![]() |
wildcat.zirkular | ||||||||
|
aus: Wildcat-Zirkular Nr. 3, April/Mai 1994 CHIAPAS UND DIE NEUE WELTORDNUNGvon Silvia Federici EinleitungDie Besetzung mehrerer Städte im mexikanischen Bundesstaat Chiapas am 1. Januar 1994 durch das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) ist zu recht als die erste bedeutende Kriegserklärung gegen die Neue Weltordnung bezeichnet worden. Das heißt, gegen die neo-liberale Politik, die während des gesamten letzten Jahrzehnts von Afrika bis Rußland und natürlich Lateinamerika die Internationalisierung des Kapitals und die Ausweitung des Weltmarkts kennzeichnete. Das geplante Zusammenfallen des Aufstandes mit dem Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens, oder, wie es in Mexiko heißt, des Tratado de Libre Comercio (TLC), zeigt deutlich, welche Art von Kampf die Menschen in Chiapas führen. Es erklärt, warum er (anders als bei den Ereignissen nach dem Massaker von 19681) nicht aus den Schlagzeilen herausgehalten werden konnte, sondern internationale Beachtung und Unterstützung von Bewegungen weltweit erhielt: von den Bauern in North Dakota und Frankreich, die gegen die GATT-Bestimmungen kämpfen, bis zu den vielen Bündnissen, die gegen Weltbank und IWF mobilisieren. Es wird vielerlei Versuche geben, die Bedeutung, die das Fortschreiten des Kapitalismus für den Aufstand hatte, herunterzuspielen. Man wird die Schuld ausschließlich der Kurzsichtigkeit der mexikanischen Regierung zuweisen, die, wie es heißt, den Aufruhr, der sich in Chiapas aufbaute, hätte vorhersehen und die richtigen Schritte einleiten können, um die Explosion zu verhindern. Das war von Anfang an die Position der US-Regierung gewesen, und in den nächsten Wochen werden wir diese Art von Argumentation immer öfter hören, wenn die Anhörungen zu Chiapas vor dem Kongreß, die, von Torricelli eingefordert, am 3. Januar begannen, ihren Verlauf nehmen. Es liegt im Interesse der US-Regierung zu zeigen, daß NAFTA und die Übernahme der mexikanischen Wirtschaft durch US- und internationales Kapital nichts mit dem Aufstand zu tun haben. Das Argument lautet, daß man den Aufstand in Chiapas hätte vermeiden können und daß Chiapas in Wahrheit ein internes Problem der mexikanischen Regierung sei. Die US-Regierung, Weltbank und IWF werden versuchen, Chiapas zu benutzen, um die mexikanische Regierung auf Linie zu bringen und sie davon zu überzeugen, daß sie die Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft forcieren müsse, damit Chiapas dazu benutzt werden kann, eben jenen Prozeß zu beschleunigen, der den Aufstand erst ausgelöst hat. Bemerkenswert hier die Parallele zur ehemaligen Sowjetunion, wo das durch den Abbau aller sozialen Sicherungen und die Liberalisierung der Wirtschaft verursachte Elend der Bevölkerung beharrlich der zu langsamen Einführung von Reformen und den Überbleibseln des sowjetischen Korporativismus zugeschrieben wird. Aus diesem Grund ist es entscheidend, daß die Geschichte von Chiapas nicht mit dem Mantel des "Außergewöhnlichen" - des Außergewöhnlichen des autoritären mexikanischen Systems, des Außergewöhnlichen der Lebensbedingungen der indigenen Völker in Mexiko - zugedeckt wird. Stattdessen müssen wir sie in den Rahmen der Politik stellen, die im vergangenen Jahrzehnt nicht nur die gesamte Bevölkerung Mexikos betraf, sondern auch das Proletariat in anderen Teilen der Dritten und Ersten Welt, von Nigeria über die Philippinen bis zur ehemaligen Sowjetunion und Los Angeles. Die spezifische Geschichte von Chiapas bringt das Wirken des internationalen Kapitals, seine 