wildcat.zirkular
 

aus: Wildcat-Zirkular Nr. 3, April/Mai 1994

Zu Flüchtlingsgruppen

SIND DIE IMMIGRANTINNEN AUF UNS ANGEWIE­SEN ?

»Als die 'wildcat' in ihrer Ausgabe nach den Angriffen auf die Flüchtlings­unterkunft in Mannheim-Schönau diese als 'riots von rechts' bezeichnete, als einen fehlgeleite­ten Aufstand der Modernisierungsopfer, konnte das noch als randständige Position bezeichnet werden. Heute ist dieses Erklärungsmuster weit verbreitet.« (Bahamas 10, Gruppe K, Mai 1993)

Ein paar Wochen nach dieser Veröffentlichung schrieb Karl-Heinz Roth in seinem inzwischen vieldiskutierten Aufsatz 'Die Wiederkehr der Proletari­tät': »Angesichts dieser bis vor kurzem für unmöglich gehaltenen Aktualisierung des Rassismus als Verkehrs- und Vermittlungsform von Klassenherrschaft wird es immer schwerer, die in aller Häßlichkeit heraufziehende neue Proletarität in ihrer Gesamtheit – also unter bewußtem Einschluß der gegenwärtig 'nach noch weiter unten tretenden' Segmente - als den nach wie vor primären Bezugs­punkt von sozialischer Politik anzunehmen. Dessenungeachtet bleibt aber jede antirassistische Initiative, die die 'soziale Frage' ausklammert und damit auf die strategische Fähigkeit verzeichtet, sich grundsätzlich auf alle Schichten des neuen Proletariats zu beziehen, auf Sand gebaut.«

Über die Aussage in Bahamas hatten wir uns schon sehr gewundert: zwar waren unsere in der wildcat 60 vertretenen Positionen oft ähnlich verkürzt und denunzie­rend wie oben dargestellt worden, aber daß wir uns damit inzwischen im mainstream der Analyse bewegen, war uns in den Diskussionen in und mit Flüchtlings-, Antifa- und anderen Gruppen nicht klar geworden. Im Gegenteil: Die moralischen Vorbehalte dagegen, nach den sozialen Kräften revolutionärer Umwälzung zu fragen und sich dabei mit der ganzen Widersprüchlichkeit innerhalb des Proletariats auseinanderzuset­zen (wie auch Roth es einfordert), bestimmen immer noch große Teile der Debatte. Immer noch ist in vielen Papieren von Flüchtlingsgruppen vom »reichen Europa und den reichen Europäern«, von »500 Jahren tradierter Verinnerlichung« und »rassistischen Dispositionen der Weißen« die Rede.

Allerdings ist der Unwillen, über den Tellerrand der antirassistischen Selbstver­gewisserung hinauszuschauen, in den letzten Monaten kleiner geworden.

Wir wären Idealisten, nähmen wir an, diese Veränderungen sind auf Artikel wie die in der WC, auf »die Macht des Wortes« also, zurückzuführen. Die banale Erklärung dafür sind eher die drastischen und einfach nicht zu übersehenden Angriffe von Staat und Kapital gegen große Teile der Klasse (und eben nicht nur gegen die Flüchtlinge am unteren Rand der Skala) in der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Lohn- und Wohnungs­politik. Bereits auf den ersten Blick erschiene es absurd und blind gegenüber den Entwicklungen in der gesamten Gesellschaft, z.B. das neue Leistungsgesetz für AsylbewerberInnen zu bekämpfen, ohne nicht wenigstens die Kürzungen für alle anderen Sozialhilfe­empfänger diskutiert zu haben. Ähnliches gilt für den Arbeits­markt: Die Androhung von Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger trifft eben nicht nur Flüchtlinge: die 560.-DM-Jobs unter miesesten Bedingungen haben Kon­junktur, die Nettolöhne sinken auf breiter Front, was sich in den unteren Einkommens­sektoren am meisten bemerkbar macht: die Hetze des Bonner Regimes über den zu geringen Abstand zwischen Einkommen aus Sozialhilfe und unteren Lohngruppen zeigt ja nur noch mal, für welche lächerlichen Löhne viele Menschen ihre Haut verkaufen müssen und daß das auch so bleiben soll.

In Teilen der Flüchtlingsgruppen läuft diese Diskussion unter Stichworten wie 'Antirassistischer Kampf und Verbindungslinien zu anderen Kämpfen'. Exemplarisch ein Papier, das für das bundesweite Treffen von (mehr oder weniger linksradikalen/­autonomen) Flüchtlingsunterstützungsgruppen Ende März 1994 veröffentlicht wurde: » ...(es hat) einige Berechtigung, eine relative Eigenständigkeit rassistischer Unter­drückungen zu betonen. Aber wir kritisieren eine Herangehensweise, die Rassismem verselbständigt, sie völlig aus den sozialen Prozessen herauslöst und in eine vor allem moralische Position verfällt. Wir kritisieren, wenn historische Bezüge vor allem hergestellt werden, um heutige Zustände und Entwicklungen festzu­schreiben." (antirassistischer rundbrief 11) Einschränkend muß gesagt werden, daß dieses Papier von einer Gruppe (aus Hanau) stammt, die sich bereits mit "sozialen Kämpfen" befaßte, als die neuen Antirassismus-Gruppen (entstanden ab 1990 ) noch gar nicht existierten.

