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aus: Wildcat-Zirkular Nr. 6, August 1994

Im folgenden bringen wir den zweiten Teil einer auf drei Teile angelegten Auseinan­dersetzung der britischen Zeit­schrift "Aufheben" mit der Krisentheorie. Wir haben das übersetzt, weil es sehr viele interessante Parallelen zu unserer eigenen Debatte aufweist, die wir zwar vor über einem halben Jahr angefangen, seither aber kaum systema­tisch geführt haben. Wir hoffen, daß unserer eigenen Debatte damit wieder etwas mehr Leben eingehaucht werden kann. Natürlich beziehen sich die britischen Genossen in ihrem Text stark auf die Diskussion in Britannien und auf Theorien, die für ihre eigene politische Entwicklung wichtig waren. Einiges davon ist für deutsche LeserInnen nicht so ohne weiteres verständlich. Wir haben trotzdem darauf verzichtet, alle vor­kom­menden Namen in einem breiten Fußnoten-Apparat erklären zu wollen. Dies hätte den Text sehr stark ausgeweitet − ihn dadurch aber nicht "gründli­cher" gemacht. Wir denken, es ist besser, Ihr benutzt ihn als Anregung, schlagt vielleicht den einen oder anderen Autor selber nach (Man­del, Mattick, Castoriadis, Debord usw. gibt es alle auch auf deutsch – und mit dem Regula­tions­ansatz haben wir uns ja in zurückliegen­den Zirkularen bereits recht ausführlich beschäftigt) – und vor allem: disku­tiert den Artikel und schreibt Eure Meinung!

Der Verfall: Theorie vom Niedergang oder Niedergang der Theo­rie?

In diesem Artikel geht es um die Theorie, daß der Kapitalismus sich im Nieder­gang oder Zusammenbruch befindet. Diese Beschreibung »der Epoche« entspricht einem Schema, nach dem der Kapitalismus im Stadium des Handels­kapitalis­mus vom Ende des Feudalismus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts seine Jugend erlebte, in der libera­len Laissez-Faire-Phase in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in voller Blüte stand und mit seinem Eintritt in das Stadium des Imperia­lismus und Mono­polkapitalismus mit seinen Formen von Ver­gesell­schaftung und Planung der Produk­tion den Anfang der Übergangs­periode zur nachkapitali­stischen Gesellschaft markiert.

Im ersten Teil sahen wir, daß diese Idee vom Niedergang oder Verfall des Kapita­lismus aus dem Marxis­mus der II. Internationale stammt und von den beiden Strö­mungen beibehalten wurde, die als die wahren Fortführer der »klassi­schen marxisti­schen Tradi­tion« auftreten − dem trotzkistischen Leninismus und dem Links- oder Rätekommunis­mus. Diese Traditionen behaupten beide, sie erhielten gegen die reformistischen Marxi­sten, die inzwischen den Kapitalis­mus verteidigten, den wahren Marxismus aufrecht. Unserer Meinung nach hat die II. Internationale u.a. deshalb praktisch versagt, weil dem »klassischen Marxismus« der revo­lutionäre Aspekt von Marxens Kritik der politi­schen Ökonomie theoretisch verloren ge­gan­gen war und er zu einer objektivistischen Ideologie von den Produk­tivkräften geworden war. Gerade das Festhalten an der Vor­stellung vom Zusammenbruch des Kapitalismus zeigt deut­licher als alles andere, daß diese Traditionen sich nicht vom objektivistischen Marxis­mus gelöst haben. Während der Trotzkismus und der Linkskommunis­mus nach dem Zweiten Weltkrieg an ihren Positionen festhielten, obwohl der größte Boom in der kapitalisti­schen Geschichte klar dagegen ­sprach, versuchten einige Revolutionäre, eine revolutionäre Theorie für die neuen Bedin­gungen zu entwi­ckeln. Diesen Strömun­gen wenden wir uns jetzt zu.

Wir sehen uns drei Gruppen an, die sich von der Orthodoxie losgesagt haben − Socia­lisme ou Barbarie, die Situationi­stische Inter­nationale und die italienische operai­stisch-autonome Strömung. Wir beschäftigen uns auch mit der Neube­haup­tung der Zusam­men­bruchstheorie und der Ablehnung des Niedergangs innerhalb des Objek­tivismus.

1) Der Bruch mit der Orthodoxie

a) Socialisme ou Barbarie

Socialisme ou Barbarie (Sozialismus oder Barbarei), deren Haupttheoretiker Casto­riadis (alias Cardan oder Chalieu) war, war eine kleine französi­sche Gruppe, die mit dem orthodoxen Trotzkismus brach. Sie hatte beträchtlichen Einfluß auf späte­re Revolu­tionäre. In Groß­britannien machte die Gruppe Solidarity ihre Ideen populär mit Bro­schüren, die immer noch als zugäng­lichste Kritik des Leninismus auf hohem Niveau im Umlauf sind. Zu den stärksten Seiten von Socialisme ou Barbarie gehörte zweifellos, daß sie sich auf neue For­men von autonomen Arbei­terIn­nenkämp­fen außerhalb ihrer offiziellen Orga­nisationen und gegen ihre Führer konzentrierten. [1] Ob­wohl Socialisme ou Bar­barie klein war, waren sie so­wohl in Fabriken als auch in proletarischen Kämp­fen außerhalb der Produktion präsent.

Socialisme ou Barbarie konnten die wirklichen Formen von Arbeiterkämpfen theo­retisch er­fassen und an ihnen teilnehmen, was z.T. daher kam, daß sie die verding­lichten Katego­rien des orthodoxen Marxismus ablehnten. In Modern Capita­lism and Revolution faßte Cardan die­sen Objektivismus als Sichtweise zusammen, daß eine Gesellschaft so lange nicht ver­schwinden könne, bis sie all ihre Möglichkeiten wirt­schaftlicher Aus­dehnung erschöpft hätte, und daß die »Entwicklung der Pro­duktiv­kräfte« außerdem die »objektiven Wider­sprüche« der kapitalisti­schen Wirt­schaft verschärfen werde. Sie werde zu Krisen führen − und diese wür­den das ganze System zeitweilig oder auf Dauer zusammenbrechen lassen. [2] Cardan lehnt die Vor­stellung ab, daß Kapitalisten und ArbeiterInnen einfach den Gesetze des Kapi­tals un­terlägen. Wie er sagt: »Nach dieser Auffassung werden die wiederkehrenden und sich vertie­fen­den Krisen des Systems durch die ›inneren Gesetze‹ des Systems be­stimmt. Er­eignis­se und Kri­sen sind eigent­lich un­abhängig von den Handlungen von Menschen und Klassen. Men­schen können nichts am Wirken dieser Gesetze ändern. Sie kön­nen nur intervenieren, um das System als ganzes abzuschaffen.« [3] Socialisme ou Bar­barie meinte, der Kapitalismus habe durch Staatsausgaben und keynesianische Nach­fragesteue­rung seine Krisentendenz gelöst und nur einen abge­schwächten Wirtschafts­zyklus übriggelassen. Cardans Angriff darauf, daß der or­­thodoxe Marxismus einer Krisentheorie aus dem 19. Jahrhundert anhing, saß. Die Bedin­gun­­gen hatten sich verändert − im Nachkriegs­boom steuerte der Kapitalis­mus seine Krisen.

Aber statt daraus abzuleiten, daß damit die objektive Grundlage für revolutionäre Verände­run­gen weg­fiel, faßte Socialisme ou Barbarie das Verhältnis zwischen kapi­talistischer Ent­wicklung und Klassenkampf anders. Wie Cardan es ausdrückt, ist »die reale Dynamik der ka­pi­talistischen Gesellschaft die Dynamik des Klassenkampfs«. Unter Klassen­kampf verstehen sie da­bei nicht nur die ersehnte Revolution, sondern auch den alltäglichen Kampf. Mit dieser Wen­de in der Theorie des Kapitalismus hin zur tag­täglichen Realität des Klassenkampfs und ihrem Versuch, die neuen Bewegungen außerhalb der offiziellen Kanäle theoretisch zu fassen, wendet sich Socialisme ou Bar­barie also auch von der Perspektive des Kapitals der Per­spektive der Arbeiterklasse zu. In der mechanischen Niedergangs- und Zusammen­bruchs­theorie unter­lagen die or­thodoxen Marxisten der Perspektive des Kapitals, und so eine Perspektive wirkt sich auch auf die Politik aus, die man macht. Mit der Kri­sentheorie lehnte Socialisme ou Barbarie auch die damit ver­bundene Politik ab, denn wie Cardan schreibt, behauptet die objektivi­stische Krisentheorie, daß die ArbeiterInnen die Wider­sprüche des Kapi­tals aufgrund ihrer eigenen Erfahrung ihrer gesellschaftlichen Lage nur erleiden, aber nicht verstehen könnten. Dieses Verständnis könne sich nur aus einem »theoreti­schen« Wis­sen über die ökonomi­schen »Gesetze« des Kapitals ergeben. Daher könn­ten die Arbei­te­rInnen nach Auffassung der marxistischen Theoretiker angetrieben von ihrer Revolte gegen die Armut, aber unfähig, sich selbst zu führen (da ihre be­schränkte Erfahrung keine Gesamtsicht der gesellschaftli­chen Realität zuläßt), ... nur eine Infanterie bilden, über die ein General­stab von revolutio­nären Generälen verfügt. Diese Spezialisten wissen (durch Wis­sen, zu dem die Arbeiter als solche keinen Zugang haben), was genau in der modernen Gesell­schaft nicht funk­tioniert... [4]

In der Theorie vom Zusammenbruch des Kapitalismus geht die Ökonomie m.a.W. Hand in Hand mit dem avantgardi­sti­schen »von außen kommenden Bewußtsein« aus Was tun?.

Beim Versuch der Neubegründung einer revolutionären Politik lehnte Socialisme ou Barbarie zu Recht die orthodoxe Auffassung ab, die Verbindung zwischen objekti­ven Bedingungen und subjektiver Revolution sei die sich ständig verschärfende Krise, die das Proletariat zum Handeln zwinge, wobei die Partei (da sie »die Krise« verstehe) die Führung über­nehme. Da es keine Krise, wohl aber Kämpfe gab, war die Ableh­nung des traditionellen Modells tatsäch­lich eher hilfreich als hinderlich. Am besten war Socialisme ou Barbarie, wenn sie sich dem realen Prozeß des Klas­senkampfs zuwandte, eines Kampfs, der sich mehr und mehr gegen die Form der kapitalisti­schen Arbeit selbst richtete.