500-jährige Geschichte von Dominanz und Ausbeutung beispielhaft ins Rampenlicht. Sie zeigt, daß der Kapitalismus am Ende dieses Jahrtausends, das von seinem Fortschreiten geprägt wurde, und entgegen seinen Versprechungen und seinen Märchen vom "Fortschritt" der Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten nur Armut und Zerstörung zu bieten hat - genau wie zu seinen Anfangszeiten. Die Geschichte von ChiapasDie RebellInnen in Chiapas kommen aus den verschiedenen Gruppen von Mayas (Tseltal, Tsotsil und anderen), die die Mehrheit der Bevölkerung des Bundesstaates bilden, der an Guatemala grenzt und in seiner ethnischen Zusammensetzung praktisch nicht von diesem Land zu unterscheiden ist. Wie in den letzten Wochen so oft geschrieben wurde ist die Geschichte von Chiapas die Geschichte der beinahe zyklischen Aufstände der indigenen Völker, erst gegen die spanischen Eroberer, später gegen den Despotismus und Rassismus einer jeden Regierung bis zum heutigen Tag. Während der gesamten Geschichte Mexikos waren die chiapanecos (zusammen mit den Frauen) der am meisten ausgebeutete Sektor der mexikanischen Bevölkerung, und sie mußten immer mit Waffengewalt erkämpfen, was sie durch legale Mittel niemals erreichen konnten. Nicht einmal die Revolution von 1917 änderte etwas in Chiapas. Die Regierung Obregón verhandelte 1920 mit den Eliten, die gegen die Rückverteilung von Land einen bewaffneten Aufstand organisiert hatten, und vertraute ihnen die Durchführung der Landreformen an. Erst in den 30ern, unter Lazaro Cárdenas, wurde das ejido (ein kommunales System von Eigentum an Grund und Boden) eingeführt. Die Geschichte von Chiapas war auch die Geschichte der beharrlichen Diskriminierung der indigenen Bevölkerung, die wie die amerikanischen IndianerInnen meist isoliert dafür kämpfte, ihr Land und ihre Traditionen zu behalten und vor allem eine kommunitäre Auffassung vom Leben zu bewahren, die sich radikal von der kapitalistischen Vorstellung unterschied. Diese "500 Jahre Widerstand" waren es, die 1992 anläßlich des Kolumbusjubiläums gefeiert wurden, als San Cristobal, die Hauptstadt von Chiapas, Schauplatz war für die erste kontinentale Versammlung der indigenen Völker der beiden Amerikas. Trotz aller Lippenbekenntnisse bezüglich der Mayakultur der Vergangenheit, die lediglich den Tourismus fördern sollen, waren die lebenden Erben der Mayas in Mexiko und Guatemala auf staatlicher wie auf lokaler Ebene Objekte ausgesprochener Verachtung. So hat jede mexikanische Regierung die chiapanecos der Gnade der örtlichen Kaziken überlassen: der ganaderos (Viehzüchter), der hacienderos und finqueros, die dem Volk das Land nahmen, seine Wälder verkauften und bisher durch ihre "weißen Wachen" (sprich: "Todesschwadrone") eine eiserne Kontrolle über die indigene Bevölkerung ausübten: sie ermordeten deren Führer und erstickten jeden Versuch, ihre Lebensbedingungen auf legalem Wege zu verändern, in Blut. Aber macht diese Geschichte von brutaler Ausbeutung, Hunger und Terror Chiapas zu einer Ausnahme in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung? Oder liefert sie uns nicht vielmehr einen besonders günstigen Ausgangspunkt, um die Folgen der Ausweitung kapitalistischer Beziehungen zu verstehen? Chiapas leidet nicht am Nichtvorhandensein, sondern an der Gegenwart kapitalistischer Beziehungen, und das zeigt sich auch in seiner jüngsten Geschichte. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Lage der indigenen Bevölkerung ständig verschlechtert. Chiapas mußte nicht nur, wie auch der Rest von Mexiko, die Austeritätsmaßnahmen ertragen, die zu Beginn der Schuldenkrise und der "Strukturanpassung" eingeführt wurden. Die sinkenden Kaffeepreise auf dem internationalen Markt (real 60% zwischen 1980 und 1993) haben den Lebensunterhalt auch der letzten Kleinbauern zerstört. In der Zwischenzeit hat das Anwachsen der Ölförderung sowohl zu erneuten Landenteignungen als auch zur Militarisierung der zonas petroleras geführt. Und die Abschaffung des ejido-Systems im Januar 1992 (als Vorbereitung für NAFTA) hat ebenfalls die Enteignung von Grund und Boden beschleunigt. Je stärker Chiapas in den internationalen Kapitalkreislauf integriert wurde, desto mehr seiner Menschen mußten ihr Land verlassen, sie wurden durch die Bundesarmee und die örtlichen Todesschwadrone terrorisiert und verhungerten. Laut dem Bischof von San Cristobal, Samuel Ruiz, sind allein im Jahr 1993 in Chiapas 15.000 Menschen an Hunger und Krankheiten gestorben. In einer Region, die reich ist an natürlichen Ressourcen und die für ihre Menschen ein wahrer Garten Eden sein könnte - einer Region, die große Mengen an Fleisch, Holz, Öl und Kaffee exportiert - haben die Menschen nicht genügend zu essen, sind 75% der Kinder unterernährt, sind die meisten Unterkünfte Hütten mit Schlammboden und ohne Elektrizität. Die Mehrheit der Menschen sind Analphabeten und haben praktisch keinerlei Zugang zu ärztlicher Versorgung. Und diese Situation, das ist durchaus einer Wiederholung wert, ist nicht etwa ein "Vermächtnis der Vergangenheit", sondern eine Bescherung der Gegenwart. Sie wird durch NAFTA sogar noch dramatischer werden, wenn durch die Liberalisierung von Maisimporten aus den USA die letzten Maisbauern in Mexiko vertrieben werden. Als Antwort auf die dramatische Verarmung der chiapanecos in den letzten Jahren hat die Regierung auf kleinere wirtschaftliche Maßnahmen zurückgegriffen und Chiapas zum Empfänger des Weltbankprogramms zur Linderung der Armut gemacht, des Feigenblatts, mittels dessen die Weltbank weltweit die entsetzlichen Auswirkungen der Strukturanpassung zu verstecken versucht hat. "Humane" Strukturanpassung wurde das Motto der Weltbank nach den riots von 1986 gegen die Kaunda-Regierung in Sambia, die durch die Anhebung des Preises für Maismehl ausgelöst worden waren. Sie zeigten, daß, wenn die "Verlierer" eines Strukturanpassungsprogramms nicht gebändigt und gespalten werden können, der revolutionäre Druck, den sie erzeugen können, eine Regierung dazu zwingen wird, die Strukturanpassung zu streichen. Angesichts der internationalen Intifadah gegen Strukturanpassung am Ende der 80er wurde der Begriff der side payments an alle, die irgendwelche Arten von Einkommen einbüßen sollen, in Weltbankkreisen zum Gegenstand intensiver Diskussion und Forschung. Als Salinas 1988 an die Macht kam, war er der Nutznießer davon und seine Regierung führte, finanziert von der Weltbank, ihre eigene Version der "Humanen Anpassung" ein. Das daraus entstandene Programm wurde in Mexiko unter dem Namen PRONASOL (Nationales Programm der Solidarität) verkauft. Nach dem Aufstand wurde immer wieder betont, daß der Staat Chiapas der Hauptempfänger von zugeteilten Fonds gewesen war. Aber die Leute von Chiapas haben wenig von dem Geld gesehen und die wenigen Maßnahmen, die durchgeführt wurden, haben die Lage nicht verbessert. Der Aufstand von Chiapas kann als entschiedene Absage an diesen Weltbankreformismus gesehen werden. Und zwar nicht, weil die Probleme in Chiapas nicht ökonomischer Art wären (wie Mark Cooper in der Village Voice schrieb). Sondern eher, weil Landenteignungen