Wildcat-Sonderheft Krieg 2003 - März 2003 - S. 63-65 [wk3achca.htm]


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Der Schock der Barbarei

Buchbesprechung

Gilbert Achcar: Der Schock der Barbarei - der 11. September und die »neue Weltordnung«, ISP Köln, 2002, 12 Euro, ISBN 3-89900-104-4

Als der damalige US-Außenminister James Baker gedrängt wurde, die eigentlichen Gründe für den zweiten Golfkrieg zu benennen, antwortete er »Jobs, Jobs, Jobs«. In seinen Erinnerungen 1996 erklärte er das so: Hätte Saddam Hussein die Möglichkeit gehabt, den Export des irakischen und des kuweitischen Öls zu kontrollieren und damit die Erdölpreise zu beeinflussen, wäre es gewiß nicht zum langen Boom der New Economy gekommen. Auch Gilbert Achcar, Autor des Ende 2002 erschienenen Büchleins »Der Schock der Barbarei«, sieht diese Frage im Zentrum: »Die Frage, die sich wirklich stellt, und deren Beantwortung unumgänglich ist, lautet: Ist die amerikanische Bevölkerung wirklich bereit, für die globale Hegemonie, von der nur die herrschende Klasse profitiert, den Preis weiterer 11. September zu zahlen?« - und heute könnten wir hinzufügen: die ökonomischen und sozialen Kosten des nächsten Irak-Kriegs?

Mit der massiven Lügenpropaganda seit dem 11.9. wollen die Herren der Welt durch lautes Schreien die Wahrheit vor den Beherrschten verstecken: Die Anschläge vom 11.9. waren eine Reaktion auf das »Böse«, was die USA der Welt zugefügt hat und nicht auf das »Gute«, wie es Bush allen Ernstes weiszumachen versucht (»sie erklären uns den Krieg, weil sie unsere Freiheiten hassen«). Achcar sieht sich mit diesem Erklärungsansatz in guter Gesellschaft - Marx hatte die Meuterei in Indien 1857 ähnlich kommentiert: »Die Londoner Times übertreibt [...] Sie will einfach die Staatspapiere hochtreiben und die Regierung decken. Da Delhi nicht durch bloße Windstöße gefallen ist, wie die Mauern von Jericho, sollen John Bulls [das brit. Gegenstück zu Uncle Sam, d.A.] Ohren von Rachegeschrei gellen, damit er vergißt, daß seine Regierung verantwortlich ist für das ausgebrütete Unheil und dafür, daß es solche kolossalen Ausmaße annehmen konnte.« (Marx in der New York Daily Tribune, 16.9.1857 - zit. nach Achcar, S. 33)

Der Irakkrieg von Bush sen. konnte zwar auf kurze Sicht eine scharfe ökonomische Rezession nicht abwenden, legte aber mittelfristig die Grundlagen für den vielbeschworenen längsten Boom in der Geschichte der USA - Achcar deutet nur sehr knapp die Kehrseiten dieses Booms an, nämlich in Form einer »anderen Wachstumsrate, die noch viel schneller anstieg, nämlich die der Gefängnisinsassen, die im Verlauf der neunziger Jahre im Schnitt jährlich um sechs Prozent zugenommen haben; sie nahmen von 292 Gefangenen pro 100 000 Einwohner am 31. Dezember 1990 auf 478 am 31. Dezember 2000 zu; das waren 1.381.892 Häftlinge.« (S. 111). Er geht aber nicht diesen Fragen (Zusammenhang von sozialer und ökonomischer Krise in den USA mit ihrem Kriegskurs) nach, sein Thema sind zwei andere Zusammenhänge: der Zusammenstoß zweier Fundamentalismen und das besondere Verhältnis USA/Saudi Arabien. Gleich in der Einleitung stellt Achcar eine Verbindung zwischen zwei Elften Septembern her: am 11. September 2001 flogen zwei Flugzeuge in das World Trade Center; am 11. September 1990 hatte der Vater des jetzigen Präsidenten der USA eine historische Rede gehalten, in der er die Neue Weltordnung vorstellte - vier Tage danach begann der Aufmarsch der US-Soldaten in Saudi Arabien - ein entscheidender Schritt, der die seitherige Eskalation zwischen zwei Fundamentalismen erklärt.

Fundamentalismus auf seiten der USA:

Als Bush am 20. September 2001 in seiner Rede vor dem Kongreß, aber an die Welt verkündete: »Entweder Sie sind auf unserer Seite oder Sie sind auf der Seite der Terroristen«, hätte man das für eine unbedachte Äußerung einer in die Enge getriebenen Supermacht halten können. Achcar sieht darin eins von zwei Axiomen des »hegemonialen Unilaterialismus« der USA. Das zweite verkündete Rumsfeld am 23. September 2001 über CBS: »Die Mission entscheidet über die Koalition, und wir erlauben nicht, daß Bündnisse über die Mission entscheiden.« (beide Zitate auf S. 100). Noch deutlicher wurde Richard Perle, der Spitzenberater des Pentagon, Anfang Oktober 2001, als er sinngemäß ausführte: das Bündnis hinter Desert Storm war wichtig, um die parlamentarische Zustimmung zum Krieg zu bekommen; heutzutage wäre es eher schädlich, wenn der Eindruck entstünde, die USA brauchen erst ein Bündnis, bevor sie losschlagen (ebenda).

