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aus: Wildcat-Zirkular Nr. 3, April/Mai 1994

Ein paar Anmerkungen zum »Winterpapier« aus Bremen

Im Dezember letzten Jahres hat das »Anti-Rassismus-Büro Bremen« einen Text herausgegeben, der »die neuen Flucht­punkte für die sozia­len Konflikte der 90er Jahre« aufzeigen soll. Im Unterschied zur Mehr­heit der autono­men Flüchtlings­grup­pen und −initiativen versucht diese Grup­pe aus Bremen schon seit längerem, die Probleme und Kämpfe der Flüchtlinge in die Gesamtheit von sozialen Konflikten einzuordnen, durch Aktionen die Spaltun­gen zwischen eingewander­ten und ein­heimischen Teilen der proletarischen Klasse zu überwin­den, und sie hat wie­derholt auf Treffen Vorschläge in diese Richtung gemacht.

Wo sind die »Fluchtpunkte«?

Der Titel und Aufbau dieses Textes legen nahe, daß es hier um eine genauere Be­gründung und Perspektiven für diese politische Orientie­rung geht, die wir angesichts der üblichen Herauslösung der Flücht­lingsfrage aus dem Gesamt­zusam­menhang der metropolitanen Klas­sen­kämpfe nur begrüßen können. Umso enttäuschter war ich nach der Lektüre des Textes. Erstens bleibt mir trotz mehr­maligem Lesen schleierhaft, worauf der/die AutorInnen (?) hinauswollen. »Nun wird eine sozial geprägte Verortung, deren Inhalte existentieller sein werden, an die Stelle der moralischen treten. (...) Die Aufgabe von Linken wird sein, sich um jeden Preis in­nerhalb dieser Koordina­ten zu bewegen und dort eine neue Rolle einzunehmen.« (S. 18) Ich will nicht behaupten, daß ich diese Schlußsätze des Papiers wirklich ver­stan­den hätte. Aber selbst bei einigem Rätseln komme ich nicht da­hinter, welche neue Rolle hier vorgeschlagen wird. Oder flüch­tet sich das Papier in die theoretisch gut klingende Allgemeinheit, weil es auch nicht so recht weiß, was wir in nächster Zeit machen sollten. Einen Vorschlag kann ich hier beim besten Willen nicht erkennen. Und auch nichts Neues.

Es mag ja sein, daß wir alle aufgrund des »erschütternden Mangels von richtungs­wei­senden Kämpfen« (S. 15) in einer politi­schen Krise und in Unklarheiten stecken − dann sollten wir das so und offen disku­tieren und uns nicht hinter hochtrabenden Begriffen verstecken und behaup­ten wir wüßten, was die »Fluchtpunkte der sozia­len Konflikte der 90er Jahre« sind. Das mit dem »erschütternden Mangel« macht sich heute gut und fließt locker aus der Feder − aber stimmt es denn? Was ist denn »richtungsweisend«? Seit dem Zu­sammenbruch der sogenannten Block­spaltung hat es mehr und heftigere Kämp­fe überall auf der Welt gegeben als in den 80er Jahren. Ist es nicht vielleicht nur unser sub­jektives Problem, daß wir etwas richtungslos geworden sind und daher diese Kämpfe gar nicht wahrnehmen, weil wir sie in unsere Vorstellung von »rich­tungs­weisend« nicht eingeordnet bekom­men?

