Wildcat-Zirkular Nr. 17 - Juli 1995 - S. 28-42 [z17antif.htm]


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Auf dem letzten Wildcat-Zirkular-Treffen gab es nicht nur eine kontroverse Diskussion über den Abdruck des Flugblattes der englischen »Wildcat«-Gruppe im Zirkular #16, die Diskussion war endlich einmal auch fruchtbar, weil sie sich hauptsächlich auf die inhaltlichen Streitfragen einließ. Neben anderen wurde dann auch ich aufgefordert, meine Position und Sicht der historischen Fragen aufzuschreiben - unter Vernachlässigung meines angeblichen Perfektionszwanges. Ausnahmsweise bin ich dem nachgekommen. Das Ergebnis folgt dieser Vorbemerkung, und ich weise gleich im vorhinein daraufhin, daß vieles vielleicht zu kurz oder zu detailliert ist, aber mit der zeitlichen Vorgabe und im Kampf mit den Perfektionszwängen konnte im Moment nichts besseres herauskommen. (Nicht ich trage die Schuld daran, sondern einzig diejenigen, die wieder einmal sagten: »Schreib das doch mal auf ...«)
M.Rh.

The American way of antifa

Anmerkungen zu Krieg, Faschismus und Demokratie

»Wie es der gesteigerten Bewußtheit des konterrevolutionären Geistes im Gegensatz zu den nur konservativen und reaktionären Tendenzen entspricht, ist das gemeinsame Ziel solcher Aushängeschilder der heutigen europäischen Politik wie Hitler und Mussolini, Daladier und Chamberlain nicht nur die zeitweilige Brechung des Widerstandes der Arbeiter gegen die wachsende Unterdrückung und Pauperisierung. Ihr wirkliches Ziel besteht darin, im nationalen und internationalen Maßstab Bedingungen zu schaffen, durch die jede künftige Bewegung der Arbeiterschaft 'ernstlich und für eine lange Zeitþ unmöglich gemacht wird.« (Karl Korsch, Staat und Konterrevolution, 1939)

I. Unter Bombern

Nachdem der Schlachtenlärm um den 8.Mai und die hohle Debatte über Befreiung oder Niederlage vorerst ein wenig abgeklungen ist, können wir uns in Ruhe ein paar Gedanken über den Zusammenhang von Krieg und Klassenkampf, von Faschismus und Demokratie machen. Das ist umso nötiger, als mittlerweile bei einem Teil der Linken selbst die einfachsten Erkenntnisse über Faschismus und Krieg abhanden gekommen sind. Die Wortführer der Antideutschen gehen im Niveau weit zurück und landen bei der Umerziehungsphraseologie der Alliierten von 1945: American way of antifa... Sie streichen einfach alles durch, was in der vergleichsweise kurzen Geschichte der Linken nach 1968 erarbeitet wurde.

Als sich in den 60er und noch in den 70er Jahren Jugendliche gegen ihre Eltern erhoben und erst damit begannen, die Hohlheit der »Demokratie« und die Kontinuität vom Nationalsozialismus zur BRD zu erahnen, war die spontane Verurteilung einer ganzen »Generation« noch verständlich. Immerhin folgten dann Jahre, in denen über den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus diskutiert und heftig gestritten wurde. So abstrakt diese Diskussionen und Analysen auch waren, so gingen sie doch in eine richtige Richtung. Um nicht in abstrakten Modellen hängenzubleiben, machten sich dann viele auf den Weg, in unzähligen Einzelstudien so etwas wie eine Sozialgeschichte des Nationalsozialismus - auf regionaler und lokaler Ebene - zu erarbeiten. Wenn auch für die Faschismustheorie nicht besonders fruchtbar, boten diese Studien insgesamt ein doch sehr differenziertes Bild der Klassengesellschaft in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Danach konnten einigermaßen gewissenhafte Leute weder behaupten, »die« Arbeiterklasse haben den Nationalsozialismus kollektiv bekämpft, noch ließ sich weiterhin pauschal die These aufrechterhalten, »die Deutschen« hätten im Nationalsozialismus ihre historische Heimstatt gefunden. Es mag sein, daß jede politische Generation - auch innerhalb der Linken - frühere Irrtümer und Erfahrungen wiederholen muß. Aber es ist nicht einzusehen, weshalb wir wider besseres Wissen jenen folgen sollen, die schließlich die ganze Entwicklung seit 1967/1968 mitgemacht haben und es besser wissen müßten.

Die Faschismustheorien innerhalb der Linken spiegelten immer ihr eigenes Verhältnis zur gegenwärtigen Klassenrealität wider. Dem bloß moralischen Antifaschismus - gegen die »Elterngeneration« - in den 60er Jahren entsprach die Entfernung von der damaligen Arbeiterklasse, die es erst zu entdecken galt. Die so abstrakten wie dogmatischen Faschismustheorien innerhalb der marxistisch gewordenen Linken dienten oft nur dem Proletkult und der Idealisierung der »reinen« Arbeiterklasse durch K-Gruppen und DKP, die sich als Parteien an die Stelle der Klasse setzten. Dann kam die Entdeckung der »Alltagsgeschichte«, in der zwar interessante Berichte über Regionales und Lokales geschrieben wurden, in der sich aber der Gesammtzusammenhang von Klassenkampf und Faschismus in lauter Einzelgeschichten auflöste. Diesem zerstreuten historischen Bild vom Nationalsozialismus entsprach in der politischen Gegenwart der Linken die langsame, aber gründliche Auflösung aller Begriffe von Klassen und Klassenkampf.

