Wildcat-Zirkular Nr. 16 - Juni 1995 - S. 32 [z16auton.htm]


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Finale Eindrücke vom autonomen Kirchentag

Dieses eher unvermittelte Sammelsurium von Themen und Diskussionsvorschlägen hatte mich von Anfang an skeptisch gemacht. Das vorwärtsweisende Potential, das sich in der Klärung der vorbereiteten Fragen hätte entfalten können, erschien mir nicht besonders groß oder spannend. Aber wer kann heute schon sagen, was die vorwärtsweisenden Fragestellungen sind?

Ich hatte das Bedürfnis, eher selbstreflektierend, die eigenen Erfahrungen in sozialen Bewegungen, in Kampagnen und politischen Projekten nach ihrer Bedeutung für eine Neuorientierung zu befragen und die uns dabei immer wieder begegnenden Widersprüche zu diskutieren.

Die Widersprüche

Die Neugierde, ob es auch andere gibt, die dieses Bedürfnis und diese Fragen im Kopf haben, und ob sie sich auf dem Kongreß in irgendeiner Form ausdrücken hat mich dann doch nach Berlin getrieben.

Natürlich hätte ich auch eine eigene AG zu diesem Thema anbieten können, aber das hätte das Sammelsurium nur um eine Beliebigkeit mehr erweitert. Mir ging es einfach um ein Stimmungsbild, um einen Gesamteindruck.

Ich bin »enttäuscht« worden. Meine Fragen spielten auf dem Kongreß allenfalls am Rand eine Rolle. Definitionsgezänk, das sich Um-den-Kopf-hauen von Abstraktionen und »Ismen« oder Dummheiten, wie z.B. die Vorstellung, daß alle Menschen um uns, als von den Medien ferngesteuerte Roboter, in Reihen marschieren, bestimmten mein Bild vom Kongreß.

Auch einige positive Initiativen, wie die AG zur Lohnarbeit, konnten meinen Eindruck, daß die meisten offensichtlich davon ausgingen, wir könnten einfach immer so weitermachen, nicht relativieren. Die Selbstbejubelung beim Abschlußplenum überzeugte mich dann auch davon, daß viele mit diesem »Irgendwie Weitermachen« sogar ganz gut leben konnten.

Trübung erfuhr der autonome Kirchentag allerdings durch den tobenden Geschlechterkampf. Der Vorwurf einiger Frauen, der Kongreß sei männerdominiert, wühlte all die ungelösten Fragen zum Geschlechterverhältnis hervor, die wir uns so ungern stellen. Wie so oft folgten der Konfrontation mit diesem Vorwurf Irritation, Verunsicherung und Streit. Die Vorstellung, diesen Konflikt jetzt lösen zu müssen und auch lösen zu können mündete in ein Klima der Repression, das den Kongreß überschattete.

Unsere eigene Begrenztheit und das Unvermögen, den Geschlechterwiderspruch als andauernden Prozeß der Auseinandersetzung zu begreifen, der uns begleitet, solange es »Geschlechter« geben wird, diese Beschränkungen wurden weggelogen durch das Aufstellen von Verhaltensregeln.

Immer und überall wo sich zu Wort gemeldet wurde, bestand der unausgesprochene Zwang, seinen Haß aufs Patriarchat und seine Freundschaft zu Behinderten und Migranten vor sich herzutragen, so platt und plakativ es auch erscheinen mochte.

Als auf dem Abschlußplenum ein Genosse diesen Widerspruch noch einmal aussprach - er benutzte den Begriff »Benimmregeln« - wurde ihm von Frauen und Männern Sexismus vorgeworfen und ihm das Wort verboten. Er wurde zum Opfer dessen, was er versucht hatte zu kritisieren.

Dieser Zwischenfall und die darin zum Ausdruck kommende Definitionsmacht, die plötzlich diejenigen erhalten die den Konflikt scheinbar produktiv betreiben hat mich unendlich wütend und, in meiner Wut gefangen, ohnmächtig gemacht. Ich habe dann den Saal verlassen.

Wir brauchen keine Benimmregeln und keine Denkverbote. Verhaltensregeln verdecken unsere eigenen Widersprüche und Konflikte. Sie sind das Ergebnis der Hilflosigkeit, mit diesen Konflikten nicht umgehen zu können. Oder wollen wir mit ihnen auch gar nicht umgehen? Wer sich immer schön an die Regeln hält, der wird nicht auffallen, der wird nirgendwo anstoßen, egal was er oder sie im Kopf hat. Aber genau dieses Anstoßen ist wichtig. Ein Weiterkommen gibt es nur in der offenen Auseinandersetzung, indem Konflikte an Ort und Stelle ausgetragen und nicht unterdrückt werden. Ich dachte immer, das sei selbstverständlich.

Vielleicht ist dieses Umsichschlagen ein Teil der Deformationen, die am Ende eines Kampfzyklus immer schon auf uns warteten? Vielleicht sind diese nach innen gerichteten Zerfleischungen Ausdruck der Hilflosigkeit eines politischen Konzeptes, das nicht mehr in der Lage ist, sich neu zu bestimmen, das sich einfach überlebt hat, aber beharrlich weigert abzutreten?

Die Erfahrung dieses repressiven Klimas und die neu gewonnenen Einsichten in den Zustand unserer Bewegung haben mich wütend und traurig gemacht. Ich glaube, daß an diesem Wochenende in Berlin etwas in mir zerbrochen ist.

Fixogumm


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