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Wildcat-Zirkular Nr. 2 – März 1994

Italien: Situation und Aussichten sieben Tage vor dem Ende (der ersten Republik)

Jetzt geht der Wahlkampf in die letzte Woche, und endlich können wir langsam wieder aufatmen. Wie die Wahlen ausgehen, läßt sich natürlich schwer vorhersagen. Die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen ist seit fast einem Monat verboten, und wenn wir den Buchmachern in London glauben können, liegt Forza Italia von Berlusconi mit 25 bis 30 Prozent der Stimmen klar an der Spitze; zusammen mit 10 Prozent für die Lega und 10 Prozent für die Faschi­sten könnten sie auf fast 50 Prozent kommen. Die Machtergreifung einer Berlusconi-Regierung ließe sich wohl nur durch ein Bündnis zwischen dem ex-christdemokratischen Zentrum und der Front der Fort­schrittlichen verhindern, das eindeutig von den "starken" Mächten favorisiert wird: dem Arbeitgeberverband, Fiat, dem Großkapi­tal, dem aufgeklär­ten Bürgertum. Dieses Bündnis könnte zustandekommen, indem den einzelnen Kräften die "Flügel" gekappt werden: Rifondazione Comunista und vielleicht auch Rete und Grüne auf der Linken und die gemäßigtste und kon­servativste Strömung der Ex-Christdemokraten auf der Rechten. Wenn die Rechte gewinnt, d.h. das "freiheitliche Lager", wird weder die Regierungsbildung noch die Wahrung der Stabilität leicht werden. Die Verbündeten in diesem Lager streiten sich über alles, und das einzige, was sie zusammenhält, ist die Aussicht auf Macht: Das Bündnis vertritt gleichzeitig den Sozialstaat (die Faschisten) und die absolute Deregulierung (Forza Italia), Übersteigerung der nationa­len Werte und Aufrufe zur Sezession, Zentralismus und Föderalismus in den härtesten Versionen. Dagegen haben die Fortschrittlichen und Zentristen ein sehr genaues Modell der gesellschaftlichen Rekon­struktion, ein "deut­sches" Modell zur Flexibilisierung der Arbeitskraft bei Sicherung der Macht der Gewerk­schaften, zur Verringerung der Sozialstaats-Ausgaben bei Beibehaltung des sozialen Netzes, zur Senkung der Löhne und des Lebensstandards bei gleichzeitiger Suche nach dem Konsens. Im wesentlichen handelt es sich um verschiedene Durchsetzungsweisen derselben Strategie, auch wenn sie verschiedene Ideologien bemühen und unterschiedlich schnell handeln. Das Endergebnis bleibt aber genaugenommen dasselbe.

Letztenendes müssen wir jetzt auch nicht wissen, wer gewinnt. Was wir verstehen mußten, ist schon geschehen, haben wir schon vor Augen. Nach der Bestätigung der fortschrittlichen Bürgermeister in sechs Großstädten (Rom, Neapel, Venedig, Genua, Palermo, Triest) bei den Wahlen vom 5.12.93 hat die Rechte verstanden, daß sie gleichzeitig Risiken eingeht und Chancen hat. Und trotzdem gelang es dem ex-christdemokratischen Zentrum und seinen traditionellen Verbündeten nicht, sich in kurzer Zeit um einen glaubwürdigen politischen Vorschlag herum zu reorganisieren, der nicht brutal wieder auf die Achse Christdemokraten-Sozialisten hinausläuft, die die Staatsfinanzen in den 80er Jahren so teuer zu stehen kam. Das Großkapital hatte schon verstanden, wie wichtig es war, in einen Dialog mit dem progres­siven Lager zu treten, dem die starken Mächte mittlerweile seinen Segen zur Regierungsbildung in ihrem Sinne erteilt hatte. Seitdem hat sich die Argumentation des fortschrittlichen Lagers nach rechts verschoben - immer den Sympathien einer ab­strakten öffentlichen Meinung hinterher, sehr wirr und unsicher, aber in jedem Fall orientiert auf einen "Wandel mit Kontinuität", der "die Ehrlichen" an die Regierung bringt. Genau da begann das Zusammenrücken der Rechten und das unwahrscheinliche Bündnis der Kräfte, aus denen das freiheitliche Lager besteht, eine "Sammlung" nach französischem Muster, die etliche Widersprüche in sich trägt. Nur sehr schwer lassen sich die sozialen Blöcke hinter den drei zur Wahl stehenden Hauptvorschlägen erkennen. Die Fortschrittlichen stellen die Wahl tendenziell als Kampf zwischen Barbarei und Zivilisation dar, das Zentrum versucht den Mythos von den Extremisten beider Seiten zu benutzen, die Rechte benutzt das Schreckgespenst der "roten Gefahr", als wären wir in den späten 40er Jahren. Aber das sind alles Propagandatricks.

