließband, der migrantisch-bäuerliche Massenarbeiter und die Dritte Welt, sie markiert auch die Ablösung vom Dampf und den Übergang zum Erdöl als der hauptsächlichen Energiequelle. In der heutigen Krise wird das Ende des Erdölzeitalters sichtbar (dazu siehe ENDE DES AUTOS aus Wildcat #83).

ALLES in Frage stellen!

 


Randnotizen:

Chimerica: Wortspiel mit China, America und Chimäre. Die Chimäre ist ursprünglich ein Geschöpf der griechischen Mythologie, dort ist sie die Tochter zweier Ungeheuer und Schwester von Hydra und Sphinx. Ihr Körper ist zusammengesetzt aus den Köpfen von Ziege, Schlange und Drachen.

Den sehr interessanten Blog von Brad Setser, der für einen regierungsnahen think tank arbeitet, findet ihr hier: http://blogs.cfr.org/setser/

Wobblies / Industrial Workers of the World: Zur Geschichte der Wobblies siehe Wobblies Bd. 1-3; insbesondere Austin Lewis Das militante Proletariat von 1911 in Wobblies Bd.2 - komplett online unter http://www.wildcat-www.de/thekla/wobbly/lewis.pdf
; ausführlich zu diesem Zusammenhang: wildcat #33



aus: Wildcat 83, Frühjahr 2009



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