Die Menschlichkeit des Lohnarbeiters wird immer weniger durch ökonomi­sches Elend bedroht, das seine bloße körperli­che Existenz in Frage stellt. Sie wird mehr und mehr von der Art und den Bedin­gungen der modernen Ar­beit angegrif­fen, von der Unterdrückung und Entfremdung, der der Arbeiter in der Produktion ausgesetzt ist. Auf diesem Gebiet kann es keine dauerhafte Reform geben. Die Arbeitgeber können die Löhne um drei Prozent im Jahr erhöhen, aber sie können die Entfrem­dung nicht um drei Prozent im Jahr senken. [5]

Cardan wandte sich gegen die Auffassung, der Kapitalismus, seine Krisen und sein Nieder­gang würden vom Wider­spruch zwischen Produktivkräften und privater An­eignung vor­angetrieben. Stattdessen meinte er, in der neuen Phase des »bürokra­tischen Kapitalismus« bestehe die grundlegende Trennung in der zwischen Befehls­gebern und Befehls­empfän­gern und der Grundwiderspruch darin, daß die Befehls­geber den Be­fehls­empfängern die Entschei­dungsmacht vor­enthalten müßten und gleichzeitig auf ihre Beteiligung und Initiative ange­wiesen seien, wenn das System funktio­nieren solle. Statt Krisen auf ökonomischer Ebene, meinte Cardan, sei der bürokratische Kapitalis­mus nur vorüberge­henden Krisen der Organi­sa­tion des gesell­schaftlichen Lebens ausge­setzt. Die Vorstellung von einer all­gemeinen Ten­denz zum bürokratischen Kapitalis­mus mit der wesentlichen Unterscheidung zwi­schen Befehls­gebern und Befehls­empfän­gern schien zwar nützlich, um die Kon­tinuität zwischen dem westlichen und dem östlichen System auszuma­chen − in beiden Situationen haben die ProletarierInnen nicht die Kontrolle über ihr Leben und werden herum­kom­mandiert −, aber solch eine Unterscheidung erfaßt nicht, daß sich der Kapitalis­mus von anderen Klassenge­sell­schaften dadurch unterscheidet, daß die Befehlsgeber nur Befehlsgeber sind aufgrund ihres Verhältnisses zum Kapi­tal, das in seinen ver­schiede­nen Formen − Geld, Produk­tionsmittel, Ware − die Selbstaus­dehnung ent­fremdeter Arbeit ist. Die Tendenz zur Bürokratie ersetzt nicht die Gesetze des Kapi­talismus, vor allem den Fetischismus der gesell­schaftlichen Ver­hältnisse, sondern drückt sie nur auf höherer Ebene aus. Die Rückkehr der Krisen Anfang der 70er Jahre zeigte, daß das, was Cardan bürokratischen Kapitalis­mus nannte, keine end­gültige Transformation des Kapitalismus war, die die Wirt­schaftskrisen abschaffte, sondern nur eine besondere Form des Kapitalismus, in der Krisentendenzen zeitwei­lig kontrolliert wurden.

Cardan und Socialisme ou Barbarie dachten, sie hätten Marx überwunden, indem sie den "Grundwiderspruch" des Kapitalis­mus darin sahen, daß das Kapital »seine Ziele durch Methoden verfolgen muß, die eben diesen Zielen ständig zuwiderlau­fen«, näm­lich daß der Kapitalismus den Arbeitern die Beteiligungmacht nehmen muß, die es an ihnen eigentlich braucht. Tatsächlich ist dieser Widerspruch gegen­über Marx über­haupt keine Verbesserung, sondern nur ein Ausdruck der grundle­genden ontolo­gischen Verkehrung, die, wie Marx erkannte, dem Kapitalismus zugrundeliegt − der Prozeß, in dem Menschen Objekte und ihre Objekte − Waren, Geld, Kapital − Subjekt werden. Natürlich braucht das Kapital unsere Beteiligung und Initiative, denn selbst hat es keine. Die Objektivität und Subjektivität des Kapitals ist unsere entfremdete Sub­jekti­vität. Die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitals verbreiten die Ideologie, daß wir es brau­chen − wir brau­chen Geld, wir brauchen Arbeit −, aber in Wirklichkeit ist es vollkommen abhängig von uns. Der »Grundwiderspruch« von Socialisme ou Barbarie erfaßt nicht die ganze Radikalität der Marxschen Kritik der Ent­frem­dung. Was sie als Erneuerung präsentierten, war m.a.W. in Wirklichkeit eine Verarmung der Marxschen Theorie. Ihre Theorie läßt sich aber als Reaktion auf einen − ob stalinisti­schen oder trotzkistischen − Marxis­mus verstehen, dem verloren gegangen war, wie zentral die Marxsche Kritik der Entfremdung ist, und der zu einer Ideologie der Produktiv­kräfte, einer kapitalisti­schen Ideologie geworden war.

Da Socialisme ou Barbarie die Fehler des orthodoxen Marxismus nicht wirklich begriff, war es möglich, daß einige seiner Probleme außerdem in ihrer eigenen Ideo­logie wieder auf­tauchten. Man könnte sagen, daß Socialisme ou Barbarie mit ihrer Erkenntnis, daß der Befehlsgeber von der Arbeiterkontrolle des Produktions­prozesses abhängt, und ihrem auf die Lohnarbeit gestützten Räte-Programm [6] zeig­te, wie sehr sie noch in der Räteperspektive feststeckte, von der einige ihrer kon­kreten Unter­suchungen des Arbei­terwiderstands sie hätten abbringen sollen, d.h. der Perspektive der qualifizierten tech­nischen Fach­arbeiterIn. Die Perspektive und Kämpfe, die den Nachkriegsboom mit einem Krach beenden sollten, waren die des Massen­arbeiters. Während die radikale Perspektive der FacharbeiterIn, da sie den ganzen Produktions­prozeß verstand, zu einer Vor­stellung von Arbeiterkontrolle tendier­te, durch die man den kapitalisti­schen Parasi­ten los wäre, tendierten die Kämpfe der taylori­sierten MassenarbeiterIn zur Ablehnung des ganzen entfremdeten Arbeits­prozesses, zur Verweige­rung der Arbeit.

Das Interessanteste an Cardans Marx- und Marxismus-Kritik ist, daß sie im Kapital die Wurzel der orthodoxen marxistischen Sterilität ausmachte. Für Cardan ist das Problem am Marxschen Kapital »seine Methodik. Die Marxsche Theorie vom Lohn und die daraus abgelei­tete Theorie von der steigen­den Aus­beutungs­rate gehen von einem Postulat aus: daß der Arbeiter vom Kapitalismus völlig »ver­ding­licht« (auf ein Ob­jekt redu­ziert) ist. [7] Die Marxsche Krisentheo­rie geht von einem im Grun­de ana­lo­gen Postulat aus: daß Men­schen und Klassen (in diesem Fall die Kapitali­sten­klasse) keinen Einfluß auf das Funktionieren ihrer Wirtschaft haben. Beide Postulate sind falsch... Beide sind notwendig, um aus der politischen Ökono­mie eine "Wissenschaft" zu machen, in der ähnliche "Geset­ze" herr­schen wie in der Genetik oder der Astronomie ... Sowohl Arbeiter als auch Kapitalisten erschei­nen im Kapital als Objekte ... Marx, der die wesentliche Rolle des Klassen­kampfes in der Geschchte entdeckte und un­ermüdlich pro­pagierte, schrieb ein monumentales Werk (Das Kapi­tal), in dem der Klassen­kampf prak­tisch nicht vorkommt!« [8]

Cardan hat etwas Wesentliches erkannt − daß der Klassenkampf eben durch die Met­hode, die Marx im Kapital benutzt, relativ an den Rand gedrängt wird. Dieser Aus­schluß der Frage des Klassenkampfes und der proletari­schen Subjektivität ist die the­oretische Grundlage der objektivistischen Zusammenbruchstheorie. Cardan re­a­giert, indem er das Kapital aufgibt. Ähnlich begründet Cardan seinen Angriff auf den ten­denziel­len Fall der Profitrate haupt­sächlich mit der Behauptung, Marx habe ge­glaubt, daß der reale Lebensstan­dard und die Reallöhne der Arbeiterklasse kon­stant bleiben würden. [9] Das stimmt aber nicht. Das Kapital nimmt das als proviso­ri­­sche Hypthese an − das ist ein Teil des provisori­schen Ausschlusses der Subjekti­vi­­­tät im Kapital. Marx war sich immer darüber bewußt,daß das, was als notwen­di­ge Lebensmittel gilt, Ergeb­nis eines Kampfes ist, aber im Kapital nimmt er sie als kon­stant an, weil er sich mit ihnen im »Buch über die Lohnarbeit« beschäftigen will, das nie geschrie­ben wurde. [10] So wird der Wert der Arbeitskraft im Kapital nur aus Sicht des Kapi­tals be­han­delt, weil es Marx hier im wesentlichen darum ging, zu zeigen, wie der Kapita­lismus mög­lich war. Damit der Kapitalismus existie­ren kann, muß er die ArbeiterIn verdingli­chen, aber damit die Arbeite­rIn existieren und das Niveau ihrer Bedürfnisse steigern kann, muß sie gegen diese Verdingli­chung kämp­fen. Im Kapital zeigte Marx dem Proletariat, wie der Kapitalismus funk­tionierte. So eine Dar­stellung gehört zur Überwindung des Kapitalismus, aber sie reicht nicht aus. Das Problem am objektivi­stischen Marxismus ist, daß er das Kapi­tal für voll­ständig hält. Daher hält er den provisorischen Ausschluß für endgül­tig. Car­dans Kritiken sind wichtig, weil sie die Einseitigkeit des Kapital erfassen, und das Nicht-Erkennen dieser Einseitigkeit führt zur Einseitigkeit des or­thodoxen Marxismus. [11]

So verständlich es in Zusammenhang mit dem Nachkriegsboom ist, daß Cardan und Socia­lisme ou Barbarie die Krisen­theorie und später Marx ablehnten − es war eine Überreaktion, die selbst dogmatisch wurde. Cardan und viele andere Socialisme-ou-Barbarie-Theoretiker wie Lyotard und Lefort machten Karriere an der Uni. In den 50er und 60er Jahren gaben Cardans Ideen Revolutionä­ren eine überlegene Waffe gegen die Leninisten an die Hand, aber als in den 70er Jahren die Krise zurückkehr­te, leugneten die restlichen Socialisme-ou-Barbarie-Anhänger sie genauso dogmatisch, wie die alten Linken nach ihrem Ausbleiben auf ihr beharrt hatten. Man könnte sagen, daß die Theorie von Socialisme ou Barbarie zwar im wesentli­chen falsch war, aber daß an der Gruppe weder ihre abweichende Kapitalismus-Theorie noch das spätere Gefasel Cardans wichtig waren, sondern die Vorreiter­funk­tion ihrer Kritik des or­thodoxen Marxismus für spätere Revolutionäre. Socialis­me ou Barbarie entdeckte den revolutionä­ren Geist bei Marx wieder − der nichts anderes ist als eine Offenheit für die wirkliche Bewe­gung, die sich vor unseren Augen vollzieht.

b) Die Situationistische Internationale

Mit am wichtigsten an der Analyse von Socialisme ou Barbarie war, daß sie der Kampf der ArbeiterInnen gegen die Entfremdung innerhalb und außerhalb der Fa­brik aner­kannten. Die Situationisten gingen über alle bisherige Kritik der moder­nen Formen von Entfremdung hinaus und unterwarfen die kapitalistischen Verhält­nisse einer tota­len Kritik. Die Situationi­sten meinten, die Revolution hinge nicht von der absoluten Verarmung des Proletariats durch die kapitalisti­sche Krise ab, sondern das Proletariat werde gegen seine materiell ange­reicherte Armut revoltieren. Gegen die kapitali­sti­sche Realität der ent­fremdeten Produktion und des entfremde­ten Konsums entwickelten die Situationisten eine Vor­stellung davon, daß es jen­seits des Kapitalis­mus[12] für jedes Indivi­duum die Möglichkeit geben werde, sich voll an der ständi­gen, bewuß­ten und absichtlichen Verwandlung jedes Aspekts und Moments unseres Lebens zu beteiligen. Ihre Weigerung, das Politische und das Persönli­che zu trennen − sie lehnten die Politik des sich Opferns des Militan­ten ab und kritisierten damit den objektivistischen Marxis­mus in einer gelebten Einheit von Theorie und Praxis, Objektivität und Subjektivität − gehörte zu den wichtig­sten Beiträgen der S.I. Man könnte sogar sagen, daß die Situationisten mit der Erkenntnis, daß die Revolution jeden Aspekt unseres Han­delns umfassen und nicht nur die Produktions­verhältnisse ändern muß, die Revolution − die der Leninismus fälschlicherweise mit der Erobe­rung des Staates und dem Weiter­gang einer durch die Wirtschaft bestimmten Gesell­schaft gleichgesetzt hatte − neuerfun­den haben.