Womit wir es jedoch heute - zumindest bei den westdeutschen Wortführern der Antideutschen - zu tun haben, das ist die offene Gegnerschaft zur real existierenden Klasse. »Links sein«, heißt dann nicht nur »nicht-deutsch« zu sein, es bedeutet auch, daß die frühere elitäre und avantgardistische Rolle gegenüber der Arbeiterklasse aufrechterhalten wird, nun freilich in direkter Gegnerschaft. Was aus alten Zeiten noch übrigbleibt, das ist die stalinistische Ideologie der Erziehungsdiktatur, daß nämlich das Proletariat zum Guten nur durch autoritären, staatlichen Zwang zu »erziehen« sei. Rückwirkend wird der historische Wert der DDR als antifaschistische Erziehungsdiktatur über die Arbeiterklasse hochgelobt. Diese Wendung hin zu einer radikalen Staatslinken ist nur erklärbar durch die Erfahrung der »Wende« von 1989: Den ArbeiterInnen des Ostens nimmt man übel, daß sie den Sozialismus haben zusammenbrechen lassen. Solange sich diese Art Antifaschismus noch im Einklang mit den Bewegungen der ArbeiterInnen glauben konnte, wirkte der Antifaschismus als praktische Moral und auch als Triebkraft in sozialen Revolten von Jugendlichen. Mit der Loslösung von jeder Klassenrealität aber geht diese praktische Moral - bei den Wortführern der Antideutschen - ins bloße Moralisieren über. Proletariat wird zum »Mob«, und das rassistische Selbstbild als »weißer Arbeiter« wird pseudo-marxistisch aufgebläht zum Schlüsselbegriff von Klassenanalyse. [1]

All dies wären nur Fußnoten in der eh nicht so bedeutenden Geschichte der Linken in der BRD, wären da nicht die Bomben auf Bagdad gewesen. Während im Januar 1991 Massen von SchülerInnen auf die Straßen gingen, einfach weil sie ihre eigenen Lebensbedürfnisse gegen den Kriegsterror setzten und weil sie die Kriegspropaganda und Verlogenheit der »humanitären« Hetzer nicht ertrugen, mußten sie sich von »konkret« als Vorformen einer neuen SA beschimpfen lassen. Man entblödete sich nicht, sich vor einer israelischen Vertretung zu versammeln, um Solidarität mit Israel zu demonstrieren. Und der »konkret«-Herausgeber Gremliza (den selbst der NATO-Doppelbeschluß Ende der 70er Jahre nicht hatte aus der SPD treiben können) wußte wie immer eine gelungene Formulierung: Die Falschen (die USA) tuen das Richtige (Israel schützen). Sie alle saßen schon damals imaginär mit in den Bombern, aber in ihren Köpfen kreisten diese Todesmaschinen nicht über Bagdad, sondern - wieder! - über Dresden. Die unselige Kampagne »Keine Träne für Dresden« und die scheinbar nur provokativ gemeinten Ehrbezeugungen für den britischen Bomberkommandanten Harris richteten sich ebenso gegen Dresden im Krieg wie gegen das heutige Dresden, gegen die Arbeiterklasse hüben wie drüben. Die panische Angst vor der Klasse und ihrem angeblichen »proletarischen Nationalismus« hatte Gremliza schon früher dazu gebracht, den US-amerikanischen Truppen in der BRD zuzurufen: »Ami - stay here!« Den Pakt mit dem Teufel hatte der ehemalige Vietnamkriegsgegner also schon vor dem Golfkrieg eingeleitet.

Ohne es zu wollen, demonstrieren die Antideutschen recht gut, was ein imperialistischer Krieg ist und gegen wen er sich richtet. In tragikomischer Gestalt wiederholen sie das Drama jener Antifaschisten von 1945, vor allem jener Mitglieder der KPD, die sich den »Falschen« für das »Richtige« zur Verfügung stellten und sich an der alliierten Besatzungspolitik aktiv beteiligten. Als sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, flogen sie - ob Bürgermeister oder Minister - aus ihren Posten heraus. Dieser Antifaschismus, in seiner historischen wie gegenwärtigen Gestalt, war und ist letztlich nur dazu tauglich, die Methoden der kapitalistischer Herrschaft zu verfeinern und im Namen der »Humanität« der Arbeiterklasse den Krieg zu erklären.

Wir könnten es dabei belassen, die Farce dieses urdeutschen Antideutschtums dem verdienten Gelächter auszusetzen und die grauhaarig, aber nicht klüger gewordenen Wortführer ins Leere reden zu lassen. Wären da nicht diejenigen, deren Antifaschismus immer noch eine moralische Triebkraft sozialer Revolte ist und die sich von der Wortradikalität der »Antideutschen« zunächst einmal angezogen fühlen. Es muß also wieder diskutiert werden, was der Faschismus mit der Demokratie zu tun hat und warum imperialistische Kriege immer Kriege gegen das Proletariat sind.

