Wildcat Nr. 85, Herbst 2009



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Iran: ein neuer Anlauf?

Die Linke weltweit diskutiert sehr kontrovers über die Mobilisierungen vor und nach den Wahlen im Iran, bringt diese aber selten mit der globalen Krise und der schweren Wirtschafts- und Regierungskrise im Iran in Verbindung. Dabei liegen diese Bezüge auf der Hand.
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Update – 23.11.2009

Seit den Wahlen geht es außenpolitisch auf und ab im Verhältnis zu den USA; das letzte Ausrufezeichen waren die großen Militärübungen vor ein paar Tagen zum Schutz der Atomanlagen gegen einen evtl. israelischen Militärschlag. Innenpolitisch hat sich Ahmadinedjad gegen das Parlament durchsetzen können: der Abbau der Subventionierung untersteht nun seiner Zuständigkeit, er hat freie Hand beim Abbau der bisherigen Nahrungsmittel- und Energiesubventionen. (Die Inflation ist bereits jetzt bei 20-25 Prozent, durch Subventionskürzungen würde sie um weitere 20 Prozent ansteigen.) Die Repression geht weiter und wird immer schärfer; inzwischen werden wieder politische Gefangene hingerichtet.

Die Bewegung braucht noch immer die offiziellen Gedenktage, um auf die Straße zu gehen. Deshalb ist sie auch nach wie vor nicht von der Mussawi-Opposition zu unterscheiden, die dieselben Jahrestage benutzt und auf dieser Bewegung »reiten« kann (mit der Parole »alle gemeinsam«), obwohl diese Bewegung sehr unterschiedlich zusammengesetzt ist von Leuten, die das Regime stürzen wollen bis zu denen, die selber an die Regierung wollen, um das Regime zu retten.

Trotz der scharfen Repression gehen die Arbeiterkämpfe weiter, sie waren im Sommer angesichts der Bewegung in den Hintergrund geraten. Es gibt Demos gegen Entlassungen, Betriebsschließungen und wegen ausstehender Löhne. Auf solchen Demos werden oft nicht nur betriebsspezifische sondern auch allgemeine Parolen gerufen (z.B. in Ahvaz und Shiraz).

Der nächste wichtige Gedenktag ist der 7. Dezember, der Tag des Studenten; an diesem Tag feiert sich nicht das Regime, sondern er erinnert an den Tod dreier Studenten im Kampf gegen den Schah.


Ölrente

Die Geschichte des »iranischen Kapitalismus« beginnt mit der Verfassungsbewegung von 1906 (also gleichzeitig mit der russischen Revolution von 1905), nachdem die Engländer 1901 mit der Ölsuche begonnen hatten. Die kapitalistische Entwicklung im Iran ist von Anfang an über das Erdöl in den Weltmarkt eingebunden.1 Seit den 1960er Jahren und vor allem seit der »Weißen Revolution« 1963 ist der Iran einerseits ein modernes kapitalistisches Land, andererseits abhängig von seinen Rohstoffexporten. Der Ölboom (und die Explosion der Ölpreise nach 1973 und nach 2005) versetzte(n) das jeweilige Regime immer wieder in die Lage, eine Entwicklungsdiktatur zu verfolgen: der staatliche Sektor ist in etwa so groß wie der privatwirtschaftliche. (Die iranische Statistik spricht von insgesamt 20,47 Millionen Erwerbstätigen, darunter 5,48 Millionen in der Privatwirtschaft und 5 Millionen »Staatsbeschäftigte« – das reicht von den staatlichen »Milizen«, den Pasdaran, bis zu den Beschäftigten der staatlichen Autoindustrie – sowie 1,53 Millionen »Arbeitgebern« und 7,36 Millionen Selbständigen bei einer Bevölkerung von 73 Millionen.) Sowohl die Entwicklung wie der große Staatsapparat werden finanziert über die Ölrente: Teile des von ArbeiterInnen in anderen Gegenden der Welt, besonders in ölimportierenden Ländern, produzierten Mehrwerts fallen über den Ölexport dem iranischen Staat zu. Diese Mischung aus Abhängigkeit und forcierter Entwicklung führte bereits in den 70er Jahren zu einer dramatischen Wirtschaftskrise, die schließlich in der iranischen Revolution 1979 mündete. Strukturell steht das Ahmadinedjad-Regime heute vor den selben Problemen.

