Wildcat Nr. 89, Frühjahr 2011 [Theologie versus Teleologie?]



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Theologie versus Teleologie?

Moral, Diskurse und Staatsbezug in der Global Labor History



Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran!
Fehlfarben

»Um die Zeit der Veröffentlichung von Marx’ Gespenster saß ich bei Diedrich Diederichsen in einem Seminar der Münchener Akademie der Künste, in dem ein Interview mit Jacques Derrida gelesen wurde, worin der französische Meisterdenker die Sozialkategorie »Klasse« als ontotheoteleologischen Begriff bezeichnet hatte, worauf ich mich bemüßigt fand, zu fragen, was denn daran ontotheoteleologisch sei. Daraufhin antwortete mir der Seminarleiter sinngemäß: Die Klassengesellschaft gibt es nicht mehr, das hat die Existenz von Managern mittlerweile hinlänglich bewiesen. Da war ich sprachlos.«
(Reinhard Jellen, 12.3.2011 auf telepolis)


Das historische »Ende des Liberalismus« ( Wildcat 88) und seiner Orientierung auf den Staat hat auch die nichtorthodoxe, marxistische Geschichtswissenschaft nach neuen Konzepten suchen lassen; als Hauptströmungen bildeten sich zum einen die Weltsystemanalyse (mit ihren Hauptvertretern Wallerstein, Silver und Arrighi) und zum anderen die Global Labor History heraus.

Die Weltsystemanalyse bietet in Einzeluntersuchungen (etwa Forces of Labor von B. Silver) einen guten Kompass zum Verständnis langfristiger Entwicklungen. Ihr theoretischer Ansatz ist an vielen Punkten fraglich, sie fußt auf naturwissenschaftlichen Konzepten von Systemen und deren Ausgangsbedingungen (siehe z.B. Wallersteins Bezug auf den Chemiker Prigogine). Sie ist in dem Sinn »offen«, dass Geschichte nicht als linear ablaufender Prozess verstanden wird und die Gesellschaftsform nach dem finalen Systemcrash als nicht vorherbestimmt. Sie geht aber sehr wohl von einem »natürlichen« geschichtlichen Prozess aus, der in Zyklen von Systemlebensphasen verläuft. Systemwechsel werden von finalen Systemkrisen eingeleitet und finden in einer chaotischen Übergangszeit statt. Das ist eine deutlich andere Fragestellung als die nach »revolutionären Umwälzungen«! Dementsprechend gehen die »tagespolitischen« Äußerungen der Weltsystemanalyse-Vertreter oft in Richtung einer (staatlichen) Moderation der Übergangszeit. Wallerstein etwa beginnt sein Büchlein Utopistik mit einer pointierten Analyse der historischen Krise des Kapitalismus – plädiert aber am Ende nicht etwa für die Revolution, sondern fabuliert realpolitisch über neue moderierende (globale) staatliche Institutionen. Arrighi sieht in Adam Smith in Bejing China als neuen Hegemon, dessen originärer Entwicklungsweg einer »Fleißrevolution« der hoch gebildeten und produktiven Landbevölkerung, in Form einer »nicht kapitalistischen Marktwirtschaft« die globalpolitische Alternative zum Kapitalismus darstellen könne.

Marcel van der Linden als Schöpfer des Begriffs Global Labor History grenzt sich an vielen Punkten vom Weltsystemanalyse-Ansatz ab. Er kritisiert zum Beispiel, dass »Widerstands- und Überlebensstrategien von subalternen Gruppen und Klassen nie einen zentralen Platz in Wallersteins Weltsystem-Ansatz eingenommen haben« (Workers of the world, S. 298). Aber genauso wie Wallerstein leitet er die Mehrwertabschöpfung aus der Warenzirkulation ab und hält dessen Definition von »Proletariat« für eine der wenigen nutzbaren Erkenntnisse: Es sind all die, deren Arbeitsprodukt auf dem Markt gehandelt wird. Somit sei Lohnarbeit nur eine Kategorie verschiedener »Arten der Arbeitskraftkontrolle« (modes of labor control), neben verschiedenen Formen der unfreien Arbeit. Wenn man aber die kapitalistische Gesellschaft nur als Marktwirtschaft betrachtet und die Herausbildung einer spezifisch kapitalistischen Industrie ignoriert, die untrennbar mit der Lohnarbeit verbunden ist, entfällt der Klassenkampf als zentrales Merkmal des Kapitalismus. Er wird zur übergeschichtlichen Kategorie wie im Kommunistischen Manifest, oder wie bei Holloway zur »reinen Unruhe des Lebens«, oder eben zur »beschreibenden Soziologie« der Global Labor History.