Wie entschlossen die USA ihren Unilateralismus durchsetzen, demonstriert Achcar am Beispiel der Sanktionen gegen den Irak, die sogar die Foreign Affairs als »Sanktionen der Massenvernichtung« bezeichnet habe. Bereits 1999 seien zwei amerikanische Professoren, die sich auf Zahlen der UNO stützten, zu dem Ergebnis gekommen, das Embargo gegen den Irak habe zu etwa 400 000 Toten geführt und somit zum Tod von mehr Menschen, »als bisher in der Geschichte der Menschheit durch alle Massenvernichtungswaffen [ABC-Waffen] zusammengenommen ermordet wurden« (unter Ausklammerung des Judenmordes durch die Nazis). (S. 22) Hier wäre anzumerken, daß Achcar in der Sache zwar recht hat: die USA haben jedesmal militärisch eskaliert, wenn andere Mächte das Embargo lockern oder beenden wollten (zuletzt 1998 durch massive Bombardierungen), aber in der Form ist das Embargo ein UN-Embargo.

Auf mehreren Seiten geht Achcar auf die »symmetrischen Denkstrukturen« von Bush und bin Laden ein, in deren Denken das »Böse« eine zentrale Rolle spielt. Bush, der als Episkopaler erzogen wurde und seit seiner Heirat Methodist ist, wird als »Führer des protestantischen Fundamentalismus in den USA« charakterisiert. Bin Ladens radikale Opposition gegen die saudische Monarchie geht auf die Stationierung der US-Truppen in seinem Heimatland zurück. Gerade »siegreich« aus Afghanistan zurückgekehrt, mußte er 1991 Saudi Arabien wieder verlassen und organisiert seit 1992 weltweit Anschläge gegen die USA (1992 im Jemen, 1993 in Somalia usw. - Achcar gibt sich keine Mühe, die Zuschreibung dieser Attentate zu hinterfragen). Im Februar 1998 proklamierte Bin Laden eine »Islamische Weltfront für den Dschihad gegen die Juden und Kreuzfahrer«, mit der seither immer wiederholten »dreifachen Verurteilung«: der Anwesenheit von US-Truppen auf heiligem Boden, des mörderischen Embargos gegen die muslimische Bevölkerung des Irak und des Massakers an der muslimischen Bevölkerung Palästinas durch »die Allianz zwischen Kreuzfahrern und Zivilisten« - wobei laut Achcar nur das erste Motiv originär sei, die anderen beiden seien taktische Bemühungen Bin Ladens. (S. 63 ff.) Die »Argumentation gegen die Präsenz von US-Truppen im Königreich ... [sei] grundlegend reaktionär, fanatisch religiös und sexistisch ... 'Sie wollen uns unsere Männlichkeit rauben, und wir glauben, daß wir Männer sind, muslimische Männer, die die wichtigste Stätte im Universum, die verehrungswürdige Kaaba, schützen müssen, dass wir die Ehre haben, sie zu beschützen, statt daß jüdische und christliche amerikanische Soldatinnen kommen ... Die Regierungen jener Region haben vielleicht ihre Männlichkeit verloren und meinen, die Leute seien Frauen, und, bei Gott, selbst die würdigsten Frauen der Muslime wehren sich dagegen, von amerikanischen und jüdischen Huren verteidigt zu werden.'« (S. 61)

Das Scharnier: Saudi-Arabien

Hier hakt Achcar direkt ein und weist auf die »doppelt explosive Wirkung« der Anwesenheit von Soldatinnen in Saudi-Arabien hin: sie schürt einerseits die männlich-sexistische Feindschaft, wie es die Ausführungen von Bin Laden belegen - sie führt aber auch z.B. dazu, daß 47 saudische Frauen es »wagten«, am 6. November 1990 eine Fahrt im eigenen Auto zu machen, bevor die Staatsmacht gegen sie einschritt. Die USA können aufgrund von Anti-Diskriminierungsgesetzen nicht nur männliche Soldaten schicken; sie versuchen, die Soldatinnen zu verstecken, bzw. schreiben ihnen vor, eine Art Tschador zu tragen. Dagegen hat u.a. eine Pilotin bereits geklagt und gewonnen. »Dies könnte effektiver zu einem baldigen Abzug der US-Truppen aus Saudi-Arabien beitragen als die Aktionen der Anhänger von Bin Laden«. (Fußnote S. 61)

In den informativsten Teilen des Buchs zeichnet Achcar das Bild einer strategischen Partnerschaft zwischen Saudi Arabien und den USA, die etwa 60 Jahre lang sehr gut funktioniert hat, bei der aber heute die Durchsetzung der Interessen des einen Partners den Untergang des anderen besiegeln: bereits 1990 (vor und während des zweiten Golfkriegs) gingen »größere Teile der sunnitischen fundamentalistischen Bewegung, die von Riad unterstützt worden waren, auf die Seite des Irak über, um sich nicht von ihrer Massenbasis abzuschneiden. Für die saudische Monarchie war dies ein größeres Fiasko.« (S. 56) Eine Spirale nach unten, die sich durch die Stationierung von US-Truppen wesentlich beschleunigt hat.


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