Wildcat Nr. 88, Winter 2010 [commons_stuttgarter_momente]



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Stuttgarter Momente

Viele glaubten, Stuttgart21 würde nie verwirklicht – so lange lagen die Pläne schon in diversen Schubladen. In der Oberbürgermeisterwahl 2004 zog der Grünen-Kandidat Palmer in der Stichwahl zurück – angeblich weil der ob Schuster ihm zugesagt hatte, Stuttgart21 zur Abstimmung zu stellen. Nach seiner Wahl bezeichnete Schuster ein Bürgerbegehren als rechtlich unzulässig. Als es wieder ernst zu werden drohte mit dem Bau, sammelte vor drei Jahren eine Bürgerinitiative innerhalb von wenigen Wochen knapp 60 000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren – 20 000 hätten ausgereicht. Der Antrag wurde vom Gemeinderat wieder als unzulässig abgeschmettert. Die dort sitzenden Grünen fuhren inzwischen die Linie, »wenigstens mitzugestalten »was nicht mehr verhinderbar sei.
Als nach viel Kleinarbeit von Initiativen und der Minifraktion sös im Gemeinderat dann die »Montagsdemos« massiv anwuchsen, setzte die Landesregierung mit dem Abriss des Nordflügels des Bahnhofgebäudes kurz vor den Sommerferien einen Paukenschlag. Damit schufen sie ein Protest-Denkmal, und nun schossen die Teilnehmerzahlen erst recht in die Höhe. In der erstmöglichen Minute, um Mitternacht am 1. Oktober (Vogelschutz!) ließ die Bahn Bäume im Schlossgarten fällen. Die bundesweit ausgestrahlten Prügelorgien der Polizei am Vormittag zuvor mit schwer verletzten SchülerInnen und Rentnern brachten die Wut der Leute in Stuttgart und Umgebung so richtig zum Kochen: die Zahl der DemoteilnehmerInnen erreichte Rekord-Höhen von 100 000 – bei drei Demos die Woche! Die Kundgebungen wurden zu Volksfesten, auch Leute, die nie Bahn fahren oder denen der Bonatz-Bau ziemlich egal ist, mischten sich nun unter die Protestierenden…

In den letzten Monaten ist schon einiges über die Protestbewegung gegen Stuttgart21 geschrieben worden. In der Regel wird sie zusammen mit den Mobilisierungen gegen den Castor oder der Initiative gegen die Schulreform in Hamburg unter das Label »Bürgerproteste« gepackt. Es herrscht aber weitestgehend Uneinigkeit, was das nun heißt. Negrianer sehen die Proteste als »Projektbewegungen«: die Multitude findet sich für ein klar bestimmtes Ziel zusammen und geht nach dessen Durchsetzung wieder auseinander. Die Konservativen etwa in der Welt sehen nur konservative Bewegungen am Werk, die wollen, dass »alles so bleibt, wie es ist«. Manche Linken z.B. auf telepolis halten die Proteste gar für reaktionär und verrühren sie zusammen mit den teabaggers in den USA und den Protesten gegen die Rentenreform in Frankreich zu einer ungenießbaren Soße.
Wir wollen stattdessen die Stuttgarter Proteste in fünf »Momenten« beschreiben, wie sie ein Besucher von außerhalb wahrnimmt.




Demo der Gewerkschafter gegen S21

Schon auf dem Weg zur Kundgebung merkt man, dass sich Stuttgart an der Frage »Wie stehst du zum Bahnhof?« spaltet. Die einen kommen dir mit »I love S21« am Revers entgegen, bei den anderen steht »Parkschützer« auf dem Button. Anscheinend ist es unmöglich, sich nicht zu positionieren. Weil sich die ihk Stuttgart für S21 ausspricht, hat sich die Gruppe Unternehmer gegen S21 gegründet. In der ig Metall fetzt es intern wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr. Der Vorstand war schon immer für S21 und hat vor kurzem vergeblich versucht, eine Abstimmung dazu auf der Delegiertenkonferenz zu verhindern. Er unterlag knapp.
dgb und ig Metall hatten sich im Juni aus den Krisenprotesten von ver.di rausgehalten und mit der Ankündigung eines eigenen Aktionstags am 14. November demobilisiert. Die geplante Demo wurde aus Angst vor einer Übernahme durch die S21-Protestbewegung zur Kundgebung auf dem Schlossplatz umgewidmet. Als ich ankomme, sind etwa 50 000 Menschen da. Im Vorfeld hatten die Linksgewerkschafter dazu aufgerufen, im Anschluss zu einer Kundgebung gegen Stuttgart21 in den Schlosspark zu ziehen. Wir setzen uns mit etwa 10 000 Menschen in Bewegung. Gewerkschaftsfahnen, -mützen, und -westen sind weiterhin sichtbar, aber im Schlosspark versammelt sich dann eher ein Querschnitt der (deutschstämmigen) Stuttgarter Bevölkerung. Und vor allem ist die Stimmung viel besser! Eine Band spielt, und zwei eher langweilige Auftaktreden werden trotzdem mit Sprechchören angefeuert: »Lügenpack« und »oben bleiben«. Man fühlt sich im Aufwind: »Bei der Schlichtung haben wir gepunktet!«