Anfang der 60er Jahre war E.P. Thompsons Betonung der subjektiven Konstitution der Klasse ein ungeheuer wichtiger Durchbruch gegen das damals in der marxistischen Linken vorherrschende Verständnis von Klasse als ökonomisch und soziologisch ableitbarer Kategorie. Später wurde sein Ansatz aber einseitig auf Cultural Studies verengt und somit entpolitisiert. Der Rückgriff der Global Labor-Historiker auf Thompson, um die historischen Lebensweisen der Weltarbeiterklasse nachzuvollziehen und Alltagswidersetzlichkeit, Genossenschaften und Hilfsvereine sowie Lohnkämpfe, Konsumentenboykotte und »Migration« als Ausdruck ihrer jeweiligen »Subjektivität« zu fassen (Workers of the world, S. 173 ff.), hat den durchaus sympathischen Effekt, dass die vielfältigen Abhängigkeits- und Ausbeutungsstrukturen innerhalb der Klasse in die Analyse mit einbezogen werden. Da sie aber den historischen Zusammenhang zwischen Kämpfen, Entwicklung der Technologie und Kampfbedingungen für eine revolutionäre Umwälzung als »deterministisches« Teufelswerk ablehnen und nur den kulturalistischen Thompson sehen, bleiben ihre Einzelanalysen in beschreibender Soziologie stecken. 30 Jahre nach der Entpolitisierung Thompsons durch die einseitige Betonung der »moralischem Ökonomie der Unterklassen« wiederholen sie den selben Fehler auf globaler Ebene.

M. Rediker und der Thompson-Schüler P. Linebaugh schienen in den letzten Jahren einen Ausweg aus dieser soziologischen Sackgasse der Labor History anzubieten; ihre Vielköpfige Hydra hat unter Global Labor-Historikern deshalb für große Furore gesorgt. Denn ihre Erzählung von Widerstand über Zeit und Raum hinweg ist äußerst anregend. Aber ihre z.T. rein spekulative Argumentationsweise und ihre assoziative, nur über Diskurse hergestellte Verbindung des Handelns einzelner Gruppen kann keine realen Perspektiven für heute aufzeigen. Roth / van der Linden haben eine Ahnung von der Hilflosigkeit dieser großen Erzählung. Sie benutzen zwar selber die Linebaugh’sche Kategorie der »Akkumulation des Proletariats«, betonen aber andererseits, dass die »Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie« nicht so »konstruiert« werden dürfen, dass »sie sich in einer ausschließlich subjektivistischen Gegen-Automatik der Selbstbefreiung des globalen Multiversums… aufheben« (Über Marx hinaus, S.559). Damit landen sie in einem argumentativen Patt; wie kann man eine Kategorie verwenden, deren Herleitung man kritisiert?

Letztlich setzt die Global Labor History genauso wie die Weltsystemanalyse auf staatliche Moderatoren gesellschaftlicher Widersprüche – Linebaugh bezieht sich in seinem Magna Charta Manifesto direkt auf Hugo Chavez und Evo Morales: »Ökonomisch gesehen scheinen die commons eine unrealistische Forderung. Aber bei genauerem Hinsehen sind sie praktikabel. Die commoners der Welt müssen nur anfangen, konstitutionell zu denken. So, wie es in Venezuela, Bolivien und Mexiko bereits der Fall ist.« (Magna Carta Manifesto, S. 20)

Der gleiche Bruch zwischen unbedingter Betonung der »Subjektivität« und Hoffnung auf staatliche Institutionen findet sich auch in der äußerst interessanten Arbeit von Peter Birke, Wilde Streiks. Statt zu analysieren, warum sich eine Institutionalisierung des vom ihm herausgestellten »Eigensinns der Kämpfe« durchgesetzt hat, hält er nur das geschichtliche Ergebnis, die Stärkung der Gewerkschaft, fest. Damit versieht er diese Institution unhinterfragt noch mit den Weihen historischer Wissenschaft. Ganz ähnlich changiert K.H. Roth zwischen einer radikalen Geste des »alles und alle bilden das Multiversum!« und konkreten Vorschlägen für eine neue Währungsordnung und Weltregierung. Raquel Varela kritisiert in Who is the Working Class?, dass das »alle drin haben wollen« vergisst, dass »Klasse« bei Marx eine analytische wie auch eine politische (!) Kategorie ist.