II. Faschismus und Demokratie

In seinem Text über »Totalitarismus und Faschismus« [2] hat Jean Barrot den Antifaschismus der dreißiger und vierziger Jahre als Rückgewinnung der staatlich-kapitalistischen Kontrolle über die Arbeiterklasse kritisiert. In dieser Kritik hebt er hervor, daß sich der Faschismus historisch ebenso aus der Demokratie heraus entwickelt habe wie umgekehrt die Demokratie aus dem Faschismus hervorgegangen sei. Auf einer sehr allgemeinen und noch abstrakten Ebene heißt das, daß die Gegenüberstellung von demokratischem Antifaschismus und Faschismus nur zwei Seiten kapitalistischer Herrschaft nennt und daß deshalb der demokratische Antifaschismus lediglich auf andere Weise die Integration und Unterordnung der Arbeiterklasse betrieben und verfolgt hat.

Der Faschismus kam zur Macht, nachdem die soziale Revolution - dank der »demokratischen« Repression durch Sozialdemokratie und Parlamentarismus - in Deutschland und Italien niedergeschlagen war. Und er übernahm die Aufgabe, die sich auch der Sozialdemokratie stellte: die Arbeiterklasse im kapitalistischen Staat zu organisieren. Der Übergang zur faschistischen Staatsmacht erfolgte - in Deutschland wie in Italien - mit demokratischen Methoden. Zwar haben Hitler und die NSDAP niemals bei freien Wahlen eine Mehrheit bekommen, sehr wohl aber innerhalb des demokratischen Parlaments, das damit seine Selbstaufhebung betrieb. Im Faschismus und Nationalsozialismus organisierte sich das Kapital zur politischen Einheit (zur herrschenden Klasse), die sich an die Stelle der brüchig gewordenen demokratischen Formen der Vermittlung von Klasseninteressen setzte. Demokratie ist wie der Faschismus eine historische Wahl politischer Klassenherrschaft. So wie der Faschismus der 20er und 30er Jahre stellte die Demokratisierung schließlich eine notwendig gewordene Variante dar, in der die herrschende Klasse ihre Herrschaft organisierte.

Die ArbeiterInnen hatten nie die Wahl zwischen Faschismus und Demokratie. Sie hatten höchsten die Wahl, gegen den Kapitalismus zu kämpfen oder nicht, die Wahl zwischen Kapitalismus und Revolution. Antifaschismus vom Standpunkt des Klassenkampfes aus kann nur Kampf gegen den Kapitalismus selber sein. Wird dieser Kampf nicht radikal bis zum revolutionären Bruch geführt, dann bleiben den herrschenden Klassen alle Möglichkeiten offen, den Klassenkampf in jene Bahnen zu lenken, die die Einheit des Kapitals - als herrschende Klasse - absichern. So abstrakt und allgemein diese Feststellungen zunächst einmal erscheinen, so deutlich wird darin, was es mit dem Gegensatz von Faschismus und Demokratie in den dreißiger und vierziger Jahren und mit dem Antifaschismus der Alliierten und der europäischen Linksparteien auf sich hatte: Der Krieg war die Form, in der das Kapital seine politische Einheit international als bürgerliche Klassenherrschaft reorganisierte - zur Integration und Organisierung der Arbeiterklassen im Staat und zur Niederhaltung der sozialen Revolution.

In dieser Allgemeinheit gibt es überhaupt keine Unterschiede zwischen Deutschland, Italien und den anderen am Krieg beteiligten Ländern. Und in dieser allgemeinen Sichtweise wird erst die scheinbar schwankende Politik der Alliierten gegenüber Hitler-Deutschland und dem faschistischen Italien erklärbar: von der längeren Phase einer offenen Tolerierung der nationalsozialistischen Repression, rassistischen Verfolgungspraxis und offenen Expansionspolitik, bis zur »bedingungslosen Kapitulation« des deutschen Reiches, während das nach-faschistische Regime in Italien als Bündnispartner anerkannt wurde.

Die Unterschiede zwischen der Entwicklung in Italien und in Deutschland in den letzten Kriegsjahren wurden - vor allem in der westdeutschen Linken - lange Zeit dahingehend mystifziert, daß sich »Italien« selbst vom Faschismus »befreit« habe, während »Deutschland« als Staat mit dem Nationalsozialismus untergegangen sei. In Wahrheit bedeutet in dieser Mystifizierung »Italien« nicht das italienische Proletariat, sondern die herrschende Klasse mitsamt einer bedeutenden Fraktion der faschistischen Elite. Mussolini wurde von der herrschenden Klasse gestürzt, und damit wurde die demokratische Transformation des Faschismus eingeleitet. Und diese Wende vom Faschismus zum Antifaschismus, die mithilfe der Kommunistischen Partei zustande kam, konnte sich zuletzt auch noch als nationaler Widerstand ausgeben - nachdem Wehrmacht und SS die mürbe gewordene Mussolini-Diktatur mit terroristischen Besatzungsmethoden zu retten versuchten.