Krise

Steigende Öleinnahmen führten von 2005 bis 2008 zur Verdreifachung der Geldmenge und einer Zunahme der Inflation von 10,4 auf 25,4 Prozent. Das Regime versuchte diese mit günstigen Krediten und Subventionen abzufedern. Trotzdem stiegen Armut und Wohnungsnot. Der Absturz des Ölpreises von 148 auf 40 Dollar im Sommer 2008 riss große Löcher: Im Staatshaushalt 2009 fehlen 25-30 Milliarden Dollar, und 6 Milliarden Dollar mussten umgeschichtet werden, um den Staatsangestellten ihre Löhne und Gehälter auszahlen zu können. Der Iran braucht Kredite, hat aber (auch aufgrund der globalen Krise) große Schwierigkeiten, an solche heranzukommen. Die Inflation steigt weiter (die Lebensmittelpreise seit Anfang des Jahres um 40 Prozent), die Industrieproduktion schrumpft. Im Frühjahr 2009 waren offiziell 2,7 Millionen arbeitslos; allerdings zählt bereits als »arbeitend«, wer in den letzten Tagen vor der Erhebung auch nur eine Stunde gearbeitet hat – von daher sind die tatsächlichen Zahlen viel höher.

Zum Rückgang der Öleinnahmen kommt seit 2008 eine Dürreperiode. Der Ausfall der Wasserkraftwerke führt zu Engpässen bei der Stromversorgung, vor allem aber zu dramatischen Rückgängen der landwirtschaftlichen Produktion (ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche wird bewässert!). Erst vor vier Jahren war der Iran unabhängig von Weizenimporten geworden, 2008 mussten wieder sechs Millionen Tonnen eingeführt werden. Schon vor dem Ausbruch der aktuellen Krise musste der Staat 4,5 Milliarden Dollar für den zusätzlichen Import von Nahrungsmitteln aus dem unter Khatamie eingerichteten Devisensparfonds, dem sogenannten »Zukunftsfonds«, entnehmen.

Trotz der gewaltigen Ölreserven gibt es weiterhin eine Benzinkrise. Im Sommer 2008 war das Budget für den Benzinimport erschöpft und die Regierung musste (gegen das Parlament) weitere Dollareinnahmen aus dem Ölverkauf für den Import von Benzin bereitstellen.

»Ölwahlen« 2

Im Vorfeld der Wahlen hatten ArbeiterInnen eine Kampagne gegen die Inflation und zur Erhöhung des Mindestlohns um das Vierfache gestartet. Der Mindestlohn wurde aber nur um 20 Prozent erhöht, also unterhalb der offiziellen Inflationsrate. Am 1. Mai wurden 150 Arbeiteraktivisten und Gewerkschafter beim Versuch verhaftet, für die Erhöhung der Mindestlöhne auf die Straße zu gehen und nur gegen sehr hohe Kautionen freigelassen. Insgesamt waren die Wahlen im Sommer 2009 sehr stark von der Wirtschaftskrise dominiert. Die Fragen nach der Verteilung der Ölrente bestimmten alle Debatten: wieviel wird investiert, wieviel wird verteilt und in welcher Form? An dieser Front hat sich in den letzten Jahren eine Regierungskrise mit ständigen Ministerentlassungen und Kabinettsumbildungen entwickelt: Wirtschaftsminister, Zentralbankchef und Arbeitsminister streiten darüber, wer gefährlicher ist: die Inflation oder die Arbeitslosen?, und was das größere Übel sei: die ausufernde Geldmenge oder das Heraufsetzen der Zinsen?

