wildcat.zirkular
 

aus: Wildcat-Zirkular Nr. 5, Juni 1994

PROBLEME DER FLÜCHTLINGS­GRUPPEN

(es handelt hier sich um eine überarbeitete Fassung, die meinen schriftlichen Stichworten folgt - das Originalreferat lag nicht ausformuliert vor. Es versteht sich als Zuspitzung des Textes "Sind die ImmigrantInnen auf uns angewiesen?", Zirkular3, S. 6ff)

Vor ca vier Jahren (Sommer 1990), also vor der ersten großen Welle von Flücht­lings­gruppen-Gründungen (nach den Überfällen in Hoyerswerda im Herbst 1991) ha­ben wir begonnen, uns hier das erste Mal intensiver mit Flüchtlingen ausein­an­der­zusetzen: in unserer Stadt waren in kurzer Zeit mehrere Hundert Roma aus Rumä­nien und aus Jugoslawien angekommen, und es begann sehr schnell eine üble Hetz­kam­pagne von Verwaltung, Politik und Presse dagegen, daß die Flüchtlinge nicht dank­bar waren für die Unterbringung in Zelten und die Verpflegung aus der Gulasch­kanone des Roten Kreuzes. Im Gegenteil, die Flüchtlinge stellten Forderun­gen nach Geld, Wohnungen und Arbeit. Auf diese Weise sind wir schnell in Kontakt gekommen. Unsere kleine "Flüchtlingsgruppe" hat in den vergangenen vier Jahren fast alles (mit)gemacht, was in der "Flüchtlingsarbeit" üblich ist, um die "Rechte" der Flüchtlinge (mit ihnen gemeinsam) durchzusetzen und die vielfältigen Angriffe auf sie abzuwehren. Und wir haben auch viele Schwierigkeiten mit dieser Arbeit bekommen, was unser Selbstverständnis, unsere Grenzen, politische "Notwendigkei­ten", Zusammenarbeit mit anderen Gruppen u.ä. angeht.

Die folgenden Thesen sind zwar auch ein Produkt unserer Gruppendiskussionen bzw der Erfahrungen mit anderen (und anderer) Gruppen, die hier vertretenen politischen Positionen gehen allerdings allein auf meine Kappe.