Während Socialisme ou Barbarie ihre Ablehnung von Marx fetischisierten, entdeck­ten die Situationisten seinen revolutionä­ren Geist wieder.[13] Das Kapitel »Das Pro­le­tariat als Sub­jekt und als Repräsentation« in Debords Gesell­schaft des Spekta­kels ist eine scharfsinnige Untersuchung der Geschichte der Arbeiterbewegung. Einer von Debords wichtigsten Beiträ­gen zur Frage der Krise und des Nieder­gangs[ 14] ist sei­ne Kritik an dem Versuch, die prole­ta­rische Revolution auf vorherige Umbrüche der Produktions­weisen zu gründen. Die bürger­li­che Revolution unterscheidet sich in Auf­gaben und Wesen ganz grundegend von der proleta­rischen. Dem Proletariat geht es in der Revo­lution nicht darum, effektiver mit den Produk­tivkräften um­zugehen; das Proletariat schafft die Trennung zwischen ihnen ab − und damit auch sich selbst. Das Ende des Kapitalis­mus und die proletarische Revolution unter­schei­den sich von allen bisherigen Umbrüchen, deshalb können wir unsere Revolution nicht auf frühere gründen. Eigent­lich gibt es nur ein Modell − die bürgerliche Revolu­tion −, und von dieser muß sich unsere Revolution in zwei grundlegenden Punkten unterscheiden: Die Bourgeoisie konnte zuerst ihre Macht in der Wirt­schaft aufbauen und das Prole­tariat nicht; sie konnte den Staat benutzen und das Proletariat nicht. [15]

Diese Punkte sind wichtig, um unsere Aufgabe zu verstehen. Die Bourgeoisie mußte sich in ihrer Revolu­tion nur bestätigen, das Proletariat muß sich in seiner negieren. Natürlich werden orthodoxe Marxisten zugeben, daß die proletarische Revolution irgendwie anders ist, aber sie denken diesen Gedanken nicht zuende. In der Vorstel­lung vom Niedergang des Kapitalismus steckt eine Analogie mit vorheri­gen Syste­men, nach der der alten Ordnung die Puste ausgeht und die neue schon bereit steht; die wirtschaftliche Macht hat sie schon, jetzt muß sie einfach noch die politische hinzuer­obern. Aber dieses Modell vom Umbruch der Produktionsweisen trifft nur auf den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zu; der Übergang vom Kapi­talismus zum Sozialismus/Kommunismus muß anders sein, weil er einen vollständi­gen Bruch mit den gesamten politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen enthält. Der Staat läßt sich dabei nicht benutzen, da er dazu da ist, um in einer ökonomischen gespalte­nen Gesell­schaft eine Einheit durchzuset­zen, während die proletarische Revo­lution diese Tren­nungen niederreißt. [16]

Zum Teil meinten die orthodoxen Marxisten, der Sozialismus ließe sich mit Hilfe des Staa­tes aufbauen, weil sie von Marxens Kritik der politischen Ökonomie beein­druckt waren und durch sie zu politischen Ökono­men wurden. Marx hatte zwar keine politi­sche Ökonomie geschrieben, sondern ihre Kritik, aber sie begün­stigte in mancher Hinsicht solche eine Ver­wässerung des Projekts. Wie Debord schreibt:
»Die deterministisch-wissenschaftliche Seite im Marxschen Denken war genau die Lücke, durch die der Prozeß der "Ideologisierung" noch zu sei­nen Lebzei­ten ins theoretische Erbe einging, das er der Arbei­terbewegung hinterließ. Die Ankunft des historischen Subjekts wird weiter verschoben, und zuneh­mend sorgt die Ökonomie, die histori­sche Wissen­schaft par excellence, dafür, daß es zukünftig ne­giert werden muß. Aber dabei wird die einzige Wahrheit dieser Negation aus dem theoretischen Blickfeld ver­drängt: die revolutionä­re Pra­xis.« [17]

Damit ist beschrieben, wie der "klassisch-marxistischen" Tradition bei ihrer Über­nah­me des Kapital die Zentralität der "Kritik" verloren geht. Da ihnen entgeht, wie wich­tig dieser grundlegende Aspekts des Marxschen Projekts ist, verkommt ihre Arbeit zur »marxistischen politischen Ökonomie«. Wie wir in bezug auf Cardan anmerkten, liegt eine der theoreti­schen Grundlagen des objektivistischen Marxis­mus in seiner Annahme, die methodischen Be­schränkungen des Kapitals seien endgültige Beschränkungen des­sen, wie wir uns die Überwindung des Kapitalismus vorzustellen haben.

Nahmen die Objektivisten das Kapital als Grundlage eines linearen Modells von Krise und Niedergang, so reagierten die Situationisten auf diesen Mißbrauch der Kritik der politischen Ökonomie aber, indem sie sie fast gar nicht mehr benutzten. Für die Situa­tionisten besteht die Kritik der politischen Ökonomie im we­sentlichen aus der »Herr­schaft der Ware«. Sie verstehen die Ware als komplexe gesellschaftli­che Form, die alle Lebensbereiche durchdringt, aber sie gehen nicht wirklich auf ihre Komplexitäten ein. Es lohnt sich, die Komplexitäten und Vermittlungen der Waren­form − daraus besteht der Rest des Kapitals − zu verstehen. Der Rest des Kapital besteht in der Entfaltung dieses Wider­spruchs auf immer höherem Kon­kretionsni­veau. Diese methodische Dar­stellung ist möglich, weil der Anfang zu­gleich ein Er­gebnis ist. Die Ware, die am Anfang des Kapitals steht, ist schon das Ergebnis der kapita­listischen Produktions­weise als Gesamtheit, das heißt, in ihr steckt schon Mehrwert, und sie drückt den Klassen­antagonismus aus. Die Ware enthält also in gewissem Sinne die Gesamt­heit des Kapita­lismus. Mehr noch: Die Ware drückt aus, daß die Klassen­herr­schaft die Form der Herrschaft quasi-natürli­cher Dinge annimmt. Die situationistische Kritik trifft tatsäch­lich, weil »die Ware« die kapitalistische Pro­duktionsweise in ihrer unmittelbarsten gesell­schaftlichen Erscheinungsform zu­sam­menfaßt. Vor allem bei Fragen wie der Krise müssen wir uns aber mit den Ver­mitt­lungen dieser Form beschäfti­gen.

Statt das Kapital abzulehnen (oder zu ignorieren), sollte man darauf hinweisen, daß es unvollständig ist, daß es nur ein Teil eines umfassenden Projekts »der Kapitalis­mus und seine Überwindung« ist, in der die Selbsttätigkeit der Arbeiter­klasse die zentrale Rolle spielt. Die Situationisten betonten wieder die aktive Rolle des Sub­jekts und bestanden auf der »einzigen Wahrheit dieser Negation«. Gegen all die wissen­schaftli­chen Marxisten, Althusse­rianer, Leninisten usw. war das richtig. Prin­zipiell ist das immer richtig. Dem orthodoxen Marxismus, der sich in der politi­schen Ökono­mie verloren hatte, war die reale Bedeutung der revolutionären Praxis verloren gegan­gen. Die Situationisten gewannen dieses zentrale Element bei Marx zurück, indem sie die Frühschriften und das erste Kapitel des Kapital vorzogen. Die Situationisten drückten theoretisch aus, daß das Proletariat die revolutionäre Sub­jektivi­tät wieder­entdeckt hatte, und inspirierten damit 1968 und seitdem eine Menge Leute. Für uns sind sie heute ein wesentlicher Bezugspunkt. Aber diese Wiederbehaup­tung des Subjekts in Theorie und Praxis hat den Feind damals nicht besiegt, sondern nur das Kapital in die Krise ge­stürzt.

In der neuen Phase, die die proletarische Offensive in den späten 60er und 70er Jahren er­öffnete, sollte die Krise − einschließlich ihrer "ökonomischen" Seite − wie­der zu einem zen­tralen Element der proletari­schen Theorie werden. Aber die Situa­tionisten hatten im wesent­lichen den Standpunkt von Socialisme ou Barbarie über­nom­men, daß der Kapitalis­mus seine Tendenz zur wirtschaftlichen Krisen überwun­den habe. [18] Es war etwas Wahres an Debords Kritik der bürger­li­chen Per­spektive, die hinter der angeblichen Wissenschaft der Vertreter der Krisentheorie lag, aber daß er den Begriff der Krise völlig verwarf, war ein Fehler. In The Verita­ble Split geben Debord und Sanguinetti wenigstens zu, daß die Krise zurückge­kehrt ist, wenn sie sagen: »Selbst die alte Form der einfachen Wirtschaftskrise, die das System erfolgreich überwunden hatte... erscheint in naher Zukunft wieder als Mög­lich­keit.« [19]

Das ist besser als Cardan, der noch in seiner Einleitung zur 74er Neuauflage von Modern Capi­talism and Revolu­tion zu leugnen versucht, daß es überhaupt eine Wirt­https://libcom.org/library/decandence-aufheben-4schaftskrise gibt. [20] Cardan übernimmt sogar den bürgerli­chen Glau­ben, es handele sich nur um einen Un­fall aufgrund des Ölschocks. Aber auch wenn es besser ist, daß Debord und Sanguinetti die Wiederkehr der Krise zugeben, haben die Situationisten u.E. nicht wirklich versucht, die­se Wiederkehr zu begreifen. The Veritable Split fängt so an: »Die Situationistische Inter­na­tio­nale drängte sich in einem universalhisto­ri­schen Moment auf als Gedanke vom Zu­sammen­bruch einer Welt; eines Zusammen­bruchs, der jetzt vor unseren Augen begonnen hat.« [21] Tat­sächlich zieht sich durch The Veritable Split allgemein die Vorstel­lung, die end­gül­ti­ge Krise des Kapitalis­mus sei gekommen − wenngleich sie diese Krise als revolutio­näre sehen.

In The Veritable Split wird die durch den Mai 68 eröffnete Periode als allgemeine Krise beschrieben, was im Prinzip stimmt, aber eben nicht ganz reicht. Direkt nach dem Mai 68, dem Heißen Herbst in Italien usw. läßt sich so eine Einschätzung der Epoche vielleicht entschuldigen, aber sie hätten versuchen müssen, die Krise wirk­lich zu begrei­fen. Dazu hätten sie begreifen müssen, wie das rebellierende Subjekt und die "objekti­ve" Wirtschaft inter­agieren, und dazu hätten sie sich den Rest des Kapi­tals ansehen müssen.