Nach dem Machtantritt Khomeinis 1979 hatte die Armut infolge der revolutionären Kämpfe und Bewegungen tatsächlich abgenommen. Höhere Löhne, die Wiedereinstellung von Arbeitslosen durch Arbeiterräte, das Besetzen von leerstehenden Wohnungen, das Aneignen von Boden zum Wohnungsbau und von Ackerland durch Bauern führten zu einer deutlichen Verbesserung des Lebensstandards. Aber nach dem Erstarken der islamischen Staatsmacht und besonders nach dem Iran-Irak-Krieg und der Liberalisierung der Wirtschaft durch Rafsandjani stieg die Armut wieder an.

Dagegen richtete sich die Umverteilungspropaganda Ahmadinedjads, der Mitte 2006 z.B. versprach: »Wir [werden] in drei bis vier Jahren keine Beschäftigungsprobleme mehr haben.« Das sollte durch ein Paket »schnell wirkender Projekte« erreicht werden, wie z.B. Kredite an Kleinunternehmer und Zuschüsse bei der Gründung von Ich-AGs. Außerdem wurden verbilligte Kredite an Rentner, Landwirte, Studenten, frisch verheiratete Paare und Wohnungseigentümer vergeben. Die ökonomischen Voraussetzungen schienen gut, denn in den vier Jahren seiner Regierungszeit stiegen die Öleinnahmen auf 266 Milliarden US Dollar, das war etwa soviel wie in den 16 Jahren davor (eigene Berechnung nach OPEC-Zahlen).

Damit konnte das Regime auf die damalige Verschärfung der politischen Isolation und den Beginn wirtschaftlicher Sanktionen mit der Ausweitung der staatlichen Wirtschaftspolitik reagieren. Aber laut einer parlamentarischen Untersuchung schufen nur 38 Prozent der für »schnell wirkende Projekte« ausgegebenen 19 Mrd. Dollar tatsächlich neue Arbeitsplätze, der Rest floss in andere Kanäle, vor allem in Immobilienspekulation. Durch die sehr hohe Inflation verarmten diejenigen Schichten noch weiter, die von solchen staatlichen Zuwendungen ausgeschlossen waren. Die Immobilienblase platzte im Frühjahr 2008, als die Regierung dem gesamten Bankensystem die Vergabe neuer Immobilienkredite untersagte. Die Folge war ein drastischer Rückgang der Wohnungsnachfrage. Dadurch saßen nun aber nicht nur Immobilienhändler, sondern auch öffentliche Institutionen und der Staat auf einem Haufen fauler Kredite. Die Banken wiederum haben 27 Mrd. Dollar Kredite ausstehen, die sie nicht zurückbekommen werden, und begleichen ihre Schulden bei der Zentralbank nicht mehr. Die Außenstände der Zentralbank und damit des Staats wuchsen von September 2007 bis September 2008 um 106 Prozent. Das führte dazu, dass der Staat seine Lieferanten und viele Beschäftigte nicht mehr oder verspätet ausbezahlt hat. Zum anderen haben die Banken ihre Kreditvergabe an die Wirtschaft stark zurückgefahren. Diese Kreditklemme drückt die Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern und verschärft die Krise.

Die Zahl der Armen ist unter Ahmadinedjad sogar nach den Statistiken seiner eigenen Zentralbank gestiegen – und zwar bereits in den ersten zwei Jahren seiner Regierung von 18 auf 19 Prozent (14 Millionen), auf dem Land prozentual stärker als in der Stadt, Jugendliche waren mehr betroffen als andere Altersgruppen. Man kann davon ausgehen, dass heute mehr als 15 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, z.B. Frauen ohne Männer, Arbeitslose in den Städten…