»der Blick von oben« − ist immer der falsche Blick

Die Stelle mit dem »erschütternden Man­gel« findet sich nach einem Überblick über die Krisenpolitik des Kapitals in den letzten zwanzig Jahren, der mit der Be­merkung abgeschlossen wird, daß der Blick von oben wahrlich apokalyptisch sei. Die Darstellung tut so, als könnten wir uns die Geschichte einmal von oben und dann von unten angu­cken. In der gesam­ten Darstellung der Krisenpolitik taucht nur das Kapital und seine Planer als Sub­jekt auf. Wenn, so wie es das Papier tut, die Planungen und Handlungen des Kapi­tals aus den ständigen Kämpfen herausge­löst werden, darf man sich nicht wundern, wenn am Schluß auch nur eine Geschich­te der ungeheuerlichen Machen­schaften des Kapitals herauskommt. Nur hat das mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die können wir nur verstehen, wenn wir ständig das Kampfverhältnis im Auge haben. Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen und eben nicht die Geschichte des Kapitals. Da hilft es auch nichts, wenn nachher auch noch die Ge­schichte der sozialen Konflikte angefügt wird. Die tatsächliche Entwicklung läßt sich überhaupt nicht begreifen, wenn sie nicht auf das ständige Kampfverhältnis zurückgeführt wird. Die ganze Darstellung müßte in dieser Weise korrigiert werden: die schnelle Wiederver­einigung war nicht ein vom Kapital einseitig festgelegtes Mittel der Krisenpräven­tion (S. 6), son­dern fand unter dem Druck von unten statt. Gerade die Kapitalspitzen hatten vor dieser übereilten Wiedervereinigung ge­warnt, weil ihnen schwante, daß dies nur weitere soziale Ansprüche mit sich bringen würde (heute wissen wir, daß Kohl gedopt war!). Die gesamte Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte er­scheint in dem Papier als eine raffinierte Planung des Kapitals. Sie ist aber eine Antwort des Kapitals darauf, daß weite Teile der Klasse von sich aus den rigiden Arbeitsmarkt mit 8-Stunden-Normalar­beitstag in Frage gestellt hatten, daß Frau­en aus ihrer zum Normalarbeitstag kom­plementären Rolle der Hausfrau ausgebro­chen sind usw.. Ich hab jetzt nicht die Zeit, das genauer auszuführen. Aber: nur wenn wir die Entwicklung aus diesem Blickwinkel der Klassenkämpfe und neuen Verhaltens­weisen im Proletariat entschlüs­seln, können wir praktische Antworten und Vorschläge finden, die auf der Höhe der Zeit sind. Das wird am besten an den vergeblichen Versuchen von linken Ge­werkschaftern und Reformisten deutlich, die versuchen, die alte, idyllisch verklärte Normalausbeutung zu verteidigen − und sich wundern, daß sie damit keine Katze hinter dem Ofen hervorkriegen.

... und theoretisch? Kein Beitrag zur Diskussion!

Das Unangenehmste an dem Papier finde ich die Art, wie mit der theoretischen Diskussion in der radikalen Linken umge­gangen wird. Sie wird ignoriert und statt dessen werden alle möglichen Beiträge aus dieser Diskussion in nichtssagenden Fuß­noten angeführt − wobei es völlig unwich­tig ist, was die eigentlichen Aussagen der angeführten Schriften sind, wie sie sich auf die Diskussion (!) beziehen und in wel­chem Verhältnis sie untereinander stehen. Es ist die pure Beliebig­keit. Das Verfahren erinnert an eine Erscheinung, die früher zurecht als »Uni-Bluff« kritisiert wurde. Nur exemplarisch will ich diese Metho­de an dem Abschnitt »Krise und Vernich­tung« verdeutlichen. Unter dem Motto »ein bißchen Krisentheorie« werden hin­tereinander­weg R. Strehle, M. Tronti, E.P.Thompson und D. Hartmann zitiert, als würde sich aus ihren Texten eine Krisentheorie zusammensetzen lassen. Wir sind sehr dafür, daß die revolutionäre Debatte − in die all diese Schriften hin­eingehören − genauer geführt wird. Aber nicht so!

Zunächst erklärt der Text, daß es sich um eine »Verwertungskrise« handele und verweist dazu auf R. Strehle, der tatsächlich in Anleh­nung an den italienischen Opera­ismus von »Verwertungskrisen« spricht. Nur ist Strehle meilenweit vom operaisti­schen Ansatz und einer Überwindung der Marx-Orthodoxie entfernt. Er redet zwar viel (zuviel) von Dialektik, die besteht bei ihm aber nur darin, daß er sich von seiner Marx-Orthodoxie nicht trennen kann und andererseits die politischen Überlegungen des Operaismus oder der Zeitschrift »Au­to­nomie/Neue Folge« politisch sehr inter­essant findet. Das gipfelt in Sätzen wie: »Ich kann nicht allein aus den Bewegungs­gesetzen des Kapitals schließen, ob eine Krise ansteht oder nicht.« (S. 45) Es gibt sie also, diese ominösen »Bewegungsgesetze«, aber allzu ernst nehmen sollten wir sie auch nicht. Bei aller Freundschaftlichkeit in der Formulie­rung hat D.Hartmann das Buch daher in seinem Nachwort in Grund und Boden kritisiert und ihm sein Festhalten an der Marx-Orthodoxie (die Hartmann wiederum mit Marx verwechselt) vorge­rechnet.