2) Die Rückkehr der Objektivisten

Als die Wirtschaftskrise in den frühen 70er Jahren mit Macht zurück­kehrte, schie­nen die Vertreter der traditionellen marxistischen Vorstellung, daß der Kapitalismus sich im endgül­tigen Niedergang befinde, rehabilitiert. [22] Sowohl Denker der alten Lin­ken wie Mandel für den Trotzkismus und Mattick für den Rätekommunismus, als auch neue Figuren wie Cu­goy, Yaffe und Kidron [23] tauch­ten auf, um sich für ihre Version der richtigen marxisti­schen Krisen­theorie zu engagie­ren. Die mit solchen Analysen ver­bundenen politi­schen Bewegungen wuchsen ebenfalls. Es gab größere Uneinigkeiten zwischen den Theorien, aber sie teilten die gemeinsame Überzeugung, daß die Rück­kehr der Krise lediglich innerhalb der Bewegungs­gesetze des Kapitals zu erklären sei, wie sie Marx im Kapi­tal dargelegt hatte. Die Frage war, welche Gesetze und welche Krisen­tendenz in Marxens verstreuten Bemerkun­gen hervor­zuheben sei.

a) Mandel und Mattick

Mandel und Mattick, als die Vaterfiguren, boten einflußreiche Alter­nativen. Mat­tick hatte im wesentlichen Grossmans Zusammenbruchs­theo­rie in der Periode des Nach­kriegsbooms am Leben gehalten. Das heißt, er offerierte eine Theorie vom Kapital, das mechanistisch in Richtung Zusammenbruch geht auf der Basis der steigenden organi­schen Zusam­mensetzung des Kapitals und fallender Profitrate. Seine Innova­tion be­stand primär darin, daß er analy­siert hatte, wie die keynesiani­sche gemischte Wirtschaft die Krise durch unproduktive Staats­ausgaben ver­schob. Er behauptete, daß solche Ausgaben zwar vorübergehend den Krisenein­bruch auf­halten konnten, dies aber nur aufgrund des all­gemeinen Aufschwungs in der Nach­kriegsökonomie. Die erfolgreiche Manipulation des Geschäftszyklus war abhängig von der darunter­liegen­den allgemeinen gesunden Profite im Privatsektor. Wenn der zugrunde­liegende Niedergang der Profitra­te einen kritischen Punkt erreicht hatte, dann könne auch die Nach­fragesteigerung durch den Staat nicht mehr die Rück­kehr zu Akkumulations­bedingungen garantieren, statt­dessen würden die staatlichen Abzüge aus dem Privat­sektor als Teil des Problems gesehen werden. Seine These war also, daß der Keyne­sia­nismus die den Bewe­gungs­gesetzen des Kapitals inne­wohnende Tendenz zu Krise und Zusammenbruch nur verschieben, aber nicht verhindern könne. Einer der größ­ten Vorzüge seiner Analyse bestand darin, daß er aus der Krisentheorie die Basis für die inneren Widersprüche der kapita­listi­schen Produktion machte. Mattick vermied somit den modischen Fokus, daß der Kapita­lismus durch die Niederlage des Imperia­lismus vermittels der Niederlagen in der Dritten Welt untergraben werde. Er leugnet also nicht das revolutionäre Potential der Arbeiterklassen im Westen. Dennoch wäre deren Klassenkampf für ihn eine spon­tane Antwort auf das eventuelle Scheitern des Keynesianismus, die Akkumu­lationskrise zu verhindern. Die Gesetze des Kapitals, aus der sich die Krise ergibt und der Klassen­kampf waren für Mattick zwei völlig unter­schiedliche Dinge. Seiner Analyse fehlt ganz grundlegend eine Analyse davon, wie der Klassenkampf inner­halb der Akkumulations­phase auftritt. Die Krise des Kapitalismus kann auf der abstrakten Ebene, auf der Mattick sie behandelt, nicht verstanden werden.

Mandel, der belgische Volkswirtschaftler, offerierte in Der Spätkapita­lismus eine multik­ausale Herangehensweise. Er definiert sechs Varia­beln, deren Interaktion die kapita­listische Ent­wicklung erklären soll. Nur eine dieser Variabeln − die Ausbeutungsrate − hat irgend einen Bezug zum Klassenkampf, aber auch hier ist der Klassenkampf nur eines unter vielen Din­gen, die diese Variable bestimmen. [24] Die Geschichte des Kapi­tals ist − nur unter anderem! − die Geschich­te des Klassenkampfs. Das haupt­sächliche andere ist die Natur der un­gleichen Entwicklung und somit die revolutio­näre Rolle der anti-imperialistischen Länder. Somit beschreibt Mandel die Geschichte der kapitalisti­schen Produktionsweise nicht als vorwärts­getrieben vom zentralen Antagonismus zwi­schen Arbeit und Kapital, sondern dem zwi­schen Kapi­tal und vorkapitalistischen Wirt­schaftsverhältnissen. Auf der einen Seite beteuert er seine Or­thodoxie, indem er be­hauptet, daß der Spätkapitalismus nur die Fortset­zung der monopo­listisch/imperia­listischen Epoche sei, die Lenin erkannt hatte, aber ebenso rehabili­tiert er die Theorie der langen Wellen technologischer Entwicklung, welche die Epoche des Niedergangs überlagere und ihr Perioden auf­wärts- und abwärtsge­richteter Bewegung verleihe. Die langen Wellen werden durch technologi­sche Inno­vationen angetrieben.

Aber weder in Mandels von der Technologie angetriebenen langen Wellen noch bei der These der durch die steigende organische Zusammensetzung fallenden Profitra­te wird erkannt, in welchem Ausmaß die technologi­sche Innovation eine Antwort auf den Klassenkampf ist. Hinter dem objektivistischen Marxismus steht in der einen oder anderen Form der technolo­gische Determinismus, und deshalb ist die autono­me Kritik an der objektivistischen Sicht­weise von Technolo­gie so wichtig. [25] Es ist nö­tig, die kapitalistische Akkumulation und ihre Krisen in Verbindung zum Klas­sen­kampf zu sehen. Die keynesianische/fordisti­sche Periode war eine, in der der Kampf der Arbei­terklasse sich vor allem in beständig steigenden Löhnen ausdrück­te, wo die Gewerk­schaf­ten als die Repräsentanten der Arbeiter­klasse deren Kämpfe gegen die Tyrannei des Arbeitsprozesses in Lohnforderungen kanalisiert hatten. Durch das Erkämpfen von ständigen Lohnerhöhungen zwangen die Arbeiter das Kapital dazu, die Produktivität durch die Intensi­vierung der Arbeit zu erhöhen und immer weiter arbeits­sparende Investitionen zu tätigen, welche es im Gegenzug ermöglichten, den Arbeitern weitere Reallohnsteigerungen zu gewähren. In diesem Sinn – und wir werden sehen, daß die Autonomen so argumentie­ren − war der Kampf der Arbei­terklasse in dieser Periode zu einem funktionalen Moment im Kreislauf des Kapitals geworden: zum Motor der Akkumulation. Aber bevor wir uns mit solchen Analysen beschäftigen, sollte darauf hingewiesen werden, daß einige Denker im objektivisti­schen Lager von der Nieder­gangs­problematik abrückten und eine raffiniertere Analy­se der Nachkriegs­periode versuchten. Der Regulationsansatz war offen für neue Ideen wie die Analyse des For­dismus seitens der Arbeiterautono­mie. Doch die starke Beein­flussung seitens des Struk­turalismus hielt den Regula­tionsansatz in den Grenzen des Objektivismus [gefangen].

b) Der Regulationsansatz

Der Regulationsansatz ist wichtig, weil er versucht hat, Theorie in direktem Bezug auf die konkrete Wirklichkeit des modernen Kapi­talis­mus zu entwickeln. Vertreter des Regulations­ansatzes wie Agl­ietta und Lipietz brachen mit den or­thodoxen Posi­tionen von den Stadien des Kapitalismus und zur kapitalistischen Krise. Die Or­thodoxen teilen den Kapitalismus in Phasen ein: sie behaupten, er sei mit dem Han­delskapital entstanden, mit der Konkurrenz im Lais­sez-faire her­ange­reift und würde seinen Nieder­gang erleben in der Phase des Mono­polka­pitals und des Impe­ria­lismus und damit die Be­dingungen für den Sozia­lismus schaffen. Die Krise, so die Orthodo­xen, sei im ge­sunden Kapi­talismus Teil des normalen Wirtschafts­zy­klus, in der "Epo­che von Kriegen und Revolution" aber Beweis für seinen Nieder­gang und mögli­cherweise endgültigen Zusammenbruch des ganzes Sy­stems. In bezug auf diese Pha­sen­einteilung führte die Regula­tionsschule den Be­griff der "Akkumulations­regimes" ein. Er besagt, daß die Phasen kapitalisti­scher Entwick­lung durch vonein­ander ab­hängige institutio­nelle Struk­turen und soziale Normzu­sam­menhänge gekenn­zeichnet sein. Die anhaltende Krise sei eine struk­turel­le Krise der Institutionen der Regulation und der mit dem Regime ver­bundenen sozialen Normen.

So interpretierten sie zum Beispiel den Übergang vom Laissez-faire zum Monopol­kapitalis­mus als Übergang vom "Regime extensiver Akku­mulation und Regulation mittels Konkur­renz", das vor dem Ersten Weltkrieg existiert hatte, zu einem Regi­me intensiver Akkumu­la­tion und monopolistischer Regulation nach dem Zweiten Welt­krieg. Dazwi­schen lag ihrer Meinung nach eine Phase der Krise des alten Regi­mes und des Übergangs zum nächsten. Die orthodoxen Marxisten hat­ten das Problem, die Nachkriegsphase mit ihrem Begriff der "Über­gangsepoche" zu erklä­ren. Sie be­zeichne­ten deswegen die neue Stufe einfach als "Staatsmonopolisti­schen Kapitalis­mus". Aber ein Pro­blem blieb: Der Monopolkapitalismus sollte eher das Ende des Kapi­talismus bedeuten und nicht sein Gedeihen. Nach dem Regula­tions­ansatz ist die Nachkriegs­epoche keinesfalls eine Phase des Nie­dergangs, sondern eine Phase der Konsolidierung eines Regimes in­tensiver Akkumulation. Diese Phase ist durch fordi­stische Produk­tionsmethoden, Massenkonsum, die Ein­beziehung der Produktion von Konsumgütern als bedeutenden Teil der kapitalisti­schen Akkumu­la­tion, sowie auf inter­nationaler Ebene durch die amerikanische He­gemonie ge­kennzeichnet. Grundla­ge dieses Regimes ist ihrer Mei­nung nach die Verbindung von steigendem Lebens­standard und stei­gender Produktivität. Der Regu­lations­ansatz beschreibt die 70er Jahre als neue Phase einer Strukturkrise, diesmal des Systems intensiver Akkumula­tion. Die Ursachen der Krise sieht die Regu­lations­schu­le wie auch Negri und die Theoretiker der Arbei­terauto­nomie in der Ab­kopplung der Lohnsteigerungen von der Produk­tivi­tät und der Aus­höh­lung des sozialen Kon­sens. Der Zusammen­bruch der Produk­tivi­täts­steige­rungen verur­sacht die Fi­nanzkrise des Staates, der wei­terhin eine Steigerung der Akku­mu­la­tion über öffentliche Aus­gaben an­peilt, wäh­rend die ökono­mi­sche Grundlage für eine sol­che Politik – reales anhal­ten­des Wachs­tum – nicht mehr vor­han­den ist. Auf der inter­natio­nalen Ebene sind die günstigen Bedin­gun­gen für den Welt­han­del mit dem Ende der ameri­kani­schen Hegemonie ebenfalls zusam­men­gebro­chen. Wichtig in be­zug auf die Zusammen­bruchs­these ist, daß die Krise nicht als To­deskampf, sondern als ernste Stru­ktur­krise gese­hen wird, aus der Kapital herauskommen könnte, wenn es ein neues Ak­kumu­la­tionsregime etabliert.