Auch an einer zweiten, wichtigen Front, der Reform der Subventionen und der Staatsausgaben, war die Regierung Ahmadinedjad gescheitert. Der Iran importiert knapp 40 Prozent seines Kraftstoffs zu Weltmarktpreisen. Es mangelt an Aufbereitungs- und Raffineriekapazitäten sowie an Pipelines. Seit Jahren sollen die Subventionen für Erdölprodukte, Strom und Wasser gestrichen werden. Im Juni 2007 hatte aber der Versuch, das subventionierte Benzin auf monatlich 100 Liter pro PKW zu rationieren und gleichzeitig von acht auf zehn US-Cent pro Liter zu verteuern (der Iran zahlt 40 US-Cent für den Liter Importbenzin), zur sogenannten »Benzinrevolte«3 geführt.

Der Haushalt für 2009 sah vor, die Preise für Benzin, Diesel, Gas und Strom nicht mehr zu subventionieren, stattdessen aber einen Teil dieser Gelder (etwa 20 Milliarden Dollar) direkt an Haushalte mit niedrigem Einkommen – und an die von dem Preisanstieg betroffenen Unternehmen! – zu verteilen und 8,5 Milliarden Dollar für den »Aufbau der Wirtschaft« abzuzweigen. Das wurde aber nach heftigen Debatten im Parlament kurz vor den Wahlen gestoppt, weil die Regierung fürchtete, dass eine weitere Steigerung der Inflation zu noch mehr Unruhe in breiten Teilen der Gesellschaft – besonders unter der Jugend – führen würde.

Das Ahmadinedjad-Regime war also auf den wichtigsten Feldern der Wirtschafts- und Sozialpolitik gescheitert und hatte sich entgegen seiner Propaganda sogar zur Annäherung an die USA gezwungen gesehen (z.B. zur logistischen Unterstützung beim Krieg in Afghanistan), um in der Krise eine Lockerung des Wirtschaftsembargos zu erreichen. Trotzdem galt seine Wiederwahl als sicher, und die Dynamik der Ereignisse im Wahlkampf kam für viele überraschend. Das hat vor allem zwei Gründe – der eine spielt vor Wahlen im Iran (wie anderswo) immer eine Rolle – Geld verteilen: so gab es eine deutliche Rentenerhöhung, die Festanstellung von 2000 Automobilarbeitern, die Dividenden der sog. »Gerechtigkeitsaktien«, ca. 80 Dollar wurden verteilt… Der zweite Faktor spielt bei Ahmadinedjad eine besondere Rolle – er ist besonders im Machtsystem verankert, also bei den Pasdaran und Basidji. In Fabriken, Verwaltungen, Stadtvierteln, Dörfern usw. sollen 36 000 Basidj-Stützpunkte (Payghah) stationiert sein. 2008 wurde deren Budget um 200 Prozent erhöht. Und über diese Strukturen können die Wahlen zum Teil »direkt kontrolliert« werden.

Probleme beim Schließen eines Repressionsvakuums

Mitten in der Wirtschaftskrise sollten die Wahlen das Regime neu legitimieren. Ahmadinedjad präsentierte sich in seinem Wahlkampf als Vertreter der Armen gegen die reiche Elite, und die Sicherheitsorgane ließen Versammlungen von Jugendlichen erstmal laufen. Es gab sogar Fernsehduelle. Aber ab Anfang Juni liefen diese verbal aus dem Ruder, und die Versammlungen auf den Straßen wuchsen zu gewaltigen Protestdemonstrationen an. Es wurde klar, dass es zu einer Protestwahl kommen würde. Die Leute nutzten die Wahlmobilisierung bzw. die entstehenden öffentlichen Räume zunehmend für ihre eigenen Anliegen. Auch solche, die gar nicht zur Wahl gehen würden, und die ärmeren Schichten kamen dazu. Es wurde öffentlich diskutiert, Parolen gerufen, die Anhänger der Kandidaten beschimpften sich gegenseitig. Aber als jemand aus der Menge rief: »Leute lasst uns vernünftig diskutieren, wir haben nur diese zwei Wochen zu Verfügung«, bekam er von beiden Seiten Applaus, diese Einschätzung teilten offensichtlich alle. Es gab ein temporäres Repressionsvakuum, das nach der Wahl – egal wer gewinnt – wieder geschlossen würde.