und die völlige Abhängigkeit von den Schwankungen des Weltmarktes das Problem in Chiapas sind, und dieses Problem kann nicht angegangen werden, ohne den Plan des Kapitals für die Region zu destabilisieren. PRONASOL ist schlicht der Versuch, die Campesinos zu spalten, einige wenige werden gekauft, viele andere werden umgebracht oder dazu gezwungen, in den Untergrund zu gehen oder das Gebiet zu verlassen. Es ist dieser Zusammenhang, in dem eine bewaffnete Bewegung entstanden ist. In den vergangenen Jahren ist auch eine unabhängige Bewegung von Campesinos entstanden; aber diese Bewegung hat sich gespalten, viele schlossen sich den Zapatistas an, die sich seit beinahe zehn Jahren in der Selva Lacandona vorbereiteten - einer der letzten Tropenwälder Lateinamerikas und bevorzugtes Objekt für die madereros (Holzverkäufer). Ganz Mexiko ist ChiapasDer Name, den sich die "zapatistische" Armee EZLN gab, macht die Hauptforderung der chiapanecos deutlich: Land. Aber ihr Protest spricht die aktuelle Lage des gesamten Volkes von Mexiko an und die Lage des Proletariers der Welt zu Beginn der "Strukturanpassung" - der Name für die jüngste Welle von "enclosures" und Beschneidungen von Rechten des Volkes. Im liberalisierten Mexiko der Zeit nach der Anpassung wird die Lage der chiapanecos, die einst eine Ausnahme bildete im Vergleich zu der der besser geschützten mexikanischen lohnempfangenden ArbeiterInnenklasse, zur Lage aller MexikanerInnen. Wie Alvaro Cepeda Neri in La Jornada vom 3.1.1994 schrieb, hat die Armut des mexikanischen Volkes in den letzten fünf Jahren, als Folge der skrupellosesten Anti-ArbeiterInnen-Anpassung seit dem Nazismus, einen bisher unbekannten Grad erreicht. Seit 1985 ist die Kaufkraft der Menschen in Mexiko um 40% gesunken, die meisten ihrer historischen Errungenschaften, garantiert durch die Verfassung von 1917, sind verloren gegangen. Und so leben heute 23 Millionen Menschen in bitterster Armut und alle Sektoren der Bevölkerung, mit Ausnahme der Oberschicht, sahen ihren Lebensstandard zusammenbrechen. Auch hier ist allzu offensichtlich, daß die Integration Mexikos in den Weltmarkt für diese Situation direkt verantwortlich ist. Die mexikanischen ArbeiterInnen waren das Kanonenfutter, das für die Zustimmung zum TLC und zu einer Politik des "wilden Kapitalismus" geopfert wurde (Alvaro Cepeda Neri ibid.). Eine Folge davon war, daß der Kampf des indigenen Volkes von Chiapas, der Elenden der Erde Mexikos, nicht isoliert werden konnte, und daß die Erklärung der Zapatistas, daß "der TLC unser Grab ist, unser Todesurteil", im ganzen Land eine breite Resonanz hatte. "Ganz Mexiko ist Chiapas" ist die Position, die immer mehr GewerkschafterInnen, StudentInnen, AktivistInnen aller Art und Leute auf der Straße äußern. Wie nie zuvor erkennen sie nach einem Jahrzehnt der Verelendung die Lage der Chiapanecos als die ihre. Nicht von ungefähr war eine der ersten Fragen, mit denen sich die örtlichen Autoritäten und Analytiker nach dem Aufstand beschäftigten, ob er sich verallgemeinern würde, ob die Besetzungen vom 1. Januar als das erste Anzeichen des kommenden Sturms gedeutet werden können. Diese Frage berührt nicht nur Mexiko allein. Da die Lage von Chiapas und Mexiko dieselbe ist wie im Großteil der "angepaßten" Welt, lautet die Frage nicht, ob Chiapas noch Oaxaca, Hidalgo und Guerrero folgen werden, sondern eher, ob Chiapas Drehbuch sein kann für Nigeria, Rußland, Venezuela, Los Angeles, Moskau. Der Aufstand von Chiapas hat der Welt die Augen geöffnet für die Konsequenzen der Ausweitung kapitalistischer