Der Unterschied zur Situation im nationalsozialistischen Deutschland wurde also durch die herrschende Klasse Italiens herbeigeführt, die mit der antifaschistischen Wende und im Bündnis mit der Kommunistischen Partei den ArbeiterInnen die demokratische Herrschaftsform aufzwingen konnte. Der Faschismus in Italien unterschied sich zwar in vielen Punkten erheblich vom deutschen Nationalsozialismus, aber sowohl von der Qualität wie der Quantität her stellte sich das Verhältnis von Widerstand und Massenloyalität in Italien nicht anders dar als im nationalsozialistischen Deutschland. Das wurde mit den rückwirkenden Mythenbildungen der Resistenza als staatsgründender Widerstandsbewegung überblendet.

Weil für die herrschende Klasse und nationalsozialistische Elite in Deutschland ein solcher Kurswechsel, also eine Hinwendung zur demokratischen Transformation des Nationalsozialismus ausgeschlossen war, blieb diese Aufgabe den Alliierten überlassen - über den Weg der »bedingungslosen Kapitulation«. Das bedeutet nicht, daß es aus der Bourgeoisie und NS-Führung heraus keine Initiativen gegeben hätte, in Form von Separatfrieden - oder, wie im Juli 1944, durch einen Staatsstreich zur Errichtung einer Militärdiktatur - einen solchen Kurswechsel einzuleiten. Diese Initiativen blieben jedoch erfolglos, weil die gesamte herrschende Klasse letztlich vor den Konsequenzen einer bedingten Kapitulation zurückwich: daß sich nämlich dann das deutsche Reich in einer ähnlichen Situation wie im November 1918 befunden hätte; eine Erfahrung, aus der die NS-Führung gelernt hatte, niemals eine Situation zuzulassen, in der die Schwächung des Kriegsregimes sozialen Revolten und revolutionäre Bewegungen wieder Raum gegeben hätte. In dieser objektiven Logik von exzessiv gesteigertem Terror nach innen und von außen betriebener Kriegsführung der »bedingungslosen Kapitulation« wurde nicht nur das Proletariat als ganzes eingeschnürt, sondern auch der Weg zur demokratischen Transformation des Faschismus vorgezeichnet: die zeitweilige Ersetzung der herrschenden Klasse in Deutschland durch die alliierten Mächte.

III. Humanitärer Terror

Die Alliierten, weder die aus dem Westen noch die UdSSR, haben zu keinem Zeitpunkt das Ziel verfolgt, »Deutschland vom Faschismus zu befreien«. Es gab natürlich in den Staatsapparaten der USA wie Großbritanniens Funktionäre sowie Militärs, die ehrlich davon überzeugt waren, daß dies ein moralisch gerechter Krieg war, weil er gegen die schlimmsten Unterdrücker der damaligen Zeit gerichtet war. Es gibt viele solcher Beispiele, sie machen nur deutlich, welche Funktion der Antifaschismus als Leitideologie hatte; aber sie erklären nicht die Politik der Alliierten - von den 30er bis in die späten 40er Jahre hinein. Die Befreiung der Überlebenden aus den Konzentrationslagern war ein glückliches, aber eben auch beiläufiges Ergebnis der alliierten Kriegspolitik. Als die ersten Hunderttausend in den Konzentrationslagern saßen, in der Mitte der 30er Jahre, stand das nationalsozialistische Regime bei den Westmächten hoch im Kurs. Später räumten Vertreter der Alliierten ein, man habe damals Fehler gemacht, indem man dem NS-Regime freie Hand ließ.

Tatsächlich folgte die damalige Beschwichtigungspolitik (»Appeasement«) einer recht klaren Logik: Das NS-Regime räumte im Innern mit jeder Art von proletarischem Widerstand - auch in den eigenen Reihen - auf, und man tolerierte jeden Vertragsbruch - wie die vollständige Wiederaufrüstung -, weil man so hoffte, die Expansionsinteressen des deutschen Reiches nach Osten lenken zu können, also gegen die UdSSR. Auch die sowjetische Führung ging anfangs noch davon aus, daß sich jenes Bündnis zwischen deutschem Reich und UdSSR, das es seit den 20er Jahren gegen die Siegermächte von Versailles gab, verlängern ließe. Stalin selber verglich damals die deutsch-sowjetischen Beziehungen mit den italienisch-sowjetischen, d.h. mit den guten Beziehungen zwischen der UdSSR und dem faschistischen Italien seit den 20er Jahren. Die Haltung der sowjetischen Regierung gegenüber dem NS-Regime änderte sich erst mit den eindeutigen Signalen der deutschen Regierung, als diese nämlich die Bündnisbeziehungen faktisch aufkündigte. Dies war der Moment, als die Führung der UdSSR und KPdSU den demokratischen Antifaschismus proklamierte und das Bündnis mit den Westmächten gegen Deutschland suchte.

Sowohl diese Interessenlage wie die Rolle, die dem NS-Regime international zugedacht war, bestimmten dann entscheidend den Bürgerkrieg in Spanien mit: Anfangs hielt sich die UdSSR zurück, griff dann aber um so entschiedener ein, wie es darum ging, die soziale Revolution zu verhindern, während sich die Westmächte sorgsam heraushielten und dem NS-Regime wie dem italienischen Faschismus das Feld überließen, um eine mögliche Ausbreitung der Revolution im Keim zu ersticken. Alle Beteiligten und scheinbar Nicht-Beteiligten - die Regime Deutschlands und Italiens, der UdSSR und die Westmächte - demonstrierten am Beispiel Spaniens bereits den gemeinsamen Inhalt ihrer Politik: Konterrevolution. Nur waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Bedingungen gegeben, daß sich Westmächte und UdSSR auf einen gemeinsamen Kurs einigen konnten: Die Westmächte zogen die faschistische Option für Spanien vor, während die UdSSR und Komintern im spanischen Bürgerkrieg bereits praktisch vorführten, was dann im zweiten Weltkrieg als Konzept des demokratischen Antifaschismus zur gemeinsamen Kriegs- und Klassenpolitik der Alliierten wurde.