Aber dann erreichten die Proteste eine solche Massenhaftigkeit, dass sie nach der Wahl nicht so ohne weiteres wieder gestoppt werden konnten. Sie richteten sich zunehmend gegen soziale und ökonomische Missstände wie die Inflation, und letztlich gegen das ganze System.

Ermutigt durch den Wiederanstieg der Ölpreise und die Annäherung an die USA ging das Regime sehr hart gegen die Demos vor. Damit konnten sie aber weder deren Dynamik brechen, noch die sichtbar gewordenen Risse im Regime selber kitten – im Gegenteil! Selbst nach Chameneis offenen Drohungen im Freitagsgebet (»Die Wahl wurde an den Urnen und wird nicht auf der Straße entschieden«, ab jetzt gehe es härter zur Sache!) verstärkten und radikalisierten sich die Proteste ein weiteres Mal. Die Zusammensetzung der Protestierenden änderte sich – und viele begannen, die Ereignisse mit der Revolution 1979 zu vergleichen. Das ist berechtigt in bezug auf den diktatorischen Charakter des Regimes und auf die langgezogene Regierungskrise im Zusammenhang mit einer schweren ökonomischen Krise. Aber die iranische Gesellschaft hat sich seit 1979 stark verändert: Teheran ist von 5 auf 12 Millionen Menschen angewachsen; die Mittelschicht ist nicht mehr von traditionellen Basaris, sondern von modernen Berufen (Ladenbesitzer, Rechtsanwälte, Professoren…) geprägt; die Zahl der ArbeiterInnen hat in den letzten zehn Jahren stark zugenommen.

Die aktuelle Bewegung unterscheidet sich in vielen Punkten von der Bewegung Ende der 70er Jahre: Frauen spielen eine viel aktivere Rolle; die nächtlichen Allahu akhbar-Rufe sind nicht immer Ausdruck religiöser Hoffnungen, sondern sollen das Regime provozieren – und es gibt eine ganze Reihe weiterer Rufe wie z.B. »Nieder mit dem Diktator«. Zwar tauchten im Verlauf der Bewegung immer mehr FabrikarbeiterInnen und Angestellte auf den Demos und bei den Straßenschlachten auf, aber abends nach der Arbeit. Es schien für die ArbeiterInnen schwer vorstellbar, mit breiten Streiks dem Regime den Rest zu geben. Lediglich die Busfahrergewerkschaft, die vorher die Wahlen boykottiert hatte, verurteilte in einer Erklärung jegliche Unterdrückung.

Zum Charakter der Bewegung

Die iranische Exillinke ist heillos zerstritten in der Einschätzung der Bewegung; in der Debatte herrschen zwei Positionen vor, die jeweils einen Teil fürs Ganze nehmen. Die einen sehen eine reaktionäre Bewegung der höher gestellten Schichten gegen die Unterklassen. Manche »antiimperialistisch« eingestellte Menschen gingen dabei so weit, die Position von Hugo Chavez zu übernehmen und die Bewegung als »grüne Welle« im Sinne der »farbigen Revolutionen« zu denunzieren. Dabei war dem Mussawilager das Grün von der staatlichen Wahlkommission zugelost worden. Die Proteste waren nicht vom Ausland ausgelöst, und auf den Straßen waren nicht nur Anhänger von Mussawi.