Beziehungen. Das ist der Grund dafür, daß die mexikanische Regierung, sicherlich unter Anweisung ihrer Partner in den USA und der Weltbank, nach dem Beginn einer regelrechten Militäroperation gegen die Region es für weise hielt, in Verhandlungen zu treten. Gewiß ist die antizapatistische Propaganda nicht verstummt. Immer noch hören wir, daß die meisten der chiapanecos sich nicht mit den Zapatistas identifizieren; es wird viel Wirbel gemacht um die Leute, die mit den Autoritäten kollaboriert oder aus Angst, zwischen die Fronten zu geraten, das Gebiet verlassen haben. Geschichten über ausländische Agitatoren, über eine Verbindung mit der guatemaltekischen Guerilla gibt es im Überfluß. Aber die Strategie der reinen Repression konnte nicht aufrechterhalten werden. Nach den Bombardierungen, den standrechtlichen Erschießungen, dem Belagerungszustand durch die Armee, den Hausdurchsuchungen wurde die mexikanische Regierung gezwungen, eine einseitige Feuerpause zu verkünden, den Unverschämten eine Amnestie zu versprechen, Menschenrechtsdelegationen Besuche in der Region zu erlauben, und diskutiert jetzt, das EZLN gemäß den Forderungen der Zapatistas als eine politische Kraft anzuerkennen. Zweifellos geht es der mexikanischen Regierung in erster Linie darum, Zeit zu gewinnen. Nichtsdestoweniger gibt es einen ziemlichen Unterschied zu den Ereignissen der 70er, als brutale Repression die einzige Antwort war auf die Besetzungen von Land und Gemeinden durch die neuen, unabhängigen Bewegungen von Campesinos, die sich in vielen Staaten ausweiteten. Das EZLN hat Salinas und all die Kaziken des PRI in eine peinliche Lage gebracht. Zu einer Zeit, als sie sich darauf vorbereiteten, das Land unter Siegesgeheul zu verkaufen, und mit dem TLC als Siegesgarantie für die kommende Wahlkampagne herumwedelten, stahl ihnen das EZLN die Schau, brachte sie gegenüber den USA und der internationalen öffentlichen Meinung in Verlegenheit. Dies schon dadurch, indem es zeigte, daß sie die mexikanische Arbeitskraft nicht unter ihrer Kontrolle haben und daß ausländische Investoren gut beraten wären, noch einmal nachzudenken, bevor sie ihr Kapital in ein Land stecken, das bald zum Schlachtfeld werden könnte (umso mehr, wenn wir uns ansehen, was jetzt in Kolumbien, Venezuela und Ecuador geschieht; z.B. haben die indigenen Völker von Ecuador gerade damit gedroht, die Ölanlagen zu besetzen, wenn die Bohrungen, die ihr Land zerstört haben, nicht gestoppt werden). Sicher war der Kursverfall an der mexikanischen Börse in den Tagen nach der Besetzung von San Cristobal eine der Ursachen für die neue, etwas gemäßigtere Politik der Regierung. Die Salinistas mögen auch ob der wachsenden Militanz an anderen Fronten beunruhigt gewesen sein - als da wären die Ankündigung eines Streiks der Lehrer an der Universität UAM (dessen Beginn für den 1. Februar vorgesehen war) für eine 40-prozentige Erhöhung der Bezüge, die fast täglichen Blockaden von carreteras (Bundesautobahnen - einschließlich des Pan American Highway) als Protest gegen Betrügereien im Vorfeld der Wahlen; und am wichtigsten die immense Unterstützung, die MexikanerInnen den Zapatistas gegeben haben: Den ganzen Januar über gab es täglich Demonstrationen, Menschenrechtsdelegationen, Karawanen mit Lebensmitteln und Medikamenten für die betroffenen Gebiete und Unterstützungserklärungen von Intellektuellen, AkademikerInnen und GewerkschafterInnen in La Jornada. Salinas muß jetzt zeigen, daß der Schaden wieder gutgemacht werden kann, so daß die Investitionen weiter fließen können. Dies wird jedoch