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aus: Wildcat-Zirkular Nr. 5, Juli 1994

Einleitung für die Diskussionen

Treffen in Biedenkopf, 2.-5. Juni 1994

Das mache ich an vier verschiedenen Strängen.
1) will ich nochmal zusammenfassen, welche Absichten wir hatten, als wir im letzten November in diesem Haus dieses Treffen planten.
2) will ich kurz etwas zur allgemeinen politischen Lage sagen
3) will ich auf die hier versammelten Erfahrungen eingehen
4) zur Notwendigkeit und Möglichkeit der Revolution kommen

1) Unsere Absichten

Es gab im letzten November ein Treffen von ungefähr 25 Leuten aus dem Um­kreis der Wildcat. Dabei haben wir beschlossen, daß es so nicht weiterge­hen kann.
Wir dachten uns: wir wollen wieder eine bessere Organisierung. Und unter dem Ein­druck der Kämpfe in Frankreich - damals vor allem des Streiks bei Air Fran­ce - und unsere Eindrücke bei zwei Veranstaltungsrundreisen durch zehn Städ­te sag­ten wir uns: dies ist heute auch möglich.
Die Zeit, daß wir alle nur dastehen und zuschauen, was an sozialen Umbrü­chen um uns herum passiert, ist vorbei. Wir wollen uns wieder einmischen. Die Mini-Initiativen und vor allem die Aufspaltung in Teilbereiche überwinden und end­lich wieder eine gemeinsame Diskussion über unsere Perspektiven führen.
Perspektive: (Wie kommen wir zur Revolution?)
und dabei auch unseren Standpunkt offensiv vertreten. (Klassenposition)

Wir dachten, daß es an der Zeit ist, einen Prozeß einzuleiten, an dessen Ende minde­stens ne präzisere Auseinanderset­zung/Abstimmung/"Vernetzung" der In­i­ti­ativen in 20, 30 Städten steht. Als Schnittpunkt so eines Prozesses sollte ein großes Treffen dienen, auf dem wir gemeinsam unsere Erfahrungen in diversen ArbeiterIn­nen-, Erwerbslosen-, Flüchtlings- usw.-Initiativen auswerten und prak­ti­sche politi­sche Vorschläge entwickeln, wie wir in Zukunft gemein­sam, zielge­richte­ter und besser organisiert an die Sachen drangehen (D.h. weder ein reines "Erfah­rungs­austausch­treffen" von Initiativen in einem Teilbereich, noch wollten wir versuchen, in einer Abflauphase auf tönernen Füßen eine nationale Organi­sa­tion zu errichten).

Krise

Wir haben im November auch über die aktuelle Krise diskutiert und festge­stellt, daß wir einen erheblichen Auf­arbeitungsbedarf haben. Eine neue theore­tische An­strengung notwendig ist. Dabei war unser Problem, daß es schwierig war, überhaupt Diskussionspartner zu finden. Es wird zwar in der Linken z.Zt. viel über Krise diskutiert, aber nie erstmal das, was sie ist, in den Vordergrund gestellt: eine tiefe Krise des Kapita­lismus, die tiefste mindestens in diesem Jahrhundert, vielleicht sogar seine letzte ... - die Not­wendigkeit des Kommunismus. ...

Im Gegenteil ist die Diskussion zum einen sehr akademisch, zum anderen refor­mi­s­tisch. Nach dem Ende des realen Sozialismus suchen viele nicht mehr nach einer Al­ter­native, sondern vertreten, daß ein "gebändigter Kapitalismus" die beste aller Mög­lich­keiten sei, die erreichbar sind. Andere malen ein Global­bild der Krise an die Wand, weisen in allen Einzelheiten nach, daß ein reformi­sti­scher Ausweg sehr unwahrschein­lich ist, suchen dann aber doch nach den klein­sten Lücken für einen solchen.

Andere uns in vielen Punkten (bisher) nahestehende Gruppierungen vertreten Positio­nen, die wir politisch kritisieren und bekämpfen müssen. (Materialien - Arbeiterkampf in Deutschland - riecht nach Gas)

Quer durch die Linke haben sich Positionen breitgemacht, die um die Frage von Iden­tität, ethnischer Zugehörigkeit, die Unfähigkeit der Menschen, sich selbst zu regieren, die Notwendigkeit eines starken Staates, die Entwicklung der zivilen Gesellschaft usw. kreisen. Als Linke, die am Prinzip des Klassenkampfs festhält, sind wir in der klaren Minderheitenposition. Es wird an dieser Ecke zu weiteren Verschärfungen in den nex­ten Jahren kommen, und wir denken, daß hier wirk­lich Klärungsbedarf besteht.