Der andere Pol sieht eine unmittelbar revolutionäre Bewegung, das ist aber mehr Wunschdenken als Realität. Zwar trugen die vier sozialen Gruppen, die am stärksten von der Krise betroffen sind – Arbeiter, Jugendliche, Frauen und Studierende – auch die Dynamik der Proteste. Sie thematisierten aber (noch?) nicht die eigene soziale Situation. Noch überwog die Repression. Die Fabriken liegen außerhalb der Städte, während der Arbeit stehen die Arbeiter unter Kontrolle des Wachschutzes. Wer sich vom Arbeitsplatz weg an Demos beteiligt, muss am nächsten Tag mit der Kündigung rechnen. Für die 148 Freigelassenen der am 1. Mai verhafteten 150 Aktivisten war es ebenfalls zu gefährlich, sich bei Demonstrationen sehen zu lassen. Und politische Gruppen können nicht offen auftreten – das wäre zu gefährlich.

Dennoch konnten wir im Sommer sehr unterschiedliche Arten, auf die Straße zu gehen, beobachten. Nach Chameneis Drohung beim Freitagsgebet z.B. rief Mussawi seine Anhänger zur Ruhe auf. Trotzdem kam es am folgenden Tag zu den schwersten Massenprotesten seit der iranischen Revolution. Die DemonstrantInnen lieferten sich Straßenschlachten mit Sonderkommandos der Polizei, den Pasdaran (»Revolutionsgarden«) und den Basidji-Milizen, Banken wurden demoliert. An diesem Tag wurden mehr als zehn Menschen getötet. Ein Arbeiteraktivist hat beobachtet, dass Betriebsbusse nicht zurück in die Wohnviertel fuhren, sondern in die Stadt zur Demo.

Jugend

Unter der Regierung Mussawi – und mit Chameneie als Präsident – wurden 1988 auf direkten Befehl Khomeinis in drei Monaten etwa 5000, bereits zu Haftstrafen verurteilte, politische Gefangene hingerichtet (4486 davon sind heute namentlich bekannt). Als der damalige stellvertretende Außenminister Laridschani bei seinem Bonn-Besuch auf einer Pressekonferenz auf die Massenhinrichtungen angesprochen wurde, verglich er zynisch die hohe Geburtenrate im Iran mit den paar tausend Toten: »Wir haben jedes Jahr zwei Millionen neue Menschen.«4 Die Tausende sind nicht mehr da, aber die Millionen Jugendliche, die heute ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, sind auf den Straßen – und zur Zeitbombe für das Regime geworden.

In den letzten 30 Jahren hat sich die Bevölkerung von etwa 37 auf 73 Millionen fast verdoppelt. Heute gibt es 14 Millionen SchülerInnen (1979 waren es fünf), jährlich drängen etwa 700 000 Jugendliche auf den Arbeitsmarkt – mit schlechten Aussichten: Im Frühjahr 2009 betrug die offizielle Arbeitslosigkeit 11,2 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit 17,8, die Arbeitslosigkeit unter jungen Frauen 29, die unter städtischen Jugendlichen insgesamt 23,7 Prozent. Viele müssen mit zwei oder drei Jobs ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Nach offiziellen Zahlen der UNO konsumieren 2,8 Prozent der iranischen Bevölkerung Opiate. Das ist die höchste Rate an Drogenabhängigen weltweit und in absoluten Zahlen zehnmal mehr als in England – bei ungefähr gleicher Bevölkerungszahl. Der Drogenkonsum ist aber nicht auf Jugendliche beschränkt. Laut einer Untersuchung greifen auf einem der größten Gasfelder der Welt von 60 000 Arbeitern 20 000 zu Drogen. 2002 musste der Staat seine Strategie beim Umgang mit Drogenabhängigen ändern, in einer Fatwa wurden Methadon-Programme für zulässig erklärt.