Durch ihren Bruch mit dem rigiden Schema der Orthodoxie erscheint die Regu­la­tionsschule als sehr viel besser entwickelte und weniger dogma­tische marxisti­sche Ana­lyse. Aber sie nimmt keinen Perspekti­venwechsel vor, um den Prozeß vom Arbei­ter­standpunkt aus zu be­trach­ten. Der Regu­lationsansatz bleibt inner­halb der ka­pitali­sti­schen Logik und er­wei­tert die Ana­lyse nur um eine Menge kompli­zierter Gesichts­punkte. Auch wenn er richti­ger­weise die Kri­se als umfassende Krise der sozia­len Ord­nung ver­steht, be­deutet es einen Rückfall in den Funktio­nalis­mus, wenn er Kapital nicht als Kampf­verhältnis von Subjekten, son­dern als Prozeß ohne Subjekt er­klärt. Er nimmt an, daß die gegen­wärti­ge Restruktu­rierung des Ka­pita­lis­mus zu der erfolgrei­chen Etab­lierung eines neuen Regimes der fle­xi­blen Akku­mula­tion führen wird – der Post- oder Neo-For­dismus erscheint unabwendbar. Sol­che Ideen laufen auf eine neue Form des technologi­schen Determinismus [26] hin­aus, der dadurch, daß er eher ein Weiterbestehen des Kapitalismus voraussieht als sei­nen Zusam­men­bruch, eher für re­formisti­sche Linke attrak­tiv ist als für Re­volutio­näre. Einige seiner Ideen könnten für uns nützlich sein, doch der Regu­la­tionsansatz bleibt wie sein strukturali­sti­sc­her Va­ter im Grunde in­ner­halb der Kapitallogik. Die vom Staat be­zahlten akade­mi­schen Den­ker neigen immer dazu, das Ka­pital als Ausgangs­punkt nehm­en. [27]

Der objektivistische Marxismus begreift einen Teil der kapitali­sti­sche Wirklich­keit, aber nur aus einer Perspektive – der des Kapi­tals. Dieser Marxismus über­nimmt die Katego­rien des Kapital, die auf der Ver­ding­lichung der sozialen Be­ziehun­gen im Kapita­lis­mus basieren, als gegeben und nicht als Ergeb­nis von Kämp­fen. Die Sub­sumtion der Arbeit wird als endgültig voraus­gesetzt und nicht als etwas, was stän­dig neu ge­schaffen werden muß. Die Arbeiter­klasse wird nur als ein Rädchen in der Ent­wick­lung des Kapitals verstan­den, das sich anson­sten nach eige­nen Gesetzen entwi­kelt. Tenden­zen wie die wachsende organische Zu­sam­men­set­zung werden als dem Kapital innewoh­nendes Gesetz wahr­genom­men, obwohl sie wie auch ihre Gegen­tendenzen Resultat von Kämp­fen sind. Es ist not­wendig, die­sen Prozeß aus dem anderen Blick­winkel zu be­trachten – der des Kampfes gegen die Verdingli­chung – wie das Grup­pen wie So­cialisme ou Barbarie und die Situatio­nisten taten. Ihre Di­stanzie­rung von der Krisentheorie war ver­ständlich und notwendiger Bestand­teil bei der Wie­derentde­kung revolutionärer Praxis im Nach­kriegs­boom. Trotzdem waren es die Objek­tivisten, die die Methoden hatten, die Kri­se zu ver­stehen, als diese wieder auf­tauchte. Allerdings ver­säumten sie es, aus ihrer Theorie eine an­gemessene politi­sche Leitlinie zu ent­wickeln. Ihre Vorstellung war einfach, daß sie die Krise ver­ste­hen und sich die Leute un­ter ihrer Fahne sam­meln soll­ten. In Italien hingegen ent­st­and eine Strö­mung, die den Ob­jekti­vis­mus ab­lehnte, aber auch ei­nen neuen Weg zum Verständnis der Krise auf­zeig­te.

3) Die operaistische Strömung / Arbeiterautonomie

Eine bedeutende Tendenz innerhalb der italienischen Neuen Linken waren die "ope­raisti­schen" [28] Theoretiker der 60er Jahre wie Pan­zie­ri und Tronti sowie die Theo­retiker der "Arbeiterautonomie" der späten 60er und der 70er Jahre, be­son­ders Negri und Bologna. Sie attackierten die verding­lichten Kate­go­rien des ob­jektivi­stischen Mar­xismus. Der Angriff auf den Objek­tivis­mus des orthodoxen Mar­xismus bezog sich auch auf die Pro­ble­matik von Krise und Zu­sammen­bruch. Einen Teil der Stärke der Strö­mung machte aus, daß sie Marx nicht ein­fach gegen eine durch und durch refor­misti­sche Arbei­ter­bewegung geltend ma­chen mußten, son­dern es mit der alles beherr­schen­den Italienischen Kom­munisti­schen Partei und deren theore­tisch entwi­keltem Marxis­mus zu tun hatten. Die KPI hatte beim Über­gang vom Stali­nis­mus zum Eu­ro­stali­nismus ihre Posi­tionen geän­dert; hatte sie sich bis­her mit der Betrach­tung der allgemei­nen Krise des Kapitalis­mus be­schäf­tigt, so ging es ihr nun um die Un­terstützung und Wei­ter­ent­wick­lung des­sel­ben. Die Operai­sten er­kannten, daß beide Posi­tio­nen von einer neu­tral-objek­ti­ven Be­trach­tung der kapi­ta­listi­schen Öko­no­mie aus­gingen; für notwendig hielten sie hingegen eine Umdre­hung der Perspekti­ve, näm­lich der Blick auf den Kapi­talismus vom Ar­beiter­stand­punkt aus.

Raniero Panzieri, einer der Initiatoren der Strömung, schrieb zwei grundlegende Kriti­ken am orthodoxen Marxismus. Er wandte sich ge­gen den falschen Gegensatz von Planung und Kapitalismus und gegen die Idee von der Neutralität der Tech­nik, die Teil der Ideolo­gie von den Produktivkräften ist.

a) Der falsche Gegensatz zwischen Planung und Kapitalismus

Panzieri behauptete, daß Planung nicht im Gegensatz zum Kapitalismus stünde. Nach Marx basiert der Kapitalismus auf der despoti­schen Pla­nung auf der Ebene der Pro­duktion. Der Kapitalismus über­traf vorherige Produktions­wei­sen dadurch, daß er sich die Koopera­tion innerhalb des Produktionsprozesses aneignete. Die Arbei­terIn er­fährt das durch die Kontrolle ihrer Tätigkeit durch eine andere Arbei­te­rIn. Im Kapitalis­mus des 19. Jahrhun­derts stand dieser des­potischen Pla­nung der anar­chische Wettbe­werb auf der gesellschaft­lichen Ebene gegenüber. Nach Panzieri ist das Proble­matische am orthodoxen Mar­xismus und sei­ner Zusammen­bruchstheorie, daß er die Phase des Laissez-faire-Ka­pita­lis­mus als modellhaft an­nimmt und jede Ver­änderung davon als Nie­der­gang des Kapitalis­mus oder als Über­gang zum Sozia­lismus defi­niert. Die Kon­zeption, die Pan­zie­ri und später Tronti ent­wickelten, ging davon aus, daß der Ka­pita­lis­mus Mitte des 20. Jahrhun­derts bis zu einem ge­wissen Grad den Ge­gen­satz von Planung und Markt über­wunden hatte und sich durch die Erlan­gung der Kon­trolle über die Ge­sell­schaft durch das gesell­schaftliche Kapi­tal zu einem weiter fort­geschrit­tenen Kapi­talis­mus entwi­ckelt hat; die gesell­schaft­li­che Fa­brik bildete sich her­aus. Auf ge­sellschaftlicher Ebe­ne ist die kapita­listische Ge­sellschaft nicht nur Anarchie, son­dern auch gesell­schaftli­ches Kapital – al­le Bereiche des Lebens sind auf die Durch­setzung der ka­pi­ta­li­stischen Arbeitsbeziehung ausgerichtet.

Damit ist der zentrale Widerspruch, auf dem der orthodoxe Mar­xismus seine Zu­sam­men­bruchstheorie aufbaut, in Frage ge­stellt. Es gibt keinen fundamentalen Wider­spruch zwischen der kapita­listi­schen Ver­gesell­schaftung der Produktion und der kapita­listischen Aneignung des Pro­dukts. Die "Anarchie des Marktes" ist ein Teil der kapita­listisch or­ganisier­ten Gesell­schaft, kapitalistische Planung ist ein anderer. Diese beiden Formen kapitalistischer Kontrolle stehen nicht in einem sich ausschließenden Wider­spruch, sondern in einer dialektischen Be­zie­hung:
»Da das Kapital durch die allgemeine Planung die mystifizierte Grundform des Mehr­wertge­setzes unmittelbar von der Fabrik auf die ganze Gesellschaft auswei­tet, scheint jetzt wirklich jede Spur des Ursprungs und der Wurzel des kapitali­stischen Prozesses zu ver­schwinden. Die Industrie nimmt das Finanzkapital wieder in sich auf und projiziert die spezifische Form, die die Abpressung des Mehr­werts in ihr an­nimmt, auf die gesell­schaftliche Ebene: als "neutrale" Entwick­lung der Produktiv­kräfte, als Rationalität, als Plan.« [29]

Planung ist kein vorübergehendes Merkmal im Kapitalismus. Mit der Gleichsetzung von Sozialismus und Planung wird der Sozialismus von der Negation des Kapitalis­mus zu einer seiner Spielfor­men. Aus der Entwicklung vom Monopol- bzw. Finanz­ka­pital entstand nicht die Grundlage für eine nicht-kapitalistische Produktions­wei­se, son­dern eine gesell­schaft­lich höher integrierte Form des Kapita­lis­us. [30] Das Kapital hatte einige Schwierigkeiten aus den frühe­ren Phasen über­wunden, aber dieser Pro­zeß wurde als Erreichen seines letz­ten Stadiums in­ter­pre­tiert.

b) Die Kritik der Technologie

Noch bahnbrechender als seine Dekonstruktion des Gegen­satzes von Planung und An­archie des Marktes war vielleicht Panzieris Kritik der Technologie. Die despoti­sche Pla­nung als Teil des Ka­pi­talis­mus operiert mittels Technolo­gie. Panzieri be­hauptet im wesentlichen, daß Macht und Technologie im Kapitalismus so eng zusammen­hängen, daß der orthodox-marxi­stische Begriff von der Neutralität der Technik absurd er­scheint. Kritisiert wird hier wieder­um die ver­ding­lichte Natur der Begriffe im orthodo­xen Verständ­nis der Produktiv­kräfte, die an den Ketten ihrer kapitalisti­schen Fesseln rüt­teln.