Aus der gesamten Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges geht hervor, wie zumindest die Westmächte im Nationalsozialismus und seiner Expansionspolitik eine Art Ausputzer sahen, zwar ein Schmuddelkind der Zivilisation, aber dafür ein um so wirksameres Mittel der Konterrevolution. Das blieb selbst dann noch so, als das NS-Regime 1938 in die Tschechoslowakei einrückte, was mit dem Münchner Abkommen abgesegnet wurde. Und selbst der Überfall auf Polen im September 1939 führte zwar zum Kriegszustand zwischen Frankreich und Deutschland, aber - wie es in Frankreich genannt wurde - in Form des »komischen Kriegs«: Zwei Staaten befanden sich mehrere Monate lang im Krieg, und niemand kämpfte. Im Sommer 1940 brach dann die deutsche Armee in Frankreich ein, und nur diejenigen, die die Klasseninteressen der französischen Bourgeoisie nicht zur Kenntnis nehmen, glauben noch an den Mythos des deutschen Überraschungs- und Blitzkrieges. Der politische und militärische Bankrott des französischen Staates 1940, den die Gaullisten später nicht ganz zu Unrecht als nationalen Verrat brandmarkten, bescherte einem Teil der französischen Bourgeoisie die diktatorischen Ausbeutungsbedingungen (im besetzten wie im unbesetzten - von französischen Faschisten regierten - Teil des Landes), zu deren Durchsetzung der schwache französische Faschismus nicht in der Lage war. In Frankreich war es die gaullistische Exilregierung, die sich als imaginäres, aber »wahres« Frankreich konstituierte, das jene demokratische Option repräsentierte, die dann nach 1944 von der herrschenden Klasse mithilfe der Kommunistischen Partei wahrgenommen wurde.

Das für die letzten Kriegsjahre bestimmende Bild eines vereinigten Lagers der Westalliierten beruhte auf der Festlegung des gemeinsamen Kriegszieles einer »bedingungslosen Kapitulation« Deutschlands durch die USA. Die Beratungen darüber begannen in den USA schon 1942, aber erst im Januar 1943 verkündete Roosevelt auf der Konferenz von Casablanca die Entscheidung, daß der Krieg erst mit der vollständigen Zerstörung der deutschen und japanischen Kriegsmacht enden würde. Eine Zeit lang zögerte die sowjetische Führung noch, diesem Kriegsziel zuzustimmen; dann schloß sie sich dieser Zielsetzung an. [3] »Wir müssen hart mit den Deutschen umgehen«, äußerte sich Roosevelt im Sommer 1944 gegenüber dem Finanzminister Morgenthau, »und ich meine das deutsche Volk, nicht nur die Nazis. Wir müssen das deutsche Volk entweder kastrieren, oder man muß es so behandeln, daß sie nicht nochmal solche Leute hervorbringen, die auf dem gleichen Wege wie bisher weitermachen wollen.« Schriftsteller und andere Intellektuelle aus der deutschen Emigration äußerten sich ähnlich drastisch, so Emil Ludwig 1942: »Nicht weil Hitler Europa versklavt hat, sondern nur, weil die Deutschen die weltgeschichtliche Möglichkeit einer Demokratie (!) verloren und sich in einen Sklavenstaat zurück verwandelt haben, nicht als Strafe, sondern zum Schutz der Welt müssen sie die Regierung auf einige Zeit abgeben. Dies wird ohne Camps und Hinrichtungen, in einer vollkommen humanen Form möglich sein.« Ähnlich kündigte Thomas Mann schon im vorhinein sein Einverstännis an, »wenn die Alliierten Deutschland zehn oder zwanzig Jahre lang züchtigen.«

Damit war in der Ideologie und Politik die Legitimation nicht nur für die Massenbombardements ziviler Ziele gegeben, es wurde damit auch jeder gegenwärtigen oder zukünftigen Befreiungsinitiative in Deutschland die Legitimation abgesprochen. Daß die Festlegung einer solchen »Kollektivschuld der Deutschen« nicht alleine eine Antwort auf den totalen Krieg der nationalsozialistischen Führung war, zeigte erst später die Ideologie und Praxis der Besatzungspolitik in den Westzonen und die dadurch vorbereitete Rehabilitation der deutschen Bourgeoisie mitsamt den Trägern des nationalsozialistischen Staatsapparates. Es gab ein faktisches Zusammenspiel zwischen nationalsozialistischer Volksgemeinschaftsidee und alliierter Kollektivschuld-These, zum einen in der Ideologie - in der Konstruktion eines nationalen Kollektivs, zum anderen in der Praxis des Krieges: Terror im Innern und Massenbombardements von außen. In einfachen Worten, aus einem unverdächtigen Mund: »Ich persönlich finde, daß längst nicht genug betont wird, wie wunderbar der Bombenkrieg geeignet war, mit den Nazis zugleich die revolutionären Ansätze kleinzukriegen«, so Käthe Dräger, damals Mitglied einer kommunistischen Oppositionsgruppe.