schwierig sein, denn ohne eine gründliche Überprüfung seiner gesamten wirtschaftlichen Strategie wird er nichts erreichen können, und die Zapatistische Armee wird sich mit leeren Worten und geringfügigen Wirtschaftsreformen nicht befrieden lassen. Ein Punkt ist erreicht, an dem den Menschen nichts anderes übrig bleibt, und sie sterben lieber im Kampf, als den langsamen Tod durch Verhungern, Krankheiten und andauernde Herabwürdigung hinzunehmen. Dieser Punkt, das haben die Zapatistas oft genug wiederholt, beinahe in jedem Kommunique, ist in Chiapas erreicht, und das Ausmaß der militärischen Operation, die sie auszuführen in der Lage waren - ohne Beispiel in der Geschichte der mexikanischen Guerilla - zeigt, daß ihr Protest sehr tiefe Wurzeln im sozialen Gefüge vieler Gemeinden hat und nicht leicht zu "befrieden" sein wird. Brooklyn, USA, 1. Februar 1994. Nachwort Am 20. Februar haben die Zapatistas und Repräsentanten der mexikanischen Regierung in San Cristobal de las Casas, der kulturellen Hauptstadt des Bundesstaates, in die in den letzten Wochen JournalistInnen, AktivistInnen und Intellektuelle aus der ganzen Welt gekommen sind, um diesen wahrhaft historischen Prozeß als ZeugInnen zu begleiten, mit Verhandlungen begonnen. Es ist schwer, sich vorzustellen, zu welchem Ergebnis sie führen werden, da die Forderungen der Zapatistas das politische und wirtschaftliche System Mexikos in seinem Kern herausfordern. Ihr Zehn-Punkte-Programm fordert in der Tat eine radikale Veränderung aller wesentlichen Lebensbedingungen der Menschen in Chiapas. Die Zapatistas haben Garantien gefordert, die Gesundheit, Ausbildung, Arbeit und Ernährung betreffen. Sie forderten Gerechtigkeit, Frieden und das Ende von Herabwürdigung und Marginalisierung. Und vor allem haben sie gefordert, das Land wieder an die Menschen zurückzugeben; die Wiederinkraftsetzung von Artikel 27 der Verfassung, der Landverkauf verhindert; und eine Übergangsregierung bis zu den kommenden Wahlen, um sicherzustellen, daß die Menschen in der Lage sein werden, eine Regierung ihrer Wahl zu wählen. Schon als geringste Konsequenz würde die Erfüllung dieser Forderungen bedeuten, daß NAFTA annulliert wird, und das allein wäre schon eine Revolution. In der Zwischenzeit sind die Bedingungen, unter denen die Verhandlungen stattfinden, bereits ein Sieg für das EZLN und für die Millionen MexikanerInnen, die in den letzten Tagen ihre Entschlossenheit gezeigt haben, als Partner in den Verhandlungen anerkannt zu werden. In einem Schritt, der kein Vorbild hat und bereits eine Legende schafft, haben die Zapatistas beschlossen, ihre Skimasken und Tücher, die ihre Gesichter verdecken, während der Verhandlungen nicht abzunehmen. Diese Entscheidung reflektiert zweifellos, daß sie sich der Unsicherheit des Waffenstillstands bewußt sind; aber sie hat auch einen starken symbolischen Effekt. Denn auf der einen Seite ist das eine Anklage gegen die Regierung, eine öffentliche Erklärung, daß ihr nicht zu trauen ist, ob sie nicht doch Vergeltungsmaßnahmen gegen Mitglieder der Verhandlungsdelegation ergreift. Auf der anderen Seite wird es dadurch schwierig, den Kampf zu personalisieren (trotz der Versuche seitens der Presse, "Comandante Marcos" herauszugreifen), da die Zapatistas sich mittels ihrer versteckten Gesichter als ununterscheidbar von den anderen indigenen Menschen präsentieren, seien sie in der Selva Lacandona oder auf den Straßen von San Cristobal. Den JournalistInnen, die sie fragten, warum sie ihre Gesichter nicht zeigen, haben die Zapatistas selbst geantwortet: "Warum