Die Linke, vor allem die GenossInnen, die für Wahlenthaltung plädieren, haben zu verstehen versucht, welche soziale Basis hinter den drei Blöcken steht. Die Rechte wendet sich natürlich an die Unterstützer des alten Regimes und versucht, Kontinuität und Protest unter einen Hut zu bekommen: Nicht zufällig versucht Berlusconi, die Moderaten zu beruhigen, während Fini und Bossi zwei völlig unterschiedlich ausgerichtete Proteste in dasselbe konservative Auffangbecken zu kanalisieren versuchen (der Wahlkampfslogan der Lega heißt diesmal "eine Revolution muß zuende gebracht werden"). Die Rechte versucht also im Zickzack ein Minenfeld zu durchqueren: die Lega tönt gegen Rom und die Parasiten aus dem Süden, die Faschisten verteidigen die Padroni aus dem Süden gegen die Korruption der letzten 50 Jahre, Forza Italia ruft alle zur Geschlossenheit gegen die Kommunisten auf, die gerade die Macht in Italien ergreifen, um die Gewerbefreiheit zu ersticken. Im Zentrum läßt sich ein zusammen­genommen würdevolleres Schauspiel beobachten: die neuen Christdemokraten von Martinazzoli sehen sich als Erben der guten Regierung ihrer Partei im Norden, appellieren an die christlichen Werte und an die Strukturen der katholischen Kirche (die wieder voll in die Politik zurückgekehrt ist), auf die politische Konsequenz und den politischen Zusammenhalt der Katholiken und versuchen das übliche Bündnis zwischen den Klassen wieder vor­zuschlagen, das die Sozialdoktrin der Kirche inzwischen schon seit 100 Jahren empfiehlt. Das kurze Abenteuer von Segni, der im April 1993 bei den Christdemokraten ausgetreten und seitdem in drei oder vier Parteien ein- und wieder ausgetreten ist, endete demütigend mit seiner traurigen Rückkehr in den beruhigenden Schoß der neuen Christdemo­kraten, die ihn als verlorenen Sohn aufgenommen haben. Das Zentrum hat aber durch das neue Wahlsystem kaum Chancen, da es (wenn auch unvollständig) ein Zweiparteiensystem voraussetzt.

Auf der Linken sind große Verlegenheiten und auffallende Widersprüche zu beobachten. Das fortschrittliche Lager versuchte anfangs, die Debatte auf der Ebene der Argumente und der politischen Programme zu halten, hat sich aber in ein ödes Spiel hineinziehen lassen, in dem alles erlaubt ist: von der Benutzung von Richtern und Dossiers bis zur verzerrtesten Manipulation der Massenmedien. Der Hauptansprechpartner der Forschrittlichen dürfte die alte Linke sein: Arbeiter, Rentner, städtische Mittelschichten, ihre alte soziale Basis. In Wirklichkeit hatte dieser soziale Block am meisten unter der Politik der Regierungen Amato und Ciampi zu leiden, die seit Sommer 1992 eine harte Schocktherapie angewandt haben, der die PDS, der Kern des fortschrittlichen Lagers, immer ausdrücklicher zugestimmt hat. Zur Steigerung der Dosis gibt die PDS selbst offen zu, daß sie mit derselben Politik weitermachen, d.h. das Verhältnis zu ihrer traditionellen Wählerschaft riskieren will, und sucht ausdrücklich nach einer Investitur von oben (Occhetto-Besuch in der Londoner City, in der Mailänder Börse, beim Nato-Gipfel in Brüssel usw.). Das Programm der Linken läßt sich daher nur schwer mit ihrer natürlichen sozialen Basis vereinbaren: diese hätte als erste am meisten darunter zu leiden.