IV. Der ausgebliebene Aufstand

Kaum jemand in der Linken bemerkt, wie nahtlos an die nationalsozialistischen Politik angeknüpft wird, wenn stereotyp von einem faschistischen oder nur nationalen Konsens in Deutschland vor 1945 die Rede ist. Wäre dem so gewesen, hätte es nicht des Terrors bedurft. Hätte sich das NS-Regime im Sportpalastjubel für den »totalen Krieg« seiner sicher sein können, wäre die Steigerung des offenen Terrors zum Ende des Krieges hin überhaupt nicht notwendig gewesen. Es kann hier keine Bilanz der gesamten Forschung über Widerstand und Massenloyalität gezogen werden. Es muß zuerst einmal der Hinweis auf die Zahl der Verhaftungen und die Masse der KZ-Insassen für eine erste Entgegnung ausreichen. Bei Kriegsausbruch befanden sich etwa 300.000 Menschen in Konzentrationslagern, vorwiegend Deutsche. Im letzten Kriegsjahr, 1944, wurden allein in den ersten sechs Monaten mehr als 300.000 Menschen verhaftet. Der Terror wurde zum Ende des Krieges hin intensiver und auch unverhohlen offen ausgeübt. Das relativiert nicht die Tatsache von 8 Millionen NSDAP-Mitgliedern und einer breiten Passivität gegenüber der sichtbaren und erfahrenen Unterdrückungspolitik. Aber es setzt Kollektivurteilen Grenzen, ob sie sich nun auf fragwürdige Begriffe wie »die Deutschen« oder auch auf »die« Arbeiterklasse beziehen. Der alltägliche Terror ist vielmehr der praktische Beleg dafür, daß die propagandistisch verkündete Stillegung der Klassenkämpfe und jeder Art von Widerstand ein fromme Lüge der Nazis war. Die Massenbasis, die der Nationalsozialismus in allen gesellschaftlichen Klassen zweifellos besaß, reichte offenbar nicht aus, um das Regime zu stabilisieren.

Aber man kann noch weiter gehen: Der Aufstand gegen das nationalsozialistische Regime wäre in Deutschland zwangsläufig mehr gewesen als eine Befreiungsbewegung unter nationalem und antifaschistischem Vorzeichen. Er hätte den radikalen Bruch nicht nur mit dem Nationalsozialismus, sondern der gesamten Klassenherrschaft bedeutet. Es gab unter den Bedingungen des NS-Regimes keinerlei Vermittlung, wie etwa in Italien oder in Frankreich; es gab außerhalb der Arbeiterklasse und des unmittelbaren Klassenkampfes kein Zwischenglied, kein Klassenbündnis mit Fraktionen der Bourgeoisie und des Staatsapparates, und es gab noch nicht einmal auf internationaler Ebene ein schwaches Kettenglied in der imperialistischen Herrschaft, das sich taktisch günstig ausgewirkt hätte. Wenn irgendwo auf der Welt, dann bedeutete der Aufstand in Deutschland die reinste Form des Antagonismus zwischen Arbeiterklasse und Kapital. Und nirgendwo auf der Welt hat je ein Proletariat unter solchen Bedingungen den Kampf aufgenommen!

Daß dies nicht aus der Luft gegriffene Spekulation ist, zeigt die Entwicklung der inländischen Widerstandsgruppen, unabhängig welcher politischen Richtung innerhalb der Linken sie angehörten. [4] Sowohl bei Gruppen der Sozialdemokratie wie innerhalb der KPD-Führung stand überhaupt nicht mehr in Frage, daß nach dem Sturz des NS-Regimes durch einen Aufstand oder auch nur durch eine militärische Niederlage der »Sozialismus auf der Tagesordnung« stand. Das bedeutete natürlich nicht, daß sich die Untergrundgruppen der Linksparteien plötzlich zu revolutionären Organisationen gewandelt hätten, es war lediglich Ausdruck einer Situation, in der es mit der Bourgeoisie nichts mehr gemeinsam zu tun gab.

Diese Erwartungen in eine sozialistische Umwälzung waren so naiv (da sie auch mit dem Sieg der Alliierten verbunden waren) wie hartnäckig: Als die »Gruppe Ulbricht« im Frühjahr 1945 von der Moskauer Exilführung der KPD nach Deutschland geschickt wurde, um die KPD-Gruppen auf die Ziele der »antifaschistisch-demokratischen Umwälzung« einzunorden, brauchte es lange und zähe Verhandlungen, bis auch die letzte KPD-Versammlung von der Nowendigkeit der »Demokratie« überzeugt war. Ulbricht und seine Genossen aus der Moskauer Parteiführung bedienten sich dabei desselben Arguments wie die alliierten Besatzungsmächte in der Frage der »bedingungslosen Kapitulation«. Die Bevölkerung und Arbeiterklasse in Deutschland sei, so Ulbricht damals, »faschistisch verseucht«, so daß erst einmal ein langer demokratischer Erziehungspozeß eingeleitet werden müßte.

