Wildcat-Zirkular Nr. 16 - Juni 1995 - S. 47 [z16hambu.htm]


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Ansichtskarte vom 1. Mai in Hamburg

Drei Uhr nachmittags: Die lahme 1.-Mai-Demo ist kaum vorbei, da werden im Schanzenviertel zwei Häuser besetzt: Die Gruppe »Nimm Zwei« öffnet mal wieder die vernagelten Fenster des Hauses in der Schanzenstraße, über das sie seit Jahren mit Hausbesitzer Dabelstein und der Stadt verhandelt, weil sie hier ein »Wohnprojekt« machen will, aber keiner geht rein. 20 Meter weiter dagegen wird ein einstöckiger Schuppen (eine leerstehende Kneipe) und mehrere Wohnungen im danebenliegenden, fast ganz entmieteten Mietshaus besetzt und ein Transparent »Autonome Projekte durchsetzen« rausgehängt. Während die gesetzte autonome Szene des Viertels (wo, wie es mal in einem Papier hieß, »ein Großteil der Läden in unserer Hand« sind) ungläubig zusieht, gehen die sehr jungen BesetzerInnen sofort dran, Barrikaden zu bauen. Hilfreich dabei ist eine große Tiefbaustelle direkt auf der Kreuzung vor dem Haus - die Straße ist drei Meter tief ausgeschachtet. Die Barrikaden wachsen drei bis vier Meter hoch aus Bauholz, Metallzäunen, und allem was sich umkippen läßt: Betonmischer, Bauwagen, Müllcontainer und (leider) ein Dixi-Klo. Um die eigentlichen Barrikaden herum entstehen weitere kleine Sperren auf den Straßen, um die umherfahrenden Zivis abzuhalten. Innerhalb der eigentlichen Barrikaden die Jugendlichen, drumherum in der näheren Umgebung Szene und Anwohnerschaft. Langsam macht sich Volksfeststimmung breit - und keine Polizei weit und breit.

Am frühen Abend wird bekannt, daß die Bullen ein Ultimatum gestellt haben: Macht alles bis morgen früh um sechs schön wieder weg, und wir lassen euch in Ruhe. Das Besetzerplenum kontert mit einem kürzeren Ultimatum: Bis um ein Uhr nachts soll der Innensenator schriftlich oder ersatzweise mündlich vor Zeugen eine Nichträumungsgarantie bis zur Aufnahme von direkten Verhandlungen mit dem Hausbesitzer abgeben. Ansonsten wird ab ein Uhr nachts das Viertel plattgemacht.

Wie sich bald herumspricht, haben die Bullen ernsthafte Probleme, genügend »Kräfte« zusammenzubekommen: Morgens war die 1.-Mai-Demo, die Tage vorher der Castor-Transport im Wendland, und am nächsten Tag soll Prinz Charles nach Hamburg kommen. Wegen der ganzen Großeinsätze haben sie an diesem Abend all ihren Leuten Urlaub gegeben.

Nach einigem Abbröckeln geht es um elf Uhr wieder los. Nachdem ein Zivi-Wagen mit Steinen vertrieben wird, kommen etwa 30 Bullen mit gezückten Knüppeln vom Pferdemarkt aus auf die äußeren Barrikaden zugelaufen, woraufhin alles, was laufen kann und vermummt ist, den Bullen entgegenrennt, die im Steinhagel die Flucht ergreifen. Auf den Straßen versammeln sich immer mehr Leute, denen Ultimatum, Verhandlungen usw. völlig egal sind, und schon kurz vor ein Uhr gehen mehrere Lieferwagen und schließlich ein Schlachterbedarfsgeschäft zu Bruch. Maskierte Kids fragen ältere Plünderer, die endlich mal ein gutes Küchenmesser haben wollen, ihre fetten Hände aber nicht durchs Gitter hinter dem Schaufenster kriegen, höflich: Möchten Sie auch etwas? Und noch etwas? Und noch etwas? Bis schließlich Autonome von nebenan sich als Bürgerwehr aufspielen und die Plünderungen mit dem Hinweis unterbinden (keine Diskussion!), die Plünderer sollten sich doch an große Supermärkte anderswo halten, dies sei doch auch ein kleiner Laden, und man sei an guten Beziehungen im Viertel interessiert (am nächsten Tag erzählt der Ladenbesitzer in der Zeitung tatsächlich, »das waren nicht unsere Jungs von hier«). Aber dann kommen die Veganer: Dieser Messerladen ist doch objektiv ein Mördergeschäft...