»Es gibt keinen "objektiven", verborgenen Faktor, der dem techni­schen Fort­schritt oder der Planung in der spätkapitali­stischen Ge­sellschaft immanent ist und die "auto­mati­sche" Trans­formation oder den "notwendigen" Umsturz der beste­henden Ver­hältnisse gewähr­lei­stet. Die allmählich erreichten neuen "technischen Grundla­gen" der Produk­tion stellen für den Kapi­talismus neue Möglichkeiten der Konsolidierung seiner Macht dar. Das heißt natürlich nicht, daß sie nicht gleic­hzei­tig auch neue Möglichkeiten der Systemüberwin­dung eröffnen. Aber diese Mög­lichkeiten fallen mit dem systemsprengenden Charakter zusammen, den die »Insubordina­tion der Arbeiter« gegenüber dem immer un­abhängigeren "objekti­ven Skelett" des kapitalistischen Mecha­nismus tendenziell annimmt.« [31]

Dies zeigt exemplarisch, welchen Wandel die "operaistische" Per­spek­tive bedeute­te - die Wende weg von irgendeiner "verborgenen" Bewegung der technisch ver­stan­denen Produktiv­kräfte hin zu der größten Produk­tivkraft - der revolutio­nären Klasse. Pan­zieri rea­gierte damit auf die neue Kampfstärke der Arbeiterklasse, ihre Herausbildung als Bedrohung für das Kapital. Aber »diese Klassen­ebene«, wihttps://libcom.org/library/decandence-aufheben-4e er es nennt, »manife­stiert sich nicht als Fort­schritt, sondern als Bruch«; nicht als »Ent­hüllung« der ver­borgenen Ratio­nalität, die dem modernen Pro­duktions­pro­zeß innewohnt, sondern als Schaffung ei­ner vollkommen neuen Rationali­tät, die im Gegensatz zu der vom Kapi­talismus praktizierten Ratio­nali­tät steht. [32]

Während die Mainstream.Marxisten, egal ob sie sich als revolutio­när oder refor­mi­stisch bezeichnen, eine reformisti­sche Hal­tung ge­gen­über der Technologie ein­neh­men, d.h. sie ausdrücklich mittels Plan effizienter und rationeller organi­sieren wollen, er­kannte Panzieri, daß die Arbeiter­klasse bei wei­tem die bessere Dialekti­kerin ist, die »die Ein­heit des "tech­nischen" und "despoti­schen" Moments des ge­gen­wärti­gen Produk­tions­systems« erkennt. [33] Die ma­schi­nelle Produktion und an­de­re Formen ka­pi­tali­stischer Techno­lo­gie sind historische Ergebnisse der Klas­sen­kampfes. Sie als "tech­nisch" neu­tral zu inter­pretieren, heißt, die Seite des Kapi­talis­mus ein­zuneh­men. Da diese Ansicht den orthodoxen Marxismus be­herrscht hat, ist es kaum ver­wunder­lich, wenn einige nun die hi­storische Kritik des Kapi­talismus ab­lehnen und auf eine anti-tech­nologische Perspek­tive setzen. Sie er­setzen die endgültige Aufhe­bung des Kapitalismus durch die ein­fache Nega­tion von "Zivilisa­tion". Das Problem dabei ist nicht, daß einige von uns Wasch­ma­schinen ha­ben wollen, sondern daß diese Wende eine Verbin­dung zur rea­len Bewe­gung ver­hin­dert.

Die Kritik der Technologie, zusammen mit einer Umdrehung der Per­spektive, er­laubte es den Operaisten, sich die Kritik der Poli­ti­schen Ökonomie wieder als revolu­tionäres Werk­zeug des Proletari­ats anzueig­nen. Wie wir gesehen haben, ist ein ent­scheidender Be­stand­teil der meisten Krisen- und Zusammenbruchstheorien der ten­den­zielle Fall der Profitrate durch die steigende organi­sche Zusam­men­set­zung des Kapi­tals, welche durch die Ersetzung von Arbeit (als Quelle von Wert) durch Ma­schinen verursacht wird. Die Italie­ner nahmen ein allgemeines Statement von Marx: »Man könnte eine ganze Ge­schichte der Erfindungen seit 1830 schrei­ben, die bloß als Kriegsmittel des Kapitals wider Arbeiteremeuten ins Leben tra­ten« [34], und ent­wi­ckelten daraus eine Theo­rie, die die techno­lo­gi­sche Entwicklung des Ka­pi­tals als Antwort auf und Aus­einanderset­zung mit dem Kampf der Arbeiter­klas­se er­klärt. Der ka­pita­listische Ar­beitsprozeß wird so zum Ter­rain für immer neue Klassen­kämpfe. Durch die Rückführung der kapitalisti­schen Entwick­lung auf den Kampf der Arbei­terklasse gaben die Oper­aisten Marxens Bemer­kung, daß die größte Produktivkraft die revolu­tionäre Klas­se selbst sei, einen Sinn.

Wenn wir die ständige Erhöhung der organischen Zusam­mensetzung als Resultat der Kämp­fe der Arbeiterklasse und der menschlichen Krea­tivi­tät begreifen, ver­liert der tendenzielle Fall der Profit­rate seine objektivistische Bedeutung. Der Wech­sel von einer an der absoluten Mehrwertrate orientierten Kapitalstrategie zu einer an der relativen Mehr­wertrate orientier­ten [35], wurde ihm von der Ar­bei­ter­klasse auf­ge­zwun­gen und hatte zum Ergebnis, daß Kapi­tal und Arbeiter­klasse sich im Kampf um die Produk­tivität wieder­fan­den. Die Kategorien der organi­schen und techni­schen Zu­sammen­set­zung des Kapitals wurden durch die operaisti­sche Theorie aus der Ver­dingli­chung gelöst und an den Begriff der Klassenzu­sam­menset­zung ange­bunden, also an die For­men von Klassen­subjekti­vi­tät und Klas­sen­kampf, die sich auf die "objekti­ve" Zusam­men­set­zung des Ka­pi­tals beziehen. Die Theore­tiker der Arbei­ter­autonomie benutzten diese Begriffe bei ihrer Kritik an frühe­ren Formen der Orga­nisa­tion wie der Avangarde­partei, die frühere Klassen­zusam­men­setzungen wi­der­spiegelten, und theoreti­sierten die neuen Kampf- und Organi­sa­tions­formen des Massen­arbeiters. Dies wirft ein ganz neues Licht auf die Frage des Nieder­gangs des Kapitalismus und des Übergangs zum Kom­munis­mus:
»Die sogenannte Unvermeidlichkeit des Übergangs zum So­zia­lis­mus ist nicht im mate­riellen Kon­flikt begründet, sondern sie hängt, gerade aufgrund der ökonomi­schen Ent­wick­lung des Ka­pi­talismus, mit der "Unerträg­lichkeit" der gesellschaft­lichen Kluft zu­sam­men, die sich nur als politische Bewußtwerdung äußern kann. Aber gerade deshalb wird mit der Umwälzung des Systems durch die Arbeiterklas­se die ganze Organisation negiert, in der die kapita­listische Ent­wicklung sich manife­stiert, und in erster Linie die Technologie, da sie mit der Produkti­vität verknüpft ist.« [36]

c) Die Theorie von der Krise als Klassenkampf

Die erste Welle des italienischen Operaismus in den 60er Jahren begriff also die Phase des Laissez-faire nicht als eigentliches Wesen des Kapita­lismus, und auch nicht alles, was seitdem passier­te, als Nie­der­gang oder Zerfall dessel­ben. Sie befaß­ten sich mit einer Analy­se der kon­kreten Formen des zeitgenössischen Kapi­talis­mus. Das er­laubte ihnen, die Tendenz zur staatlichen Planung als Ausdruck der voll­ständigen kapi­talisti­schen Durchdringung der Ge­sellschaft zu ver­stehen: als ge­sell­schaft­liches Kapital. Sie bra­chen auch mit dem or­thodoxen Marxis­mus, indem sie die Perspektive umdrehten und die Arbeiterklasse als trei­bende Kraft des Kapi­tals verstanden. Dies untermauerten sie mit militanten Untersuchungen der Kämp­fe der Mas­senarbeiter.

Es gibt zwar Ähnlichkeiten zur Analyse von Socialisme ou Barbarie, doch die Positionen der Arbeiter­autonomie, die auf der Neuin­ter­pretation der Werkzeuge aus Mar­xens Kri­tik der Politi­schen Ökonomie beruhten und weniger auf ihrer Ableh­nung, sind eher im­stande, sich mit der Anfang der 70er Jahre beginnenden Kri­se aus­ein­anderzu­setzen. Die Krise der 70er Jahre bewies die Genau­igkeit von Tron­tis Anre­gung von 1964, als er behaup­tete, daß es möglich sei, daß "die er­sten Forde­run­gen, die die Proletarier selbst stel­len, der Moment, in dem sie nicht von den Kapitalisten integriert wer­den können, objektiv als Verweige­rungs­form wirken, die das Sy­stem in Gefahr bringen ... die einfache politische Blo­ckade der objek­tiven Gesetzmäßigkei­ten" [37]. Die fried­li­che Wei­terentwick­lung des Kapita­lis­mus wurde Ende der 60er Jahre zer­schlagen. Die ita­lienischen Oper­ai­sten kamen bei dem Ver­such, das zu verste­hen, theoretisch am weite­sten, so wie die italie­ni­schen Ar­bei­terIn­nen in den 70er Jahren bei ihrem Angriff auf das Kapi­tal­ver­hältnis prak­tisch am weite­sten gingen.

Die orthodoxen Marxisten behaupteten, wie wir bei Mattick sahen, daß der Keyne­sianismus die Bewegungsgesetze des Kapitals nicht wirklich verändern und die Krise nur aufschieben könne. In gewis­ser Weise ist das richtig, aber das Problem liegt darin, daß die Ökonomie als Ma­schine gesehen wird und nicht als ver­ding­lich­te Er­schei­nung an­tagonisti­scher sozialer Beziehungen. Die Weiter­ent­wicklung seitens der Arbeiter­autonomie, enthalten u.a. in den bei­den Auf­sätzen von Ne­gri aus dem Jahre 1968 [38], bestand dar­in, daß der Key­ne­sia­nis­mus als Ant­wort auf die Offensi­ve der Arbeiter­klas­se von 1917 ver­standen wur­de, als Versuch, die Kämpfe der Ar­bei­ter­klasse zum Nut­zen des Ka­pitals zu wenden. Keynes war ein stra­tegi­scher Denker des Kapitals. Die Kanali­sie­rung der Kämpfe der Arbeiter­klasse durch Lohn­erhö­hungen, die durch steigende Pro­dukti­vität bezahlt wurden, bedeutete, daß der Keynesia­nismus im wesent­lichen nicht nur Nach­frage-Manage­ment, sondern staat­li­ches Manage­ment der Ar­bei­terklasse war, ein Management, das zuneh­mend gewalt­tä­tiger wird, weil es von der Arbeiter­klasse ab­lehnt wird. Das prekäre Gleichge­wicht, das es repräsentiert, wurde durch die Of­fensive der Ar­bei­ter­klas­se in den Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre in die Krise ge­stürzt, als der Produktivi­täts­deal, auf dem die Akkumula­tion beruhte, zer­rissen wur­de. In der Analy­se der Ar­beiter­autonomie er­scheint die gesamte key­nesianistisch-for­disti­sche Nach­kriegs­phase als Phase des Plan­staats. Dieser wird nun in die Krise ge­stürzt und durch einen Staat ersetzt, der die Krise aktiv einsetzt, um die Kon­trolle zu behal­ten.

Die Theorie von Klassenkampf und Krise stellt eine notwendige Ver­bes­serung der Sicht­weisen der Objektivisten dar. Grundidee des Marxismus der Arbeiterautono­mie war, daß er die kapitalistische Krise neu in­ter­pretier­te: nicht als unabwend­bares Resul­tat objek­tiver Gesetze, die von der Ar­beiterklasse un­abhängig sind, sondern als objekti­ven Aus­druck des Klassenkampfes. Diese Theorie, die sich auf die konkreten Klas­senkämpfe bezieht, vermeidet den Be­griff Epoche des Nieder­gangs oder Zu­sam­men­bruchs. Die Ge­schichte des Kapita­lismus ist nicht die der objek­tiven Ent­fal­tung der Gesetzmäßigkeiten des Kapitals, sondern eine der Dia­lek­tik von politi­scher Zu­sammen­setzung und Neu­zusammensetzung. Die tiefe weltweite Kri­se, die in den 70er einsetzte, wird als Re­sul­tat der Kämp­fe der for­disti­schen Massen­arbeiter inter­pretiert. Dieses Sub­jekt war selbst erst ent­standen durch den Angriff des Kapi­tals auf die Klas­senzu­sammensetzung, die den Kapi­talismus nach dem Ersten Welt­krieg fast zerstört hatte. Nun hatte es sich poli­tisch neu zu­sam­men­gesetzt und war zu einer Gefahr für das Kapi­tal ge­worden. Die Krise des Kapi­tals ist die Krise der ge­sell­schaftli­chen Verhältnisse.