Die »Sozialismus«-Propaganda der SPD und auch der CDU nach 1945 hatte natürlich nichts mit proletarischer Revolution zu tun. Sie war lediglich ein Anpassungsmanöver an ein allerdings weit verbreitetes Bewußtsein, in dem Faschismus und Kapitalismus gleichgesetzt wurde. Selbst die CDU mußte in den Anfangsjahren (in ihrem legendären »Ahlener Programm«) wortradikal einräumen, daß Marktwirtschaft und Monopolkapitalismus versagt hätten. Der Hintergrund all dieser propagandistischen Manöver war, daß man eine Zeit lang die Bourgeoisie aus dem Gesichtskreis der ArbeiterInnen verschwinden lassen mußte, um die demokratische Transformation des Faschismus gelingen zu lassen. Der »Sozialismus« der bürgerlichen und Linksparteien war ein Kapitalismus ohne Kapitalisten.

Das wurde durch mehrere Faktoren erleichtert: Zahlreiche Kapitalisten, insbesondere »Wirtschaftsführer« aus Großbetrieben, waren verhaftet worden. Andere erhielten aufgrund ihrer NSDAP-Funktionen und -Mitgliedschaft Hausverbot im eigenen Betrieb. (Aus der sowjetischen Besatzungszone hatten sich die meisten gleich nach Westen abgesetzt.) Unter den Bedingungen der Besatzungsmacht und Besatzungspolitik galten nun gleichermaßen Sachzwänge - die Selbstverwaltung der Produktion durch ArbeiterInnen unter Anleitung von Betriebsräten, die sehr häufig aus dem politischen Widerstand kamen - und politische Zwangsmaßnahmen - Verbot eigenständiger politischer Organisierung und freier Presse, Kontrolle und Verhinderung von Reisen in andere Zonen, und der Zwang, sich an diejenigen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen zu halten, die von den Besatzungsmächten zugelassen wurden. Der Zerschlagung der politischen und ökonomischen Macht der deutschen Bourgeoisie folgte die Unterdrückung jeder selbständigen Organisierung von ArbeiterInnen-Organisationen.Die Beispiele dafür wurden in der linken Literatur der 70er Jahre so häufig genannt, daß ich mir hier eine ausführliche Wiedergabe sparen kann. Entscheidend ist, daß sich direkt mit der Besatzung ein Disziplinierungsapparat in den Besatzungszonen ausbreitete, der zum einen der politischen Unterdrückung und Integration der ArbeiterInnen diente, zum anderen alle Kräfte der Arbeiterklasse im »Wiederaufbau« der Fabriken und Betriebe band. Während die Kapitalisten entweder Hausverbot im Betrieb hatten oder im Knast saßen, setzten Millionen von ArbeiterInnen unter Anleitung antifaschistischer Betriebsräte die Maschinerie wieder instand, mit der sie dann tüchtig ausgebeutet werden konnten, nachdem die alten Herren nach einer antifaschistischen Schamfrist wieder die eingesetzt wurden.

In dieser Weise gelang die demokratische Integration und die Hervorbringung einer Klasse, die auf lange Jahre hinaus politisch derart geschwächt war, daß eine extrem hohe Ausbeutungsrate möglich wurde. Zu dieser Rekonstruktion des Kapitalismus in Deutschland - nun aber unter den Bedingungen der US-Hegemonie - gehörte aber mehr als nur die reine Disziplinierung durch die Besatzungsmacht. Die Klassenintegration in der demokratischen Transformation des Faschismus wäre nur schlecht möglich gewesen ohne die Linksparteien und Gewerkschaftsapparate, die vielleicht zu den wichtigsten Disziplinierungs- und Integrationsmitteln wurden. Für diejenigen Teile der Arbeiterklasse, insbesondere aus der alten Facharbeiterschaft mit der Tradition der 1933 zerschlagenen 'Arbeiterbewegungþ, die gleichermaßen an der Bewegung vor 1933 und an den Erfahrungen im Faschismus anknüpfen wollten, bedeutete die Wiedergründung der alten Parteien faktisch eine weitere Niederlage. Die Erwartungen an eine Vereinigung der tradionellen sozialistischen Richtungen - aus KPD und SPD - waren weit vebreitet. Ähnlich wie bei der Linienkorrektur innerhalb der KPD, nachdem die Auslandsleitung wieder die Oberhand gewonnen hatte, setzte sich gegen viele aktive Mitglieder und vor allem gegen Mitglieder aus den früher illegalen Gruppen die Parteispaltung wieder durch. Die Konzeption der Parteien und Gewerkschaften, die nach 1945 in den Westzonen wie in der Ostzone Gestalt annahmen, war schon in den Auslandsorganisationen entwickelt und mit den jeweiligen Besatzungsmächten abgestimmt worden.