Der Text von Bellofiore, den wir für das 1. Zirkular übersetzt haben, war einer der einzigen neuen Texte, der sich mit Krise, Marktwirtschaft und Planwirt­schaft ausein­andersetzt und an der Idee des Kommunismus festhält.

Dann gab es noch ein paar Texte zur Krise aus unserem Kreis dazu. Sehr viel weiter sind wir mit der Diskussion leider nicht gekommen. (Dazu gibt gleich nachher noch Beiträge.)

Ursprünglich wollten wir genau das: deutlich machen, daß in der heutigen Situa­tion die Spielräume für reformistische Politik sehr eng sind. Daß es viel­leicht ein­facher ist, die Revolution zu machen.

(Siehe unten Revolution: wenn es und heute völlig utopisch vorkommt, von Revo­lution zu reden, dann sollten wir uns kurz vor Augen halten, was in den letzten fünf Jahren alles passiert ist... Tien-an-men, Umbruch in Osteuropa,...
oder was bloß in den 7 Monaten, seit wir dieses Treffen beschlossen haben, pas­siert ist: Jugendbewegung in Frank­reich, Aufstand in Chiapas ...)

2) Die aktuelle Lage

Aber da, wo wir was erwartet hatten, ist nix passiert:
Bei der Vordiskussion im November hatten wir eigentlich erwartet, daß auf­grund der massiven Kürzungen von Sozialleistungen und erhöhten Steuern zum einen die Tarif­auseinandersetzungen im Frühjahr etwas heißer als üblich ver­laufen. Und daß es außer­dem zu Mobilisierungen z.B. von Erwerbslosen kom­men wür­de, denen ebenso wie den Arbeitenden Einkommen gekürzt wurde.
Genau dies ist nicht eingetroffen. Die Krisenpropaganda von Staat und Kapital hat sich zu einer wirklichen Rezession ausgewachsen, in deren Zug Entlassun­gen und Lohnkür­zungen durchgesetzt wurden. Das Kapital ist an mehreren Fronten durch­marschiert und hat eine weitere Flexibilisierung der ArbeiterIn­nen durch­gesetzt.
Der Klassenkampf war auf eine seltsame Weise blockiert. Einerseits war die Beteili­gung an den gewerkschaftlichen Warnstreiks wesentlich größer als in den Jahren zuvor. Von der Masse her waren vielleicht noch nie so viele Arbeite­rIn­nen an Warnstreiks beteiligt. Auch Angestellte und viele Nichtgewerkschafts­mitglieder waren dabei. Dann wurde aber der 2%-Abschluß hingenommen. Das heißt aber nicht, daß es ein neues Vertrauen in die Gewerkschaften gäbe: die DGB-Kund­ge­bungen 1. Mai waren eine ziemliche Katastrophe.

Um die heutige Situation zu verstehen, müssen wir uns nochmal klarmachen, was in den letzten fünf Jahren passiert ist. Vor genau fünf Jahren wurde in Pe­king die Be­wegung auf dem Tien-an-men-Platz von der Armee zusammen­ge­schossen - eine Be­we­gung, die keineswegs nur eine kleinbürgerliche Studen­ten­be­wegung war. Als im Herbst die Demos in der DDR begannen, trauten sich die Herrschenden keine sol­che Lösung mehr zu. 1990 hatten wir doch alle das Ge­fühl, daß es nur besser wer­den kann. Von heute aus gesehen, kann man den Einschnitt etwa am Golfkrieg fest­machen. Da wurde zum ersten Mal klar, daß das Ende der Blockkonfrontation nicht zu weltweitem Frie­den führt, son­dern die innerkapitalistische Konkurrenz zunimmt. Der Golfkrieg bedeutete eine sozialpolitische Wende, eine Verhärtung der Fron­ten - in Ländern wie Großbritannien und Frankreich ganz unmittelbar - bei uns mit zweijäh­riger Verspätung. Für viele in der BRD wird seither erst richtig er­fahrbar, was Kapita­lismus ist.

Gleichzeitig ist er scheinbar alternativlos.

Es gibt zwar weltweit jede Menge sozialer Aufstände, aber häufig werden dabei Aus­wege gesucht in Nationalismus und Separatismus.

Ansonsten scheint es keinerlei Utopien mehr zu geben - weder auf kapitalisti­scher Seite, aber auch nicht auf der Seite der Klasse.

Der einzige Lichtblick war am 1. Januar der Aufstand in Chiapas - ausgerech­net in einem Land, das über die Mitglied­schaft in der NAFTA Ziel massiver In­vesti­tionen sein sollte.

Die Zapatistas sind ein Beispiel dafür, wie schnell eine Situation umschlagen kann - in Mexiko haben sich seither einige Kämpfe auf den Aufstand in Chia­pas bezo­gen, ist eine breite soziale Diskussion und Bewegung in Gang gekom­men, deren Ende völlig offen ist, wo die Aufständischen aber anscheinend bei weitem die besseren Karten haben. ist der Subcommandante zur populärsten Figur ge­worden...