K.H. Roth hat im Vorwort zu Über Marx hinaus klargestellt, worum der Streit geht: Wenn man den »Marx’schen ›doppelt freien‹ Lohnarbeiter nicht mehr (als) strategischen und privilegierten Teil der Weltarbeiterklasse« sieht und »Sklaven, Kontraktarbeiter, (Schein-)Selbstständige und andere im Kapitalismus theoretisch ›gleichberechtigt‹ sind«, dann sei »wahrscheinlich nicht nur die Marx’sche Werttheorie überholt, sondern muss auch die Revolutionstheorie völlig neu durchdacht werden.« (Über Marx hinaus, S. 24)

Es ändert nichts am Kapitalismus, wenn wir Sklaven und Scheinselbständige »theoretisch« (!) als »gleichberechtigt« fassen, aber K.H. Roth löst damit jeden Begriff von »Kapitalismus« als sozialem Verhältnis auf – und er vermutet ganz richtig, dass damit auch der Begriff von »Revolution« als »Umwälzung von unten« entfällt. Fürs Protokoll sei nochmal festgehalten, dass Marx mit »doppelt freier Lohnarbeit« nicht an »weiße, männliche, tariflich abgesicherte Metropolenarbeiter« gedacht hat, die nicht nur Global Labor-Historiker als Pappkameraden aufführen. Strukturell ist Lohnarbeit mit der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise der Industrie verbunden. Historisch sah Marx darin eine Tendenz, die sich schnell verallgemeinern würde. Wallerstein hat zu erklären versucht, warum der Prozess der Proletarisierung nicht wenige Jahre, sondern schon weit mehr als 100 Jahre andauert: die Bourgeoisie hat ein großes Interesse daran, ihn zu verlangsamen und die Klasse immer weiter zu unterschichten. Wallersteins Begriff »Semiproletarisierung« benutz(t)en auch wir zur Beschreibung globaler Entwicklungen. Wenn Max Henninger uns auch daraus den Vorwurf der Teleologie macht, »weil sich darin eine revolutionäre Naherwartung zu erkennen« gebe, schwankt er wohl zwischen Paranoia und Geschichtspessimismus.

Ohne die Entwicklung der Maschinerie in der Industrie (der »industriellen Revolution«, ein Begriff, der wesentlich von Engels geprägt wurde) wäre die Lohnarbeit tatsächlich eine Kategorie von Arbeit unter anderen geblieben, wie in den Jahrhunderten vorher. Es geht dabei nicht um die Frage, ob wir das »gerecht« finden, um die Behauptung einer quantitativen Dominanz von Lohnarbeit im globalen Proletariat, sondern um die politische Zentralität des Klassenantagonismus in den Fabriken – dort, wo in immer weiter steigendem Maße die Gebrauchswerte der Gesellschaft hergestellt werden.

Als Marx an die Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch schrieb, dass die bäuerliche Dorfkommune in Russland »Ausgangspunkt der sozialen Erneuerung Russlands« (Hervorhebung von uns) sein könne, tat er dies im Zusammenhang seiner Reflektionen über die damalige Krise des globalen Kapitalismus und die Möglichkeiten einer globalen sozialen Revolution. Max Henninger ignoriert diesen Zusammenhang genauso wie Marxens jahrelange intensive Beschäftigung mit Agrochemie und der Geologie der Böden (d.h. den Möglichkeiten der Entwicklung der Landwirtschaft in Russland), um konstruieren zu können, Marx habe mit diesem Halbsatz sein ganzes Lebenswerk und seine Auffassungen über den Haufen geworfen – eine mehr als gewagte Interpretation. Wenn er dann gegen Marx mal wieder den russischen Genossenschaftler Cajanov aus der Tasche zieht, wäre die Frage, ob das nun eine ernsthafte Debatte um das Genossenschaftswesen werden soll – und ob ihm dabei die staatliche Logik Cajanovs bewusst ist. (Henninger: Ländliche Armut, S. 84-112).