Als nächstes führt das Winterpapier den Begriff des »Nicht-Werts« zur Krisen­erklä­rung ein. Zuerst wird uns per Fußnote nahege­legt, er solle so verstanden wer­den, wie er von Tronti ausgehend von Marx einge­führt wird. Dieser Eindruck wird noch durch die Formulie­rung ver­stärkt: »Die Vorstel­lung argumentiert aus dem Inneren der politischen Ökonomie heraus und vermag den dem Kapital äußerli­chen Antago­nismus, den 'Nicht-Wert' (Tronti) nicht aus der Wertetheorie heraus zu erken­nen.« Bei unvoreingenomme­ner Satzanaly­se ergibt sich daraus, daß der Antago­nis­mus aus der Werttheorie heraus erkannt werden soll. So oder ähnlich ließe sich das Anliegen Trontis tatsächlich charakterisie­ren − zumindestens was den Zusammen­hang betrifft, nur daß Tronti selbst ihn umgekehrt herstellt: der An­tagonismus liefert erst die Basis der Marx'schen Kritik des Wertbe­griffs. Stutzig macht uns aber schon die Formulierung »dem Kapital äußerlich«. »Antagonis­mus« übersetzt mein Fremdwörter­lexikon mit Gegensatz, Wi­derstreit usw.. Wie soll der äußerlich, also die Sache, das Verhältnis nicht wesentlich tangie­rend sein? Entweder er ist äußerlich, dann juckt es das Kapital nicht; oder es ist ein An­tagonis­mus, dann gehört es ganz wesentlich zur Bestimmung des Kapitals dazu. Im über­nächsten Satz − den dazwi­schenliegenden mit der »Inwertsetzung« überspringe ich − läßt das Papier aber keinen Zweifel mehr, daß nicht Tronti gemeint war, als es ihn zitierte: »Der soziale Antagonismus spielt sich also nicht in­nerhalb des Kapitalverhält­nisses ab«, und verrät uns unvor­sichtiger­weise, was hier unter Kapitalverhältnis verstanden wird, nämlich das (offen­sichtlich quanti­tativ betrachtete) Verhältnis von fixem und varia­blem Kapital. Dort sucht niemand, nicht ein­mal der geschmäh­te orthodoxe Marxis­mus den An­tagonis­mus festzu­ma­chen! Gegen wen wendet sich das Papier hier? Als Alternative zu »innerhalb des Kapitalverhältnisse« wird der Antagonis­mus zwi­schen Kapital und »Nicht-Kapital, sowie dessen Subjektivität« eingeführt. Diese philosophische Abstrak­tion »Sub­jektivität« wird zum Feind des Kapitals erkoren − und über­strahlt mit seinem Glanz natürlich die dreckigen Gestalten wirkli­cher Proleta­rierInnen. Diese Metho­de, abstrakte Ideen wie »Subjektivität«, »Leben­digkeit«, »Fremdheit« usw. zu wirklichen, handelnden Sub­jekten zu machen, stammt von D. Hartmann. Sie steht in völligem Gegensatz zu dem, was Tronti auf der einen, oder Thompson auf der anderen Seite in ihren Schriften tun.