Und doch scheint es keinen Ausweg zu geben: Wir haben versucht, die Situation der "Arbeiterklasse" mit der Meta­pher der "doppelten Zange" zu erklären. Im Prinzip können sich die ArbeiterInnen auf zwei Wegen selbst die Schlinge um den Hals legen. Erstens durch ein Bündnis von Progressiven und Unternehmern, d.h. ein bißchen vereinfacht einen Pakt der Produzenten, bei dem sich eine sozialdemokratische Regierung unter Führung der PDS und die Spitzen des Großkapitals (Mediobanca, Fiat, Arbeitgeberverband) gegen die Kleinunternehmen und die beschleunigte Dezentralisierung wirtschaftlichen Ressourcen. zusammentun. Zweitens durch ein Bündnis von Arbeitern der Kleinbetriebe und ihren kleinen Chefs unter der Fahne von Lega und Forza Italia, gegen die Linke, die Großunternehmen und den Steuerdruck.

Der Ausgang der Auseinandersetzungen bei Fiat hat die Fronten klar gezeigt. Zur Entlassung von 16.000 ArbeiterInnen und Angestellten haben Fiat, die Regierung und die Gewerkschaften das soziale Netz in all seinen Variaten voll ausgenutzt (Frührente, Cassa Integrazione, , Solidaritätsverträge), was 500 bis 600 Milliarden Lire [500 bis 600 Millionen Mark] gekostet hat. Am Ende lobten Fiat-Chef Agnelli, der CGIL-Vorsitzende Trentin und Arbeitsminister Giugni das Abkommen, und die Lega und die Faschisten protestierten verbittert gegen die überhöhten Kosten des Abkommens selbst und griffen Fiat wegen des systematischen Zugriffs auf öffentliche Gelder an. Diese Art von Auseinandersetzung spiegelt sich im täglichen Kampf um Wählerstimmen wider: Berlusconi wird von der großen bürgerlichen Presse als "innovativer" Kapitalist gesehen, als nicht sehr vertrauenswürdiger Finanzier/Verleger, belastet von den Schulden seines Konzerns und getrieben von einem irren Selbstdarstellungsdrang. Niemand aus seiner gesellschaftlichen Klasse steht hinter ihm, nur seine Fernsehprogramme, seine Supermärkte, seine Beschäftigten und ein unglaublicher Vertrauensvorschuß für das "Neue" seitens einer Zivilgesellschaft, die nicht sehr reif und ganz anders ist, als gewisse Meinungsmacher sie beschreiben. Man muß sich nur die Zahlen über die Bestechungsaffären ("tangentopoli") einmal genauer ansehen, die immer als Problem beschrieben werden, das nur ein kleine Elite aus der politischen Schicht betrifft: von 20.000 Ermittlungsverfahren richteten sich nur 6000 gegen Politiker im eigentlichen Sinne. Das Gros der Beschuldigten waren Beamte, Unternehmer und eben Zivilgesellschaft, die nicht gerade viel "Ehrlichkeit" an den Tag legte.

Der erste Wahlkampf nach amerikanischem Muster in der italienischen Geschichte geht also seinem Ende entgegen: endlich kommt ein Prozeß zur Reife, der anderswo seit vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten läuft. Tendenziell ein Zweiparteiensystem mit klaren Regierungsvorschlägen, mit zwei großen Gruppierungen, die Vereinfachung des Systems und die Annullierung der Zersplitterung. Möglicherweise macht das absurderweise vom Parlament verabschiedete Wahlsystem die Situation noch unregierbarer als zuvor: in diesem Fall erwartet uns in Kürze eine erneute Wahlreform und Neuwahlen, vielleicht unter Führung einer Allparteienregierung. In einigen Tagen werden wir es wissen...

Renato Strumia

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