Ein anderes Beispiel, das näher an uns dran ist, ist die Bewegung der Schüle­rInnen und StudentInnen in Frankreich gegen das Niedriglohn-Gesetz. Inner­halb von Wo­chen hat sich dort eine massenhafte Bewegung entwickelt, die wirklich revolu­tionä­re Demos gemacht hat - in dem Sinn, daß sie von den Straßen Besitz ergrif­fen haben und in ihren Parolen die Utopie von einer ande­ren Gesellschaft sichtbar wurde.

Für die Kapitalseite können wir sagen: das Kapital hat gerade einen Durch­marsch gemacht, Aber die neu durch­gesetzten Bedingungen sind auch nur ein kurzfristiger Ausweg aus der langdauernden Krise, keine Lösungsstrategie. Zum dritten Mal seitdem die Arbeiterkämpfe 68-73 das Kapital in diese Krise getrie­ben haben, geht es in einen Boom - ohne daß es in der hinter uns liegenden Rezession die wesentli­chen Krisen­ursachen beseitigen konnte...

3) Erfahrungen, die hier versammelt sind - was können wir miteinander disku­tieren — Erwartungen

Vor fast dreizehn Jahren haben wir damals noch als Karlsruher Stadtzeitung eine große Nummer zum Thema Opera­tion 82 gemacht. Darin haben wir das Kri­sen­szenario aufgezeichnet:
was noch an sozialstaatlichen Maßnahmen auf uns zu kommt;
wie die Arbeitsverhältnisse prekarisiert werden,
was Flexibilisierung bedeutet usw.

Das alles ist in den letzten Jahren umgesetzt worden.

Da können einem schon manchmal so dumme Gedanken kommen: was hat uns all dieses Wissen genutzt, wir haben die Entwicklung nicht aufhalten kön­nen.

Es gab zwar seit damals immer wieder Initiativen, die gegen Zwangsarbeit mobi­li­sier­ten, Jobber organisierten,... aber aus keiner einzigen konnte eine organisier­te massenhaf­te Kraft entstehen. Viele Grüppchen sind schnell wieder eingegan­gen, andere haben sich institutionalisiert, sind zu anerkannten Diskus­sionspart­nern, Vertretern geworden, haben sich professionalisiert. Andere haben überlebt als Basis­initiative, haben aber ihre Ziele immer weiter runter­schrauben müssen. (Bsp.: Wer von denen, die mal über revolutionäre Flüchtlingspolitik diskutierte, konnte sich mal vorstellen, für die Forderungen: Sozialhilfe statt Freßpakete auf die Straße zu gehen?)

Zu der blockierten Situation im Klassenkampf gehört auch, daß diese Gruppen ihre praktische Arbeit vollkommen von der Frage der Revolution trennen. Eini­ge von ihnen richten Forderungen an den Staat: vom Existenzgeld bis dahin, daß der Staat gegen die Nazis härter vorgehen soll. Die revolutionäre Alternative wäre im Gegenteil, Forderun­gen an das Proletariat zu richten, kon­krete Hilfelei­stung zu organisieren, um gegen Rassismus und Faschisten vor­zugehen...

4) Revolution

In Zeiten der Abwesenheit von Utopien ist die Gefahr groß, in der Tagespoli­tik auf­zugehen. Zum Beispiel in der Fabrik nur noch um Für und Wider der Grup­pen­arbeit zu diskutieren - und überhaupt nicht mehr grundsätzlich den Kapitalis­mus zu kritisie­ren. (im Unterschied dazu hat man in den 70er Jahren im Betrieb durchaus darüber diskutiert, welchen Sozialismus, welchen Kom­mu­nismus wollen wir ...

Wir denken, daß es heute wieder wichtig ist, über die Notwendigkeit und Mög­lichkeit der Revolution zu diskutieren und dafür Propaganda zu machen.

Der Frontverlauf der nexten Jahre ist klar: Boom auf der Basis von weiter pre­ka­ri­sierten und entgarantierten Teilen der Arbeiterklasse; Verschärfung der Aus­gren­zung von Leistungsunfähigen oder -unwilligen; weiterer Ausbau von dritten und vierten Arbeits­märkten, weitere Multinationalisierung des Kapitals im Sinne des Gegeneinanderaus­spielens von Standorten...

Der Frontverlauf ist klar, das Ergebnis des Kampfes nicht!

Wenn wir uns einmischen wollen, brauchen wir eine breitere Diskussion als bisher darüber.

Diese Diskussionen müssen wir immer wieder zusammenbringen mit der sozia­len Wirklichkeit, mit den wirklichen Bewegungen in der Klasse.

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