Die Global Labor-Historiker begründen ihre Sozialromantik mit einer – berechtigten – Kritik an Analysen, die mit »ehernen Gesetzen der Geschichte« »entweder [ihren] Avantgardismus oder [ihre] Passivität« zu legitimieren versuchen (Über Marx hinaus, S.18). Aber sie legen ihre biographischen Motive nicht offen: die Angst, in der aktuellen Krise würden mal wieder die schwächsten Schichten der Weltbevölkerung von den »privilegierten Metropolenarbeitern« vergessen; oder ihre eigenen enttäuschten Hoffnungen von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt (nur in einer Fußnote verweist Max Henninger auf den furiosen Verriss von Erhard Lucas an der Anderen Arbeiterbewegung von K.H. Roth und Elisabeth Behrens). Diese Ängste leiten sich nicht aus der heutigen Realität ab, es sind die Schatten der eigenen Vergangenheit, gegen die hier gekämpft wird. Die stalinistische »Technokratenpartei« liegt jedenfalls nicht in den aktuellen Aufständen! Wo in Asien und Afrika wäre denn heute ein »Befreiungsnationalismus« an der Macht, der die Proletarisierung der Bauern gewaltsam durchsetzen will? Wacht auf Leute! Es sind die BäuerInnen selber, die nicht mehr Bauer sein wollen.

Das Kapitalverhältnis hat die Möglichkeiten für eine wirklich weltweite Umwälzung erweitert – ob wir als Menschheit diese Möglichkeiten nutzen können, wissen wir noch nicht. Diese Aufgabe wird uns der »Weltgeist« nicht abnehmen. Die nach 35 Jahren Konterrevolution erneut aufflackernden Revolten machen jedenfalls Hoffnung!



Zum Weiterlesen:

* Wildcat-Zirkular 65 zu Immanuel Wallerstein: Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts.

www.wildcat-www.de/zirkular/65/z65utopi.htm

* Wildcat 86 zu Giovanni Arrighi: Die verschlungenen Pfade des Kapitals:

www.wildcat-www.de/wildcat/86/w86_pathways.html

* Wildcat 70 zu Peter Linebaugh, Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra:

www.wildcat-www.de/wildcat/70/w70hydra.htm

* Heft 3/2010 der Sozial.Geschichte.online mit mehreren Beiträgen zu Linebaugh/Redikers: Die vielköpfige Hydra: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=22626

* Marcel van der Linden: Workers of the world. Essays toward a global labor history. Leiden: Brill, 2008.

* Peter Linebaugh: The Magna Carta Manifesto. Liberties and Commons for All. of California Press, 2009.

* Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder.Frankfurt 2007: Campus.

* Raquel Varela: Who is the Working Class? – On Workers of the World by Marcel van der Linden, in: Sozial.Geschichte.online, 4 /2010:

http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=23719

* Max Henninger: Marxismus und ländliche Armut, in Sozial.Geschichte.online 4 /2010:

http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=23718



Wer sich ernsthaft damit beschäftigen will, dem sei als Einstieg Jeong-Sook Hahn: Sozialismus als »bäuerliche Utopie«? Agrarsozialistische Konzeptionen der Narodniki und Neonarodniki im 20. Jahrhundert in Rußland (Dissertation, Tübingen, 1994) empfohlen. Dort findet sich auf Seite 146 folgendes zu Cajanov: »Der eine Weg besteht in staatlichen Maßnahmen, die normalerweise die Wirtschaftsverhältnisse auf einer den Rahmen einzelner Betriebe weit übersteigenden Ebene beeinflussen.

Cajanovs Beschreibung bäuerlicher Wirtschaftsweisen war nicht überhistorisch, sondern bezog sich auf die spezifischen Bedingungen in Russland unter der jährlichen Umverteilung des Landes durch die Dorfgemeinde, die Obscina. Wo er diese konzeptionell und damit idealtypisch ausgearbeitet hat, tat er das mit dem Ziel, durch staatliche Eingriffe den »Vergenossenschaftungsprozess« zu steuern, nur eben nicht gewaltsam. Auch kann Cajanows Ideal einer patriarchalen Bauerngesellschaft wohl nicht ernsthaft als emanzipatorisch in die Debatte geworfen werden (siehe seinen Roman Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie). Das sind bspw. Bodengesetze oder Steuer-, Kredit-, und Tarifpolitik, sofern sie die Landwirtschaft betreffen. Obwohl diese Einwirkung möglicherweise eine zwangsmäßige Form annehmen könnte, bewertet Cajanov deren Sinn und Bedeutung nicht negativ. Diese Einflussnahme sei stets ein wirksames und mächtiges Werkzeug der ›gesellschaftlichen Vernunft‹ und werde dies auch in Zukunft bleiben.«



aus: Wildcat 89, Frühjahr 2011



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