Die Theoretiker der Arbeiterautonomie der 70er Jahre theoretisier­ten die Ver­weige­rung der Arbeit am besten, formu­lier­ten eine Kri­tik an der Zusammenbruchs- und Kri­sen­theorie und setzten eine dy­nami­sche Theorie von kapita­listi­scher Krise und proletari­scher Subjekti­vität dagegen. Sie entwi­ckelten eine Theo­rie von Klassen­kampf und Krise, die in dem Satz »die Krise der Bosse ist der Sieg der ArbeiterIn­nen« enthalten ist. Sie unterschei­det sich deutlich von den orthodox-marxisti­schen Er­klärungen [39], die die Krise auf innere Widersprüche des Ka­pi­tals zurückführen und die allgemeine Krise und den Nieder­gang des Kapitals mit der Fesselung der Pro­duk­tivkräfte durch die Produk­tionsverhält­nisse erklären. Der Be­griff von der Fesselung der Produktivkräfte durch das Kapi­tal, der in gewissem Sinne zutrifft, vergißt, daß die Arbeiterklasse in Zeiten der Stärke die kapita­listischen Produk­tivkräfte blo­ckiert, weil die Wei­ter­ent­wicklung ihren Inter­essen und Bedürfnissen wi­der­spricht. Die Be­deutung des proleta­rischen Wi­der­stands gegen die kapitalisti­sche Arbeit darf im soziali­stischen Traum der Ar­beit-für-alle nicht vergessen wer­den. Negri formu­liert das so: »Befrei­ung der Produk­tiv­kräfte: sicherlich, aber als Antrieb eines Pro­zesses, der zur Abschaf­fung, zur absoluten Nega­tion führt. Der Übergang von der Befreiung-von-der-Arbeit hin zum Jenseits-der-Ar­beit steht im Zen­trum, im Herz der Definition von Kommunis­mus« [40].

Die Theorie der Arbeiterautonomie war in gewisser Weise eine optimisti­sche Projek­tion von Tendenzen in den statt­findenden Kämp­fe. Das gelang gut, solange der Klas­sen­kampf vor­ankam und revo­lutionäre Ten­denzen in weiteren Aktionen verwirk­licht wur­den. Tronti führte zum Bei­spiel den Be­griff einer neuen Art von Krise ein, die durch die Ver­weigerung der ArbeiterInnen entsteht. Diese Verweige­rung hatte er in der Schla­cht auf der Piazza Statuto erkannt (Ereignis­se von 1962, als streikende FIAT-ArbeiterInnen die Gewerkschaften mit Gewalt angriffen). Der Heiße Herbst in Italien 1969, als Ar­beite­rInnen, kaum daß sie nach einem Streik zur Arbeit zurück­ka­men, oft gleich wieder in den Streik tra­ten, zeigte die Gül­tig­keit die­ser Annahme. Diese theo­retischen Ablei­tungen, die auch die Si­tua­tio­ni­sten gemacht hat­ten, als sie die wilden Streiks insbeson­dere in England als Zeichen für die Din­ge, die noch kommen sollten [41], interpretier­ten, wurden un­tauglich, als das Kapi­tal in einer Ge­genof­fensive gegen die Ver­weigerung die neue – später umgesetzte – Richtung be­stimmte: der neuerliche Zwang zur Arbeit (die Wieder­beto­nung der Arbeit). Theo­retiker der Arbeiterautonomie versuch­ten das mit Be­griffen wie dem Über­gang vom Plan­staat zum Kri­sen­staat zu begreifen.

Die Theorie von Klassenkampf und Krise verlief sich irgendwann in den 80er Jah­ren. In den 70er Jahren war der Bruch des Kapitals mit seinen objek­tiven Geset­zen ein­deutig gewesen. Nun wurde– das auf­kommende Subjekt durch einen Teilerfolg des Kapitals zurückge­schlagen. Es scheint so, als ob in den 80er Jahren die objekti­ven Geset­ze des Kapi­tals einfach in unserem Leben Amok laufen durften. Eine Theorie, die die Krisenerscheinun­gen mit den kon­kreten Ver­hal­tensweisen der Klasse verband, fand wenig offensive Kämp­fe, auf die sie sich beziehen konn­te; und doch hielt die Krise an. Die Theorie war den Bedin­gungen nicht mehr ange­mes­sen. Negris Nei­gung zu ex­tremem Optimismus und die Art, wie er Tendenzen als Realitä­ten inter­pretier­te, was in Zeiten proleta­rischer Subver­sion nicht mal schlecht sein mag, wurde zuneh­mend zum Problem seiner Theore­ti­sierungen und führten dazu, daß er selbst in eine Zu­sammen­bruchstheorie rutschte. Ohne Bezie­hung zur revolutionären Bewe­gung litten Negris Texte sehr. In Texten wie Com­munists Like Us und sei­nem Beitrag zu Open Marxis­m begegnen wir sogar in neuem subjek­ti­visti­schem Gewand die Theorie vom Zu­sam­menbruch des Kapitals und der Auf­erstehung des Kom­munismus hinter unse­rem Rücken. [42]

Insgesamt sind die Theoretiker der Arbeiterautonomie eine notwen­dige, aber nicht voll­endete Bewegung. Sie waren Aus­druck der Be­wegung ih­rer Zeit und wurden schwach, im Fall Negris sowie­so, so­bald sie von ihr iso­liert waren. So wie sich 1968 so­wohl die Be­schrän­kun­gen als auch die Bedeutung situationi­stischer Ideen zeig­ten, so offen­barte die Phase von Krise und revo­lutionärem Handeln in Ita­lien zwi­schen 1969 und 1979 die Bedeu­tung als auch die Be­schränkung der operai­sti­schen und auto­nomi­stischen Theo­rien. Das heißt nicht, daß wir zu den Objektivi­sten zurück­keh­ren soll­ten. Wir soll­ten nach vorne schauen. Die Theorie der Ar­beiterautonomie im all­gemei­nen und die Theorie von Klassenkampf und Krise im be­sonderen lei­ste­ten einen wichtigen Beitrag bei der Kritik der ver­ding­lichten Ka­tegorien des objekti­visti­schen Marxis­mus. Sie er­laubt uns, diese Kategorien "als Existenzwei­sen des Klas­senkamp­fes"[43]­ zu se­hen. Sie übertrei­ben dies zuweilen und sehen nicht, in wel­chem Maße die Kategorien tat­sächlich objekti­ve Aspekte des Ka­pi­tals darstel­len; trotzdem müssen wir weiterhin die Bedeu­tung der Umkeh­rung herausstellen. Wir brau­chen einen Weg, wie wir die Be­ziehung von Ob­jek­ti­vität und Subjektivität jenseits der Me­cha­nik der Ob­jektivi­sten oder Reaktion darauf ("Alles ist Klassen­ka­mpf!") ver­stehen können.

Für die Wiederaneignung des revolutionären Kerns der Marx­schen Kritik der Poli­tischen Ökonomie lieferten alle, Socialime ou Barbarie, die Situationisten und die Arbeiterauto­nomie, auf unter­schiedliche Art und Weise wich­tige Beiträge. Es gelang ihnen, weil sie die Theo­rie vom Niedergang und Zusam­menbruch des Kapi­ta­lismus verwar­fen. Aber die revolu­tionäre Wel­le, deren Teil sie waren, ist vorüber. Der Nach­kriegsboom ist schon eine schwin­dende Erinnerung. Im Ver­gleich zu der Phase, in der diese revolutionären Theorien entwic­kelt wur­den, ist die heutige kapita­li­stische Wirk­lichkeit viel ungewisser. Die kapitalistische Ten­denz zur Kri­se zeigt sich viel offener, während im Klassenkampf Ebbe ist. Im dritten und letzten Teil dieses Arti­kels werden wir neu­ere An­sätze be­trachten, die ver­su­chen, die Welt, in der wir leben, zu ver­ste­hen, zum Bei­spiel den von Radi­cal Chai­ns. Zudem wol­len wir un­sere eige­nen Ge­dan­ken zur Lösung des Pro­blems dar­stel­len.

Endnoten

[1] Die Johnson-Forest-Tendency in den USA entwickelte einen ähnlichen Ansatz von unten, der nicht ouvrieristisch (allein an den Arbeitern ausgerichtet) war.

[2] Modern Capitalism and Revolution, S. 85.

[3] Ebenda, S. 48.

[4] Ebenda, S. 44.

[5] Redefining Revolution, S. 17.

[6] Siehe Workers Councils and the Economics of self-management.

[7] Obwohl Cardan Marx ganz zentral mit der Verdinglichung kritisiert, hat er paradoxerwehttps://libcom.org/library/decandence-aufheben-4ise auch ein Problem damit, daß Marx die Kategorie der Verdinglichung benutzt, während sich der moderne Kapita­lismus eher durch seine »Tendenz zu bürokratisch-hierarchischer Organisa­tion« verstehen lasse. Revolu­tion Redefined, S. 6.

[8] Modern Capitalism and Revolution, S. 43.

[9] Siehe den Anhang von Modern Capitalism and Revolution. Der Anhang soll auch die Rückkehr zu Adam Smiths Definition von Kapital begründen!

[10] Wie er am 2.4.1858 an Engels schreibt: »Im Verlauf dieses Abschnitts [das Kapital im allgemei­nen] wird durch­gehend angenommen, die Löhne seien auf ihrem Minimum. Bewegungen bei den Löhnen selbst und das Steigen oder Fallen dieses Minimums werden unter der Lohnarbeit berück­sichtigt wer­den.«

[11] Mehr zu dieser zentralen Frage − wie liest man Marx − siehe The Incomplete Marx von F.C. Shor­tall, Avebury 1994.

[12] Wegen der damit verbundenen Assoziationen weigerten sie sich, das Wort Kommunismus zu benutzen. Al­lerdings ist auch ihr Begriff von der universellen Selbstverwaltung inzwischen mit negativen Kon­notationen behaftet.

[13] »Sind Sie Marxisten? − Genauso sehr wie Marx, als er sagte: ›Ich bin kein Marxist.‹« Situationist Inter­national Anthology.

[14] Die Situationisten sprachen manchmal von einer allgemeinen Krise des Kapitalismus, davon, daß er nicht mehr weiter wüßte. Manchmal sagten sie, der Kapitalismus befinde sich im Nie­dergang oder in Auflö­sung. Dahinter sahen sie aber nicht eine objektive Logik der Wirtschaft, sondern eher die sub­jektive Weigerung des Proletariats, so weiter zu machen wie bisher. Teil­weise be­gründeten sie das mit dem Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhält­nissen, aber nur in dem Maße, wie die Kluft zwischen ihrer Entwicklung durch den Kapitalis­mus und https://libcom.org/library/decandence-aufheben-4ihrem möglichen Gebrauch durch das sich selbst abschaffende Proletariat so extrem geworden war, daß das Subjekt sie sehen konnte. Diese Per­spektive ist zentral, aber etwas anderes als die Theorie des Niedergangs im klassischen Sinne, wo die Produktiv­kräfte in einer evolutio­nären Logik auf ihre Befreiung hindrängen. Die Kluft zwischen dem Bestehen­den und dem Möglichen läßt sich nur durch einen Sprung überwinden.