wollt ihr unbedingt wissen, wie wir aussehen, wo ihr doch bis zum 1. Januar nicht mal gewußt oder euch darum geschert habt, ob es uns überhaupt gibt?" Ein weitaus bezeichnenderer Sieg ist die Tatsache, daß die Entscheidung der mexikanischen Regierung, in Verhandlungen zu treten, eine öffentliche Anerkennung darstellt, daß der Kampf, den die Zapatistas führen, berechtigt ist, und daß diese Entscheidung Millionen MexikanerInnen den Weg bereitet, (a) offen ihre Unterstützung für diese zu zeigen, sogar in Chiapas, wo immer noch die Armee stationiert ist; (b) einen Prozeß der Ansprüche zu eröffnen, einschließlich Forderungen nach Land hier und jetzt. Auf den Märkten von San Cristobal verkaufen indigene Frauen immer noch ihre schönen Kunstwerke, aber die Puppen tragen Skimasken; und es sind T-Shirts im Handel, die die maskierten Zapatistas abbilden. Das zeigt schlagender als Worte den Wahrheitsgehalt der Regierungspropaganda bezüglich ausländischer Agitatoren und der angeblichen Abneigung gegen die Zapatistas unter den chiapanecos. Inzwischen haben Bauerngruppen, indigene Organisationen, Gewerkschaften und andere politische Organisationen im ganzen Land die Sache der Guerilla aufgegriffen, inspiriert durch den bewaffneten Aufstand und durch die Erklärung der Zapatistas, daß ihr Erfolg am Verhandlungstisch von der Unterstützung abhängen wird, die sie erhalten. Somit ist die Frage, ob der Kampf sich verallgemeinern wird, bereits beantwortet. Zum Beispiel sagten am 7. Februar 1994 RepräsentantInnen einer Gewerkschaft von ZuckerrohrarbeiterInnen in Puruaran, im an der Pazifikküste gelegenen Staat Michoacán, daß ihre Gewerkschaftsmitglieder dafür gestimmt hätten, sich dem EZLN anzuschließen, und daß sie für 2 000 neue Soldaten garantieren würden, wenn das Rebellenkommando sie akzeptierte. Sie beschlossen, eine Kommission nach Chiapas zu schicken, um sich mit den Zapatistas zu treffen (El Financiero Internacional, 14.-20. Februar 1994). Am selben Tag demonstrierten in der Stadt Torreón in Nordmexiko 1000 Mitglieder der Demokratischen Bauerngewerkschaft zur Unterstützung der Forderungen des EZLN. Am 8. Februar besetzten Bauern der Unabhängigen Bauern- und Arbeitervereinigung in Chiapas in friedlichem Protest drei Rathäuser und forderten die Absetzung der Bürgermeister. Ähnliche Besetzungen derselben Gruppe gab es in Tuzantan, Huehuetan und Cacahoatan (ibid.). Und ebenfalls am 8. Februar verkündeten Bauern einer neuentstandenen Bauernorganisation aus 60 mehrheitlich indigenen Gemeinden im Staat Puebla, daß sie "die sozialen und politischen Vorschläge des EZLN" unterstützten. Außerdem gibt es Berichte über Landbesetzungen durch Bauernorganisationen in ganz Chiapas. Ein Landeigentümer sagte, es gäbe einen Wettbewerb unter Bauernorganisationen, wer in mehr Farmen eindringen könne (City Sun, 16.-22. Februar 1994). Diese unter vielen anderen ausgewählten Beispiele verfolgen den Prozeß der Neuzusammensetzung der mexikanischen ArbeiterInnenklasse. Aber es gibt eine weitere Neuzusammensetzung, die ihren Anfang nimmt, und zwar zwischen dem Volk von Chiapas und ArbeiterInnen in Europa, den USA und Kanada; denn während der Kapitalismus überall seine Begrenzungen ausprobiert, können Bauern in Frankreich, StahlarbeiterInnen in Italien und KrankenhausarbeiterInnen in New York sich immer leichter mit der Logik einer Bewegung identifizieren, die behauptet, NAFTA sei ein "Todesurteil", und erkennen, daß von deren Erfolg auch ihr eigenes Überleben abhängt. |
||||||||
| [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] |