Montagsdemo

Am 26. Oktober 2009 fand die erste Montagsdemo statt; nach und nach sind diese zum Rückgrat des Protests geworden. Die 52. am 15.11. ist materialmäßig gut ausgestattet, mit großem Soundsystem und Beamern, die Parolen auf den Bahnhof werfen. Es sind wohl 5000 Menschen da, trotz strömendem Regen ist die Stimmung gut, es wird geklatscht und gepfiffen, eigentlich egal, was von der Bühne gesagt wird. Dass es – selbst jetzt noch! - immer wieder neue Argumente gegen S21 gibt, stärkt die Motivation. Als ein Redner der Unternehmer gegen S21, ein »Kreativitätscoach«, eine rhetorisch gute und witzige Rede hält, tobt die Menge, es wird schallend gelacht und »genau so ist's!« gerufen.

Parkbesetzungen

Neben Kundgebungen und Demos ist die Schlossparkbesetzung eine weitere Form des Protestes. Die Aktivistinnen von Robin Wood schlafen auf den Bäumen, die Camper in Zelten am Boden. Sie hatten in der letzten Zeit einige Probleme, das schlechte Wetter hat Zelte zerstört, die Polizei geht morgens um 4 Uhr durch den Park, filmt und legt Lagekarten an. Vor allem aber die Presse, sie hetzt gegen die »Verwahrlosung des Parks«. Sogar der Sprecher der Parkschützer hat sich gegenüber den Medien von »Obdachlosen« unter den BesetzerInnen distanziert. Aber die Solidarität lässt sie durchhalten: Täglich gibt es Sach- und Lebensmittelspenden, kommen Omas und helfen beim Abwaschen oder Kochen.
Weil viele zum Castor gefahren sind, war die Zahl der Übernachtenden stark zurückgegangen, aber nun sind es wieder 60 Leute, eine Mischung aus Politaktivisten, Punks und Normalos. Ich spreche mit einem lkw- Fahrer, der von seinem letzten Gehalt zehrt; viele würden aber jeden Tag arbeiten gehen.
Inzwischen haben die Parkschützer ein »Kopf hoch Team« aufgestellt, das den Besetzerinnen bei der Versorgung helfen will. Denn man müsse mit »jeder Art des gewaltfreien Protests« solidarisch sein, auch wenn einem selber »die Formen und Aktiven fremd« seien.

An der Parkbesetzung spitzen sich Fragen nach der Tragweite und Stabilität des Protests zu: welche Aktionsformen sind möglich? Gelingt es der Bewegung wirklich, die unterschiedlichen Beteiligten, von Unternehmern, über Arbeiter bis zu Menschen auf Hartz IV zu verbinden?

Jugendoffensive gegen S21

Der kleine Raum im Forum 3 ist gut gefüllt, aber nicht überfüllt. Die etwa 40 Leute, die sich zum Orgaplenum der Jugendoffensive treffen, sind meist zwischen 16 und 20 Jahre alt. Der aus Berlin abgestellte sav-Kader ist mit 25 einer der Ältesten. Hinten im Raum sitzt noch eine Handvoll deutlich älterer Menschen und hört zu.
Der Widerstand der SchülerInnen und die Reaktion der Bullen darauf haben aus den Großdemos in Stuttgart Massendemos gemacht. Die Bilder von der Polizeigewalt haben die öffentliche Meinung stark beinflusst und u.a. zur Schlichtung geführt. Dass die SchülerInnen eine wichtige Rolle spielen merkt man am Selbstvertrauen, mit dem sie ihre Dinge regeln. Neben Berichten zum aktuellen Stand der Schlichtung und zum Verlauf der Proteste der letzten Woche wird auch der Sturm der Studies in London auf die Parteizentrale der Tories besprochen und ein Solidaritätsschreiben verfasst. Dann wird die Demo am nächsten Samstag vorbereitet und am Ende über den Versuch diskutiert, Schulgruppen aufzubauen.
Es gibt auch Probleme. Das Aktionsbündnis hatte sie gebeten, auf ihren eigenen Lautsprecherwagen zu verzichten, ihre Musik und ihre Reden seien abschreckend für potentielle Demoteilnehmer. Zu diesem Verzicht sind sie nicht bereit, denn auf dem »offiziellen« Wagen dürfen sie nur sehr selten reden und müssen vorher das Redemanuskript einreichen. Die anderen Gruppen sollten doch froh sein, dass sie mitmachen! Als einzige bringen sie »soziale und Bildungsthemen« ein und sprechen junge Leute an. Unzufrieden sind sie auch, weil nun sogar die Parkschützer wegen der von der Stuttgarter Zeitung behaupteten Friedenspflicht auf die Demo übernächste Woche verzichten wollen. Und weil mehr »Profs und Architekten« auf den Kundgebungen reden als Aktivisten des Protests. spd und Grüne bekämen zuviel Raum. Diese Probleme liegen ihrer Ansicht nach unter anderem daran, dass es bei den organisierten Leuten mehr Unternehmer als Gewerkschafter gebe, obwohl im Protest »doch viel mehr Arbeitnehmer als Unternehmer« aktiv seien.