In den Protesten findet sich eine Jugend, die die Schnauze voll hat – seien es StudentInnen, die als arbeitslose Akademiker keine Perspektive sehen, oder ProletarierInnen, deren Arbeits- und Lebensbedingungen sich sowohl unter »Reformern« wie unter »Konservativen« immer weiter verschlechterten. Sie haben keine Perspektive und gestehen dem System keine Legitimität zu: Sie misstrauen Institutionen auf allen Ebenen und lehnen den Einfluss der religiösen Autoritäten auf die Gesellschaft ab.5

ArbeiterInnen

Der Anteil der ArbeiterInnen an der Bevölkerung ist seit 1979 konstant geblieben, ihre Zahl hat sich also in 30 Jahren verdoppelt; heute arbeitet etwa eine Million Industriearbeiter in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten. Diese lassen sich grob in drei Bereiche einteilen: Textil und Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte; Ölindustrie; neue Industrien, vor allem Auto. Die Bedeutung des ersten, traditionellen Bereichs geht zurück. Die Ölarbeiter waren mit ihrem Streik in der Revolution von 1979 entscheidend. Ihre Zahl ist seither in etwa gleich geblieben, aber die Struktur der Ölindustrie wurde durch Teilprivatisierungen und Ausgliederungen stark verändert. Damit wurde die Organisationsfähigkeit der Ölarbeiter unterhöhlt. Zuvor waren sie eine kompakte Einheit gewesen, die ihre (siebzigjährigen) Erfahrungen an neue Arbeiter weitergaben. Die Facharbeiter kamen alle aus der ältesten Raffinerie in Abadan in die neuen Raffinerien. Sie schufen Verbindungen zwischen allen Raffinerien, über die sich z.B. der Streik 1978/79 ausbreitete. Im Iran-Irak-Krieg wurde die Raffinerie in Abadan zerstört, viele Arbeiter wurden zu Kriegsflüchtlingen, die politisch Aktiven gingen oft ins Ausland. Die übrigen sind mittlerweile (früh-) verrentet.

Die Elektro-/Hausgeräteindustrie gewinnt an Bedeutung. Zentral ist aber inzwischen die Autoindustrie mit 118 000 Beschäftigten, was in etwa eine Vervierfachung gegenüber 1979 bedeutet. Auch hier liegt die größte Dynamik in den letzten zehn Jahren: 1996 wurden z.B. im Iran 203 000 PKWs produziert, 2006 bereits 917 000; 2008 1,2 Millionen. Damit steht Iran an 16. Stelle in der Welt. Am größten Autoproduzenten im Nahen Osten, Iran Khodro, ist der Staat mit 40 Prozent beteiligt. (Der weitaus größte Konkurrent ist Saipa mit 35 Prozent Marktanteil im Iran.) Iran Khodro ist berüchtigt für Arbeitshetze, lange Arbeitszeiten und seinen mächtigen Werkschutz. Ein großer Teil der Arbeiter sind Zeitarbeiter. Auch Iran Khodro ist von der Krise getroffen und machte im letzten Geschäftsjahr 120 Millionen Dollar Verlust. Schon vor der Krise musste der Verkauf von Autos mit der Vergabe von Krediten großzügig subventioniert werden.

Am 2. Mai 2009 gab es bei Iran Khodro einen Streik: Die Arbeiter hatten 2006 einen Rekordbonus von 1000 Dollar erhalten, der 2007 und 2008 auf 300 Dollar gekürzt worden war, 2009 sollte er gar nicht ausgezahlt werden. Nach Protesten der Arbeiter wurden 150 Dollar ausgezahlt. Erst nach dem kurzen Streik stockte der Konzern den Bonus wieder auf 300 Dollar auf.

Ein Ausblick?

Seit dem Sommer hat sich die ökonomische Krise weiter verschärft. Nachdem zunächst die Baubranche um 60 Prozent abgestürzt war, hat die Krise inzwischen andere Branchen erfasst. 600 Fabriken sind von Insolvenz bedroht. Die Arbeitsbeschaffungsprojekte von Ahmadinedjad sind gescheitert.