[15] »...die bürgerliche Revolution ist vorbei; die proletarische Revolution ist ein Projekt, das auf der Grund­la­ge der vorherge­gangenen Revolu­tion entstanden ist, sich aber qualitativ von ihr unter­scheidet. Wenn man die Originali­tät der historischen Rolle der Bourgeoisie leugnet, verdeckt man die konkrete Origina­li­tät des proletarischen Projekts, das nichts erreichen kann, wenn es nicht seine eigenen Fahnen trägt und die ›Ungeheuerlichkeit seiner Aufgaben‹ kennt. Die Bour­geoisie kam als Klasse der sich entwi­kelnden Wirtschaft an die Macht. Das Proletari­at kann nur als Klasse des Bewußtseins selbst an die Macht kommen. Diese Macht entsteht nicht automatisch aus dem Wachstum der Produktivkräfte, nicht einmal durch die zunehmende Enteignung, die es mit sich bringt. Sein Mittel kann keine jakobi­nische Machtüber­nahme sein. Das Proletariat kann sich auf keine Ideologie berufen, um seine Teilziele als allgemeine Ziele auszu­geben, denn keine Teilrealität kann wirklich die des Proletariats bleiben.« Die Gesellschaft des Spektakels, Absatz 88.

[16] Das soll nicht heißen, daß das Proletariat keine Gewalt benutzt, um seine Ziele durchzusetzen und eine Rück­kehr zum Kapitalismus zu verhindern, sondern nur, daß seine Gewalt sich quali­tativ von der Staatsgewalt unterscheidet, die nur die Macht des Getrennten sein kann.

[17] Die Gesellschaft des Spektakels, Absatz 84.

[18] Siehe Die Gesellschaft des Spektakels, Absatz 82.

[19] Debord und Sanguinetti: The Veritable Split, 1972 (London: Chronos Publications 1990), Absatz 14.

[20] Modern Capitalism and Revolution, S. 10-11.

[21] The Veritable Split, Absatz 1.

[22]

[23] Yaffe und Kidron waren beide bei den International Socialists (einem Vorläufer der SWP), die sich durch ihre Theorie der Permanenten Rüstungsökonomie hervorzutun versuchten. Im we­sentlichen war diese Theorie der Versuch, den ganzen Nachkriegsboom durch einen Fabktor zu erklären − Rüstungs­ausgaben. Außer dieser Innovation, den Rüstungsausgaben eine stabili­sieren­de Rolle zuzusprechen, war diese Theorie im wesentlichen orthodoxe marxistische Ökono­mie. Cliff vertrat eine Version der or­thodoxen Unterkonsumtionstheorie. Rüstungs­ausgaben maß er die (anfänglich sehr vorübergehende, später, als es nicht zur erwarteten Katastrophe kam, länger dauernde) Fähigkeit zu, eine, angesichts der begrenzten Nachfragekraft der Massen, unvermeidli­che Überproduktionskrise des Kapitals zu verschie­ben. Als es bei den marxistischen Ökonomen zu einer Wende kam − die Theorie von der fallenden Profitrate schob sich immer mehr in den Vordergrund und die These von der Unterkonsumption wurde als zu primitiv betrachtet − entwickelte Kidron eine neue Version, bei der die Rüstungs­ausgaben nun etwas anderes linder­ten. Unproduktive Rüstungsausgaben verschoben nun nicht mehr den Punkt, an dem das Kapital die Möglichkeiten seiner Konsumtion übertrifft, sondern diese Ausgaben seien als Ge­gen­tendenz zum tendenziellen Fall der Profitrate zu sehen. Der wesentliche Punkt daran ist, daß diese Theorie innerhalb der Annahmen der objektivisti­schen marxi­stischen Ökonomie blieb. Das Ausmaß, in dem sie mit Lenin brachen, war nicht daraus motiviert, daß Lenin in seiner Analyse keinen Platz für die Kämpfe der Arbeiter­klasse ließ. Nein, für die Inter­national Socialists war der Imperialismus nur das vorletzte Stadium des Kapitalismus, eine andere kapitalim­manente Logik also. Zum letzten Stadium erklärten sie die Permanente Rüstungsökonomie, und dieses wird − wie bei Lenins Imperialismus − rein in Begriffen des Kapitals erklärt. Auch in ihren entwickelteren Formen war diese Theorie ein ziemliches Durchein­ander, was jüngere Pistolenhelden bei den International Socia­lists wie Yaffe, der in der marxistischen Klassik versierter war, dazu brachte, eine Rückkehr zu einer funda­mentalistischen Theorie auf Grundlage der fallenden Profitrate zu fordern; schießlich trat er aus und gründete die RCG, um eine solche Theorie zu entwickeln. Seither hat Chris Harman die Theorie weiter­entwickelt [? fleshed out], einige ihrer schärfsten Kanten abgerundet und sogar andere Krisentheoretiker wie Grossman dazu benutzt, sie zu untermauern. Aber in den 70er Jahren ist die SWP in den schoß der Gemeinde zurückgekehrt, indem sie zustimmte, daß Rüstungsausgaben nicht länger die Tendenz zur Krise abschwächen könnten.

[24] Spätkapitalismus, S. 40. Interessanterweise behauptet Mattick − also jemand, den man politisch gegen Mandel unterstützen würde −, daß Mandel im Spätkapitalismus dem Klassenkampf zu viel Gewicht einräume. Mattick stellte Grossmans auf die fallende Profitrate basierende Zu­sammen­bruchstheorie einem neuen Publikum vor. Daß Nicht-Leninisten gegen die Bedeutung des Klassenkampfs anargu­men­tieren, zeigt, daß das Problem des Objektivismus quer zur lenini­stisch/­antileninistischen Spaltung ver­läuft. In der Tat wurde in Britannien die these von Mat­tick/Gross­man zur Krise von einem über­zeugten Leninisten wie David Yaffe aufgenommen. Yaffe zufolge gab es im Nachkriegsboom keinen Klassen­kampf, aber die ökonomischen Deter­minanten hatten sich offensichtlich auch in dessen Ab­wesenheit weiter entwickelt.

[25] Siehe dazu den folgenden Abschnitt.

[26] Der Angriff auf den Funktionalismus und Determinismus der Regulationsschule ge­lingt in Post Fordism and Social Form (her­aus­gegeben von Bone­feld and Holloway), bespro­chen in der letzten Ausgabe von Aufhe­ben. (Wir haben den Text auf deutsch übersetzt)

[27] Im Unterschied dazu verließen die Analysen der Arbei­ter­autonomie nie den Arbeiterstand­punkt. Zwar waren auch einige der ita­lienischen Theoretiker Aka­demi­ker, sie waren aber trotz­dem Teil der revolu­tio­nären Be­we­gung waren. Sie mögen "vom Staat bezahlte Denker" ge­we­sen sein, aber wenn die Hälfte von ihnen ver­haftet und für Jahre wegge­schlossen wurde, kann man doch annehmen, daß ihre Ideen in einem ge­wissem Widerspruch zu ihrer sozia­len Stel­lung stan­den.

[28] Der italienische Begriff Operaismus (englisch: worke­r­ism, d. Übers.) bezieht sich nicht wie beim angels­äch­sischen Gebrauch des Wortes darauf, daß nur Kämpfe im Betrieb Bedeutung haben, son­dern auf den Versuch, den Kapitalismus aus der Perspektive der Arbei­terklasse zu verstehen.

[29] Raniero Panzieri: Mehrwert und Planung, nachgedruckt in in Thekla 7, S. 57

[30] Einige Anhänger von Bordiga wurden ty­pische dog­matische Vertreter der Zusam­menbruchs­theorie. An­dere entwi­kelten seine Ideen in eine inter­essante Richtung wei­ter, die Parallelen zu den Ope­rai­sten aufweist. Der Begriff der Bestän­dig­keit (wört­lich: inva­riance, d. Übers) (Jacques Camatte und andere) s­oll­te er­klären, daß die zunehmende Vergesell­schaftung der Pro­duktion nicht den Niedergang des Kapi­tals aus­drückte, son­dern den Übergang von der formalen Sub­sumtion des Arbeitsprozes­ses durch das Ka­pital zur reellen Subsumtion, d.h. der Übergang von der kapitali­stischen Über­wachung eines Ar­beitsprozesses, der auf dem Wissen und den Fer­tigkei­ten der ArbeiterInnen beruht, hin zur voll­ständi­gen kapita­li­stischen Herr­schaft über diesen Pro­zeß. Des weiteren sahen sie auch einen Über­gang von der formalen Herr­schaft des Kapitals über die Gesell­schaft zu seiner rea­len Herr­schaft. Trotzdem sind wir der Mei­nung, daß ihre Betonung der Auto­nomie des Kapi­tals den ständigen Kampf, der diesen Prozeß beglei­tet, nicht ge­nügend beachtet. Deswegen sa­hen sie Revolu­tion als plötzliche (wört­lich: cata­stro­phist) Explo­sion un­terdrückter Subjekti­vität.

[31] Raniero Panzieri: Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus, hier zitiert nach The­kla 7, S. 12.

[32] ebd. S. 16.

[33] ebd. S. 18.

[34] Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 459

[35] D.h., von einer Strategie, bei der die Ausbeutung durch eine Ver­längerung des Arbeitstages vergrößert wird, zu einer der stei­gen­den Produktivität, wo der Teil des Ar­beitstags, in dem die Ar­bei­terIn Mehr­wert produziert, verlängert wird.

[36] Ebenda, S. 21

[37] Working Class Autonomy and the Crisis, Red No­tes und CSE Books, S.17.

[38] Toni Negri: Zyklus und Krise bei Marx, Merve Verlag Ber­lin 1974.

[39] Tatsächlich wird ein orthodox-marxistischer Militanter es für falsch halten, daß die Krise mögli­cherwei­se das Werk der Ar­beiter­klas­se ist. »Nein, nein, nein«, wird er oder sie sa­gen, »das ist ein Argument der Rechten; an der Krise ist das Kapi­tal schuld; die Arbei­terklasse - gesegnet sei ihre Bal­lonmüt­ze - hat damit nichts zu tun - die Krise zeigt die Ir­rationa­lität des K­apitalismus und die Not­wendig­keit des So­zialis­mus«. Aber das war genau das stellten die Oper­aisten in fra­ge: den Sozialismus als die Lösung der Kri­sentenden­zen des Kapitals.

[40] Marx beyond Marx, Autonomedia/Pluto, London 1991, S.160.

[41] Nicht zu vergessen Marx und die schlesischen Bergarbei­ter.

[42] Zum Beispiel auf Seite 88 in Open Marxism II: "in­ner­halb der materiellen Entwicklungen (??? wörtlich: within the mate­rial passa­ges of development) werden neue technische Bedin­gun­gen für die proletarische Autono­mie bestimmt. Deswegen ist das erste Mal ein Einschnitt in der Re­struktu­rie­rung möglich, der nicht wie­der zu repa­rieren und unabhängig von der Reife des Klas­senb­e­wußt­seins ist." Er scheint dabei auf die Arbeit von Compu­ter­pro­gram­mie­rern zu setzen! − Es sieht so aus, als wür­den viele ra­dikalen Denker in fortge­schritte­nem Alter - oder genau­er, wenn die Bewe­gung, mit der sie verbunden sind, an Kraft nachläßt - ihre Klar­heit verlieren. Viel­leicht müssen wir Negri gegen Negri benutzen, so wie wir (manc­h­mal) Marx gegen Marx benut­zen (müssen). Viel­leicht s­oll­ten wir die Zusammen­bruchs­theorie aber auch als Ent­gleisung be­trachten, die Revolutionären widerfährt, wenn die Bewe­gung, an der sie teilneh­men, zuende ist (nach 1848, nach 1917, nach 1977). Wenn die Klas­senbewe­gung, auf die mensch sich beziehen kann, an Kraft ver­liert, entsteht die Versuchung, an die Macht des Kapi­tals zu glauben - eine Versu­chung, der wir wider­stehen soll­ten.

[43] Siehe Gunn (1989) "Marxism and Philosophy", Capital and Class, Nr.37.

Aus: Aufheben 4, Summer 1994

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