Die Schlichtung

»die schlichtung ist für heute beendet. ich selber allerdings habe damit bereits am 30.09. im stuttgarter schlossgarten aufgehört.« (so ein Tweet)


Seit dem 22. Oktober finden nun Schlichtungsgespräche unter Vorsitz des Ex-cdu-Generalsekretärs und Attac-Mitglieds Heiner Geißler statt. Auf Seiten der Gegner werden die Parteien gestärkt: am Tisch sitzen der Ex-spd-MdB Peter Conradi, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag Kretschmann, der Fraktionschef der Grünen im Gemeinderat Wölfle, Gemeinderat der sös Rockenbauch, die bund-Vorsitzende usw. Die Grünen sehen sich schon als Gewinner der Landtagswahl. Angesichts dieser Aussichten sind die »Parkschützer« gleich von Beginn an aus den Schlichtungsgesprächen ausgestiegen und setzen ihre Aktionen ohne Rücksicht auf die »Friedenspflicht« fort.
Die Schlichtungsgespräche werden live in Fernsehen und Internet übertragen – so was hat es noch nie gegeben. Die Tische sind im Halbkreis angeordnet, in mehreren Reihen sitzen sich die Kontrahenten gegenüber, in der Mitte der 80jährige Geißler. Es ist der vierte Schlichtungstag, das Gegenkonzept K21 wird vorgestellt. Die Vertreter von K21 gefallen sich in der Rolle von Machern und Experten. Tatsächlich wirkt das Konzept durchdacht und kompletter als das Konzept von S21. Die »Gegenseite« tut sich sichtlich schwer, Einwände zu finden und kommt deswegen immer wieder auf den Punkt zurück, dass die Gerichte S21 für legal beschlossen und damit bindend erklärt hätten. Aber gerade weil es eine »Sachschlichtung« ist, konzentriert sich die ganze Aufmerksamkeit auf technische Fakten – Fragen, die nicht den Umbau betreffen, dürfen nicht angesprochen werden. Auch die S21-Gegner argumentieren mit der »Wirtschaftlichkeit« ihres K21-Projekts.

Für den Staat könnte die Schlichtung ein Mittel sein, um S21 institutionsschonend aufzugeben, also ohne dass durch den Rücktritt einer ganzen Regierung eine Lücke entsteht. Oder ein Mittel, um S21 durchzusetzen, indem man dem Protest weismacht, er sei in einem demokratischen Verfahren unterlegen.
Nun wird scheinbar rational über Unmut und Wut verhandelt… Andererseits haben »gute Argumente« bisher viel zur Mobilisierung beigetragen… Oder verhindert die Einengung auf »Sachfragen«, dass die Bewegung wächst, indem sie die Verwendung öffentlicher Gelder auch sozial thematisiert? Entlegitimieren die Bilder der arroganten Vertreter von S21 andere Bereiche staatlicher Entscheidungsfindung gleich mit? Erschüttert die gemeinsame Leistung der S21-GegnerInnen, argumentativ und konzeptionell dagegenhalten zu können, auch die Ehrfurcht vor Experten in anderen Konflikten? Merken die Leute nun endlich bundesweit, wie rechts die baden-württembergischen Grünen schon lange sind?

In zwei Jahren Krise hat sich in Stuttgart einiges an Wut zusammengebraut: massenhafte Kurzarbeit, Betriebsschließungen und harte Sparpolitik. Die Breite des Protests lässt ahnen, dass sich in ihm auch diese Erschütterungen ausdrücken, weil in jedem Hinterkopf die Frage nach der Funktionsfähigkeit des ganzen Systems arbeitet. Auch wenn auf den Rednerbühnen eine eher den Grünen und der Linkspartei zuneigende Mittelschicht das Sagen hat, mischen sich im Protest viele Komponenten: »nicht mit unserem Geld!«; Protest gegen den klaren Vorrang für Auto- und Flugverkehr, der ungebrochen auch von der spd und der ig Metall-Führung unterstützt wird; SchülerInnen gegen die städtische Sparpolitik, baufällige Schulen, erhöhten Leistungsstress usw.; Ärger vieler Berufspendler über das täglich verstopfte und teure S-Bahn-System…





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