In der Wildcat hatten wir in den letzten Jahren mehrfach Berichte über Arbeiterproteste im Iran. Trotz Organisationsverbot und Repression gibt es immer wieder Streiks und Arbeiteraktionen. Der Kampf der Lehrer und vor allem der Busfahrer war ein qualitativer Schritt. 2008 kam es zum Aufstand in der Zuckerfabrik Hafttappeh. Wenn von Zuckerbrot und Peitsche nur die Peitsche bleibt, wenn die täglich stattfindenden Proteste der ArbeiterInnen immer wieder unterdrückt werden, wie vor einigen Wochen der fünftägige Streik bei Wagon Pars 6, dem ehemals größten Hersteller von Eisenbahnwaggons im Nahen Osten, dann stehen uns viel stärkere Arbeiterunruhen bevor.

Obwohl die Proteste mit schwerster Repression unterdrückt und die Ereignisse zu einem Machtkampf zwischen zwei Flügeln der Herrschenden umgedeutet wurden, fragen sich Kenner der iranischen Ökonomie inzwischen, ob nicht »nach der grünen Welle, eine Welle von Blue Collars unterwegs ist« – und zwar eine viel härtere.






Fußnoten:

[1] Der Iran steht an vierter Stelle der weltweiten Erdölförderung und hat mit 10-11 Prozent aller bekannten Vorkommen die drittgrößten Erdölreserven weltweit. Das Land fördert etwa 4 Mio. Barrel Erdöl, davon entfallen 1,42 Mio. auf den Eigenbedarf (eine Verdreifachung seit 1980), der Rest wird exportiert. Aufgrund unzureichender Raffineriekapazitäten muss das Land ca. 170 000 Barrel Benzin am Tag importieren, was die Regierung im Jahre 2006 mehr als 4 Milliarden US-Dollar gekostet hat. Durch die Subventionierung der Benzinpreise entstehen dem Staat insgesamt Kosten in Höhe von 12 Prozent des BIP.
Der Iran steht außerdem weltweit an siebter Stelle bei der Erdgasförderung und an zweiter Stelle bei den Erdgasreserven, importiert zur Zeit aber noch mehr Gas als er exportiert.

[2] »Ölwahlen« - Karrubi, einer der Präsidentschaftskandidaten, propagierte in seinem Wahlprogramm, die Aktien der inländischen Öl- und Gas-Unternehmen an alle IranerInnen zu verteilen; damit werde das Monopol und die Rentier-Macht des Staates zur Macht des Volkes.

[3] Bilder von der Benzinrevolte: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/story/2007/06/070627_ag-petrol-rationing-pics.shtml

[4] Siehe: http://www.youtube.com/watch?gl=US&hl=de&v=L3r_0s5I9V8

[5] Zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Jugendlichen kam auch eine Studie, die etwa 2000 junge Leute zwischen 14 und 29 Jahren in zehn iranischen Großstädten befragte: »Aufruhr aus Frust«; siehe http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1806319_Jugendstudie-Iran-exklusiv-Aufruhr-aus-Frust.html

[6] Wagon Pars mit ehemals 1700 Beschäftigten ist im Laufe seiner Privatisierung in Finanznöte geraten. Nachdem die nicht festangestellten Abeiter entlassen worden waren, wollte das Unternehmen die Restbelegschaft mit schlechten Bedingungen in Frührente schicken und zahlte seit Monaten keine Löhne mehr. Aus Protest schlugen die Arbeiter die Fenster ein und zerstörten die Firmenkantine. Am 25. August begannen sie eine Sitzblockade vor dem Fabriktor.
Wegen der Brisanz der Lage (zwei benachbarte wichtige Fabriken stehen ebenfalls vor der Insolvenz) wurden Pasdaran und Antiaufstandseinheiten der Polizei in der Nähe von Wagon Pars postiert, um einen Marsch der Arbeiter in die Stadt zu verhindern. Nach fünf Tagen wurde der Streik mit der Teilauszahlung der ausstehenden Löhne und Repressalien des Werkschutzes und Propaganda des Basidji-Stützpunkts in der Fabrik beendet.



aus: Wildcat 85, Herbst 2009



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