100 Meter weiter drischt jemand mit einem Vorschlaghammer geschlagene fünf Minuten auf die Plexiglastür einer Bankfiliale ein. Schließlich gibt die Scheibe nach, Vermummte strömen hinein und nehmen die Inneneinrichtung völlig auseinander. Als Computer und Monitore auf die Straße getragen werden, gibt es eine Auseinandersetzung, was damit geschehen soll: Verkaufen? Kaputtschlagen? »Ey, mach nicht kaputt, die kann man noch gebrauchen, zum Zeitung layouten und so...« Ungerührt trifft der Vorschlaghammer den nächsten Monitor. Hier kommt die Auseinandersetzung über das Wesen der Technologie im Kapitalismus auf den Punkt: Was ist ein Computer: Tauschwert, Gebrauchswert oder Silizium gewordenes Unterdrückungsverhältnis, das bei der ersten Gelegenheit zerstört werden muß?

Angeblich hätten die Bullen mit dem Angriff bis zum Morgen gewartet, wenn die Bank nicht gewesen wäre. Sie haben immer noch keine drei Hundertschaften zusammenbekommen, aber schließlich greifen sie um halb drei von einer Seite an: Vorneweg ein Räumpanzer, hintendran ein Wasserwerfer, machen sie sich an eine Barrikade, die sofort angezündet wird. An den anderen Barrikaden ist kein Bulle zu sehen, der Rückzug nach drei Seiten für Besetzer, Straßenkämpfer und Schaulustige völlig frei. Im Steinhagel braucht der Räumpanzer fast zwanzig Minuten, bis er durch die Barrikade durchgebrochen ist. Die Infanterie der Bullen bleibt auf Höhe des Wasserwerfers, rückt auf die Kreuzung vor, schließlich über die anderen Barrikaden. Die Besetzer sind längst über die Dächer verschwunden, als die Bullen schließlich in der Mitte stehen und die feixende Menge ringsherum. Niemand wird zusammengeschlagen, niemand festgenommen.

Was steckt hinter dieser Schwäche des Staats (nehmen wir mal an, daß es sich um eine solche handelt): Haben sie zu wenig Personal? Haben sie ihre Spitzel in den falschen Szenen? Ist der Innensenator geschwächt wegen des »Polizeiskandals«? (immerhin wird seit mindestens einem halben Jahr bei fast allen Gelegenheiten eher deeskaliert).

Am nächsten Morgen räumen Gestalten in weißen Schutzanzügen die Baustelle auf. Wie sich herausstellt, sind das die Bauarbeiter. Der Chef hat ihnen für diese besonders schmutzige Arbeit die Anzüge gegeben. »Seid ihr jetzt traurig?«, frage ich. Ein Arbeiter zum anderen: »Sind wir traurig?« Großes Gelächter. Mittags ist alles voll von Arbeitern der Stadtreinigung in orangenen Overalls. Sie kommen direkt von ihrer der normalen Müllabfuhrschicht und sind hier wegen der Überstundenzuschläge. Arbeiter einer anderen Baufirma schweißen dicke Stahlplatte vor alle Erdgeschoßfenster des »Nimm Zwei«-Hauses. Auftraggeber ist der Senat selbst. Sie finden diesen Job völlig bescheuert, aber was soll's...

Die nächsten Tage ist der Stadtteil von Bullen »besetzt«, aber wer an ihnen vorbeikommt, grinst nur. Ein schöner Sommeranfang. (B.)


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