Aber auch in eher klassischen autonomen Zusammenhängen schlägt sich die o.g. Diskussion nieder: »Wenn die Stufenleiter der Armut bei dem über den Sozialplan ausgeschiedenen Stahlarbeiter beginnt, weiter runterführt über die alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin zu den obdachlosen Frauen und Männern, zu den ost­europäischen Frauen, die per Menschenhandel massenhaft zur Prostitution gezwungen werden, dann endet sie bei der Flüchtlingsfrau , die – weil Frau- nichtmals mehr den Vorwand einer sogenannten 'politischen Verfolgung' geltend machen kann... – Die bisherigen Proteste, Demos und Aktionen gegen den 'Sozialabbau' konnten die von den Herrschenden betriebene Aufspaltung nicht durchbrechen. Im Gegenteil: Mit der begrenzten Forderung nach Erfüllung 'ihres Sozialplans', 'ihres Bafögs', mit alleinigem Blick auf die eigenen Kartoffeln und der verlorengegangenen Perspektive nach Kampf um den Garten für alle, vertieft sich die Ausgrenzung. – Mit der diesjährigen Maidemo wollen wir einen Punkt gegen diese Entwicklung setzen. Nicht die platte Aufhebung aller Unterschiedlichkeiten, sondern für die Entwicklung eines gemein­samen Bezugs im Kampf gegen den unsozialen Angriff.«
Mag der spezielle Verweis (Stahlarbeiter) auch dem Ort des Geschehens, Dortmund, geschuldet sein, ist es in dieser Szene doch etwas Neues, den über Sozialplan ausgeschiedenen Arbeiter der 'metropolitanen Unterklasse' zuzuschlagen.

In der Praxis der entsprechenden Gruppen spielt die hier skizzierte Diskussion noch keine besondere Rolle. Kein Wunder, denn es ginge dabei ja tatsächlich um den "Kampf um den Garten für alle" (und da haben wir alle große Probleme, auch die, die diesen Kampf mit Haut und Haaren wollen). Außerdem sind wir in der Flüchtlingsarbeit seit Mitte 1993 zunächst mit einer scheinbar anderen Problematik konfrontiert: nach Durchsetzung der neuen Asylgesetze sind die Zahlen der AsylbewerberInnen um mindestens 50% gefallen. Immer mehr Menschen wandern ein und bleiben illegal, weil sie sich zu Recht nichts von einem Asylantrag ver­sprechen. Da der Staat und viele Betriebe vor allem aus Land- und Bauwirtschaft, Gastronomie und anderen Bereichen großes Interesse an Einreise und Verbleib von illegalen Arbeits­kräften haben, war auch nie ernsthaft die Rede davon, die Grenzen zu schließen. Es ging und geht immer um die Regulierung der Einwanderung und die Ausgliederung der Eingewanderten aus den staatlichen Sozialleistun­gen. Auch die mit großen Propagandaaufwand betriebenen Razzien gegen illegale ArbeiterInnen dienen nicht der Abschaffung der Schwarzarbeit zu Niedrigstlöhnen, sondern zur Aufrech­terhaltung des Drucks. Die höher geschraubten Anforderungen für eine gelungene illegale Einreise sorgen automatisch dafür, daß fast ausschließlich die auf dem entsprechenden Arbeitsmarkt Verwertbaren durchkommen: isoliert, billig, flexibel. Und so sollen sie auch bleiben. (s. zu diesem Zusammenhang, wildcat 61)

Schon jetzt gibt es Überlegungen, diejenigen AsyslbewerberInnen nicht mehr abzuschieben, deren Anträge zwar abgelehnt worden sind, die es aber trotzdem aus irgendwelchen Gründen geschafft haben, mehrere Jahre in der BRD zu bleiben. Diese Chance ist seit 1993 allerdings viel geringer geworden, dafür sorgen Abschiebeknäste und verschiedenste Arten von Flüchtlingslagern.