Die Erwähnung der Subjektivität bringt uns im nächsten Satz zum Leben. Leben führt zum Tod. Es wird Zeit, ein bißchen Bevölkerungs­politik zu erwähnen. »Der Erhalt von Leben ist ein Kostenfaktor« (und die einzige Quelle von Wert, also von kapitalistischem Reichtum! Aber das liegt ja schon drei Sätze zurück.). »Nur so erklärt sich die Tendenz des Kapitals, stän­dig Leben (und Waren [soll hier ganz ne­benbei ein Antago­nismus zwischen Kapital und Waren aufgemacht werden???]) zu vernichten ...«, was Heim/Aly die »Ratio­nalität der Vernichtung« genannt haben sollen. Die Unbe­stimmtheit des Prono­mens (sie nann­ten »das« (was?) die Ratio­nalität der Vernichtung) läßt offen, ob Heim/Aly die »Ten­denz des Kapitals« oder das sich Entpuppen der Rationalisierung als pure Gewalt als »Rationalität der Ver­nichtung« bezeichneten. (Die rhetorische Begeisterung für die »pure Gewalt«, die er sich auch aus dem Stil von D. Hartmann angeeignet hat, wäre eine eigene Betrach­tung wert: Gewalt ist nie pur, sie ist im­mer vermittelt. Selbst die unbegreifli­chen Naturgewalten vermitteln sich die Men­schen durch Götter oder Naturwissen­schaft. Für den historischen Prozeß und die Entwick­lung zur Revolution ist nur entscheidend, wie sich Gewalt vermittelt, wie bestimmte historische Vermitt­lungs­formen zusammen­brechen. Daß die Ge­walt in der Geschichte herrscht, ist eine Banalität, und der anklagende Gestus des Geredes von der »puren Gewalt« entsteht erst vor dem Hintergrund der modernen bürgerli­chen Ver­kehrs­formen, die sich – nach Klassenlage sehr unterschied­lich! − den Anschein eines gewaltfreien gesell­schaftlichen Zusammen­hangs ver­mitteln können.) Auch hier versteckt das Papier die ganze Problematik und Diskussion hinter der Bequemlichkeit der Fußnote. Was nennen Heim und Aly die »Rationalität der Ver­nichtung«? Da sehe ich die größte Schwä­che ihres Buches. Sie arbeiten historisch heraus, daß der Holocaust keine Irratio­nalität oder Entgleisung der Zivilisation war. Wo es aber um den Inhalt der wir­kenden »Rationali­tät« geht, kommen nur die ökonomi­schen Selbstvergewisserungen der nazistischen Planer − also deren Ideo­logie ... und, müßte jetzt des Winterpa­piers schreien, also nur platter Ökonomis­mus.

Und zum Schluß noch ein Schuß Thomp­son: »Leben und das daraus abgeleitete (!) Existenzrecht«. Thompson hat nie aus »dem Leben« ein Existenzrecht abgeleitet, den Versuch gab es allenfalls in der Dis­kus­sion innerhalb der Zeitschrift »Autono­mie«. Überhaupt waren Thomp­son solche abstrakten Gedankendinger fremd. In der zitierten Schrift erklärt er, was er mit »moralischer Ökonomie« meint: »... diese Proteste bewegten sich im Rahmen eines volkstümlichen Konsens darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei. Dieser Konsens wiederum beruhte auf einer in sich geschlossenen, tradi­tionsbestimmten Auf­fassung von sozialen Normen und Verpflich­tungen und von den angemesse­nen wirt­schaftlichen Funktionen mehrerer Glieder in­nerhalb des Gemeinwesens. Zusammenge­nommen bildeten sie das, was man die 'moralische Ökonomie' der Armen ... nennen könnte. Eine gröbliche Verletzung dieser moralischen Grundannahmen war ebenso­häufig wie tat­sächliche Not der Anlaß zu direkter Aktion.« (S. 70) Das hat nichts mit einem allgemeinen »Existenzrecht« zu tun, das zum »eigentlichen Antipoden des Kapitalismus« stilisiert wird.

Weiter unten (Fußnote 48) führt er dann noch­mal Thompson – in einem Atemzug mit A. Meyer – an, um zu sagen, daß sich Widerstand nicht als Klasse, sondern als »Betroffenheit und soziale Verortung« kon­stituiert. Also statt einem Begriff, der besag­tem Thompson wie weni­gen anderen am Herzen lag (sein Hauptwerk heißt »The Making of the English Working Class«, in dem er sich deutlich gegen die Rede­weise von den Unterklassen wen­det), das Sozialarbeiter­geschwafel der 80er Jahre.

Der Umgang mit theoretischen Texten und der Diskussion um sie ist einfach nicht ernsthaft. Die ständigen Verweise sollen nur etwas aufwerten, was für sich genommen jede innere Schlüssigkeit ver­mis­sen läßt. Dadurch klingt der Text nicht nur aufgeblasen, er ist es!

So wichtig es wäre, innerhalb der Diskus­sion um Flüchtlingspolitik und unsere Initiativen dazu, theoretisch, historisch und praktisch eine Perspektive der proleta­ri­schen Revolution zu entwickeln − dieses Papier ist noch nicht einmal eine Diskus­sions­grundlage dafür.

F.

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