  1. Die Schwierigkeiten vieler Flüchtlingsgruppen damit, sich auf die gesamte Bandbreite von Klassenrealität und vor allem deren Widersprüchlichkeit wenigstens gedanklich einzulassen, verweist darauf, wie tief verschüttet ein gesamtgesell­schaftlicher, revolutionärer Anspruch in diesen Bereichen des Linksradikalismus bereits ist. Die triple-oppression-Debatte wurde z.B. nie ernsthaft geführt, es ging immer um double-oppression, kapitalistische Ausbeutung kam nicht vor. Das ist sicherlich erklärbar durch den Nachholbedarf in der (männerdominierten) links­radikalen Szene, sich systematisch mit den gesellschaftlichen und persönlichen Dimensionen von Rassismus und Sexismus auseinanderzusetzen, aber die weitgehen­de Ausblendung kapitalistischer Mechanismen aus der Diskussion und vor allem aus der politischen Praxis ist symptomatisch für die Entwicklungen der letzten Jahre.
  2. Andererseits ist in der aktuellen Praxis vieler dieser Gruppen zu sehen, daß die antirassistischen Selbstvergewisserungen durch die Realität aufweichen, da inzwischen große Teile der Klasse (und eben nicht nur die Flüchtlinge) massiv angegriffen werden: Wohnung, Lohn, Arbeit, Sozialleistungen.
    Diese Entwicklung wurde in den "Materialien für einen neuen Antiimperialismus" bereits Anfang 1993 folgendermaßen beschrieben: "Wir werden erleben, daß die Forderungen (Anm. d.V.: der Flüchtlinge) nach egalitären Lebensverhältnissen lautlos in Kämpfe in der Produktion und Reproduktion übergehen werden, in eine breite Kritik der Produktions- und Lebensverhältnisse. Das werden zunächst unspektakuläre Entwicklungen sein, und wahrscheinlich werden sie von der antirassistischen Linken kaum wahrgenommen werden." (Nr.5., S. 18)
  3. Westeuropa und die BRD befinden sich erst am Anfang von neuen Migrations­bewegungen v.a. aus Osteuropa; die Lebensbedingungen der MigrantInnen und immer größerer Teile der hier schon immer oder länger lebenden Klasse werden sich angleichen; es kommt zu einer Neuzusammensetzung der Gesellschaft von unten.
  4. Flüchtlinge/ImmigrantInnen sind meistens ProletarierInnen. Diese Perspektive kam bereits 1987 in den Thesen zur Flüchtlingsfrage 1987 (aus dem Umkreis der Autonomie) zum Ausdruck: "Ob einer hier als Flüchtling gilt oder als Arbeits­immigrant, hat in erster Linie damit zu tun, ob und in welcher Form seine Arbeitskraft gefragt ist, und wenig damit, warum er aus seinem Land aufgebrochen ist... Im Begriff des Wirtschaftsflüchtlings steckt die Wahrheit, daß es eindeutige Grenzen zwischen den Fluchtgründen politischer Mittelschichten, für die das Asylrecht geschaffen war, der Arbeitsmigration und der Flucht als Suche nach Überleben und Einkommen nicht gibt." (zitiert nach Wildcat 42, S. 65ff) "Flüchtlinge kommen immer zur falschen Zeit, denn kämen sie zur rechten Zeit, wären sie keine Flüchtlinge sondern ArbeitsmigrantInnen und ImmigrantInnen." (s. Zirkular3, S.70ff, Referat über Migrationspolitik).
  5. Wenn die Anzahl der Illegalen gezielt erhöht wird, und das war eine der Absichten der neuen Asylgesetze, sorgt das automatisch für eine Regulierung. Nur die Fittesten sollen auf Dauer noch durchkommen (im wesentlichen die Männer zwischen 20 und 40) und in Landwirtschaft, Gastronomie und auf dem Bau arbeiten: isoliert, billig und flexibel.
    Illegalisierung bedeutet oft auch noch weitere Vereinzelung der Flüchtlinge, der Auf­bau einer Infrastruktur und tragfähiger Communities dauert Jahre, funktionie­rende Communities gibt es hier bisher erst für KurdInnen (oft nach politischen Organisa­tio­nen getrennt), "JugoslawInnen" und Roma (oft nach Herkunft getrennt).
  6. In unserer Praxis der Zusammenarbeit mit Flüchtlingen ist zu fragen: Wie nehmen die Flüchtlinge eigentlich uns, die Leute aus den Flüchtlingsgruppen, wahr? Warum haben wir eigentlich einen "Angriff auf den Staat etc" vor, wo wir doch in den Augen vieler Flüchtlinge hier noch einigermaßen gut leben? Was bedeutet die weitgehende Trennung von "Sozialberatung für Flüchtlinge in allen Lebenslagen" und unserer eigenen sozialen Reproduktion?
  7. Die seit 1 Jahr aufgebauten Zufluchtsprojekte können bisher einigen wenigen Flüchtlingen eine Atempause zur Neuorientierung verschaffen, eine dauerhafte Existenz in der Illegalität kann in der Praxis kaum aufgebaut werden und ist auch von den Gruppen bisher nicht angestrebt. Dies würde auch erfordern, auf andere Weise als bisher im Alltag mit den sozialen Realitäten der Flüchtlinge konfrontiert zu sein: z.B. selber im immer größer werdenden prekären Sektor zu arbeiten (oder andere enge Berührungspunkte zu haben) wäre ein anderer Ausgangspunkt für das Zusammentreffen mit Illegalen hier, als die bloß moralische Fragestellung, ob wir als Linke dabei helfen sollten, Illegale billig auf den Arbeitsmarkt zu "vermitteln".
  8. Wofür gehen Flüchtlingsgruppen heute eigentlich auf die Straße? Wir befinden uns immer noch im Rückwärtsgang gegen die unheimliche Schnelligkeit der sozialen und politischen Angriffe des Staates gegen die Flüchtlinge, viele unserer Forderungen sind nur defensiv: für Sozialhilfe in bar, für öffentliche Telefonanschlüsse in den Flüchtlingsheimen, für den staatlichen Schutz der Flüchtlinge.
  9. Der generelle Mangel in den Flüchtlingsgruppen besteht darin, daß unser Blick auf die eigenen Kartoffeln gerichtet ist, nicht auf den Kampf um den Garten für alle. Was können zB. sinnvolle Initiativen angesichts der verschärften Abschiebepolitik des Staates sein, die Gruppen aus verschiedenen Bereichen gemeinsam machen können?
  10. Die Suche nach einer hegemonialen Klassenfigur, wie sie Mitte der 80er Jahre in die MigrantInnen aus dem Trikont hineininterpretiert und inzwischen klamm­heim­lich fallengelassen wurde, braucht -zumindest an dieser Stelle- nicht neu beginnen.<
    Die Flüchtlinge werden nicht die Kraft sein, hier die Klassenkämpfe zu verein­heitlichen, aber ihre Kämpfe sind ein wichtiger Bestandteil.
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