Andersherum bedeutet die Tendenz der Illegalisierung, daß der Anteil an (auch für uns in den Flüchtlingsgruppen) direkt »greifbaren« Flüchtlinge beständig sinkt, und auch die, die noch legal sind, nutzen diese Zeit inzwischen verstärkt, um sich Einkommen und Wohnung für die Zeit "danach" zu suchen. Das macht z.B. die Kämpfe um volle Sozialhilfe (statt Freßpakete) nicht wirkungsvoller, wie Erfahrun­gen aus mehreren Städten zeigen: In Hagen/Westfalen z.B. verweigerten 150 Flüchtlinge fast 7 Wochen die Annahme der Freßpakete, und stiegen – unter dem Druck, tatsächlich nichts zu essen zu haben – in den für sie offenen Arbeitsmarkt ein. Diese meist individuelle Vorsorge für die Zeit »danach«, aber auch die vielen kleinen, immer wieder und oft unvermutet, manchmal auch von uns unbemerkt auf­flackernden Kämpfe gegen ihre ihnen hier aufgezwungenen üblen Lebens­bedingun­gen sprechen aber eine deutliche Sprache über die Energien vieler Flüchtlinge. Allerdings gilt die im Dortmunder Flugblatt zitierte Beschrän­kung auf die jeweils spezifische Forderung einer Gruppe oder in einer Situation auch für viele der Flüchtlinge: In Freiburg konnte per Demon­stration, Hungerstreik etc durchgesetzt werden, daß alle Flüchtlinge, die bereits 1 Jahr oder länger da waren, Bargeld statt Pakete bekommen; die so Aufgestiegenen waren bei den folgenden Aktionen nicht mehr gesehen.

Aus diesem sich beschleunigenden Prozeß der Illegalisierung heraus führen viele Flüchtlingsgruppen seit ca 1 Jahr verstärkt die Diskussion über Zufluchtsprojekte, d.h. über den Aufbau von Strukturen, die Illegalen das Überleben erleichtern. Diese Projekte sind, wie Eberhard Jungfer (in seinem Vortrag auf der Veranstaltung zu »L'Affiche Rouge« schreibt), bisher nicht über die Anfänge hinausgekommen und bewegen sich in kleinen Kreisen. Communities, deren soziale Zusammenhänge ein Überleben auf Dauer gewährleisten können, existieren hier in der BRD bundesweit bisher nur für Türken/Kurden und Menschen aus dem früheren Jugoslawien, sowie für einige andere Gruppen auf lokaler oder regionaler Ebene. Eine Dauerlösung kann das Abtauchen ohne lebensfähige soziale Zusammenhänge nicht sein, das wissen auch und gerade die betroffenen Flüchtlinge. Deshalb geht es in der Praxis der Zufluchts­projekte bisher um kurzfristiges Vermeiden einer Abschiebung (um in der Zwischen­zeit eventuell neue juristische Ansprüche zu formulieren) oder um Hilfe bei der Weiterwanderung in andere Länder, wo die entsprechende Community weiter entwickelt ist.

Die Flüchtlinge haben -ohne irgendwelche Unterstützung von uns- bereits die großartige Leistung gebracht, auf eigene Faust hierherzukommen und ihre Ansprüche auf ein besseres Leben anzumelden. Das soll kein Plädoyer dafür sein, die Flüchtlinge jetzt vollkommen sich selbst oder den Wohlfahrts- und Kirchen(ver­bänden) zu überlassen. Eher ein vorsichtiger Hinweis darauf, daß wir uns durchaus die Frage gefallen lassen müssen, ob die Flüchtlinge nicht auch ohne uns auskommen, wir zumindest nicht in dem Maße "gebraucht" werden, wie wir uns das oft einbilden oder wünschen.

Mit der bisherigen Art der Arbeit kann einigen wenigen individuell das Überleben erleichtert werden. Inzwischen wird in der Unterstützungsszene sogar über das Heiraten von Flüchtlingen zwecks (massenhafter?) Aufenthalts­sicherung geredet, eher ein Ausdruck der Ratlosigkeit als der politischen Initiative.

Was uns in den Flüchtlingsgruppen fehlt, und das ist angesichts der eigenen Einschätzung der Lage durchaus dramatisch, ist eine Vorstellung darüber, in welche politische Perspektive wir unsere Arbeit einordnen wollen, über welches gesell­schaftliche Projekt, weg vom Teilbereich 'Flüchtlingsarbeit', wir diskutieren, wie eben nicht nur die eigenen Kartoffeln sondern der Garten für alle erkämpft werden kann.

Auch wenn es auf den ersten Blick paradox ausschauen mag: wenn wir es ernst damit meinen, die 100.000en Illegalen dabei zu unterstützen, hier trotz Gesetzen, Razzien, Geldmangel, Schwarzarbeit etc ein besseres Leben zu führen, dann wird das perspektivisch nur gehen, wenn wir uns nicht auf die Illegalen konzentrieren, sondern die Punkte aufspüren, von denen aus wir gemeinsame Kämpfe entwickeln wollen. Die Chancen dazu stehen gar nicht schlecht: Gerade in den letzten Monaten haben wir lernen können, daß Flüchtlinge und immer größere Teile der hier schon länger (oder immer) ansässigen Klasse um ähnliche Sachen kämpfen müssen.

N. 21.4.1994

  [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]