All dies geschah in der relativ dünnen, hohen Luft einer traditionellen Arbeiterpolitik. In seinem Buch über »Die 'andereþ Arbeiterbewegung« ist Karl Heinz Roth, wenn auch recht summarisch, auf die damalige Klassensituation unmittelbar nach dem Krieg eingegangen [5]: »Eine Klasse, politisch in ihren Avantgarden derart weitgehend vernichtet und durch die auf ihre Wohnviertel konzentrierten westalliierten Bombenangriffe so weitgehend demoralisiert, daß sie sich in den ersten Stunden der Befreiung nicht gegen ihre Peiniger erhob, braucht in der Tat Jahrzehnte, um ihre Apathie und Geschichtslosigkeit zu überwinden, den rekonstruierten Mechanismus der Klassenspaltung anzugreifen, und von sich aus neue antagonistische Kampfformen zu entwickeln.« (S. 187) Er benennt auch ein weiteres, entscheidendes Problem: daß unmittelbar mit dem Kriegsende sich die Zusammensetzung der Belegschaften total veränderte - durch den schnellen Wegzug der ZwangsarbeiterInnen: »Es ist erschütternd, wie schnell und scheinbar vollständig die Klassenzusammensetzung der Jahre 1944/1945 zur Ungeschichte geworden ist, während sie sich mit der Geschichte der Reproduktionszyklen des Kapitals untrennbar verbindet. Beim zurückgebliebenen 'Stammarbeiterþ-Teil sind allenfalls ein paar Erinnerungen an einige kurzlebige Racheaktionen seitens der ausländischen Arbeiter zurückgeblieben.« (S. 186)

Bleibt noch zu sagen, daß die »Stammarbeiter« auch nur Teil eines Proletariats waren, das sich in Massen auf »Wanderschaft« befand, sei es als heimkehrende oder noch kriegsgefangene Soldaten oder als Flüchtlinge oder als Ausgebombte. Unter diesen Bedingungen und erst recht unter den Voraussetzungen einer totalen politischen Kontrolle durch die Besatzungsmächte konnte sich aus den vorhandenen Resten einer traditionellen (Fach-) Arbeiter-Avantgarde kein Kristallisationspunkt für diese zerstreute und gespaltene Klasse herausbilden. Sie ging deshalb auch sehr bald in der überwiegenden Mehrzahl in den Kontrollapparaten von Gewerkschaften und »Arbeiterparteien« wieder auf.

V. Antifaschistische Konterrevolution

Der gesamte Zeitraum vom Ende des ersten Weltkrieges bis in die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg müssen als ein Zusammenhang begriffen werden, der durch die inneren und äußeren Kämpfe um eine neue imperialistische Weltordnung geprägt ist. Vom Standpunkt der Klassenkämpfe aus handelt es sich bei der Zwischenkriegszeit und beim zweiten Weltkrieg um die Organisierung und Formierung der internationalen Konterrevolution - in all ihren Spielarten und Gestalten: demokratisch, faschistisch bzw. nationalsozialistisch, und stalinistisch. Die objektive Logik dieser Entwicklung läßt sich auf zwei miteinander verbundene Punkte reduzieren: erstens die Welt so unter den Staatsmächten aufzuteilen, daß zweitens die soziale Revolution im Innern dieser Staaten auf lange Zeit von der Tagesordnung verschwindet, also die Niederlage der revolutionären Bewegungen zu Anfang der 20er Jahre möglichst zu verewigen.

Der innere gesellschaftliche Druck, also die in den dreißiger Jahren aufgestauten Klassengegensätze wurden militärisch und ideologisch (im Antifaschismus) jeweils nach außen gewendet; wobei dies den Alliierten um so leichter fiel, als schon das brüchige Staatensystem des Versailler Vertrages nicht zuletzt dadurch zusammengehalten wurde, daß die inneren Klassenwidersprüche der Siegermächte auf Deutschland und andere »Verlierermächte« verschoben wurden (und dort als nationalistische Aufladung des Klassenkampfes zur Geltung kamen). Die nationale Integration der Klassenkämpfe, ihre Kanalisierung im Antifaschismus und demokratischem Aufbau, also die auf lange Zeit wirkende Niederlage der Arbeiterklassen [6], war die Voraussetzung dafür, auch den Kampf um die Hegemonie innerhalb des Imperialismus zu entscheiden. Kurz, der Krieg mitsamt der internationalen Niederlage und Integration der Arbeiterklassen war der Weg und das entscheidende Mittel, um die langanhaltende Krise des Kapitalismus zu lösen und die Bedingungen für ein neues Akkumulationsregime zu schaffen.

Der Klassencharakter des Krieges läßt sich auch an den Kämpfen ablesen, die fast unmittelbar mit dem Sieg der Alliierten ausbrachen - eine Art »Abrechnung«, bei der sich zeigte, daß nach der Niederschlagung des Faschismus und nationalsozialistischen Regimes nun die ArbeiterInnen an der Reihe waren: In Frankreich und Italien blieb es bei sozialen Unruhen bzw. Streikbewegungen, aber zum Beispiel in Griechenland, wo das internationale Aufteilungsregime außer Kontrolle geriet (und sich die Partisanenbewegung nicht an die sowjetischen Vorgaben hielt), wurde es erst durch militärische Intervention und einen blutigen Bürgerkrieg möglich, die Aufteilungsordnung durchzusetzen. Mit der Anwesenheit einer riesigen militärischen Streitkraft in Europa waren Bedingungen gesetzt worden, die nicht nur aus Deutschland, sondern zum Beispiel auch aus Italien faktisch ein besetztes Land machten. Unverhohlen wies beispielsweise der aus der Emigration zurückgekehrte Chef der italienischen KP, Palmiro Togliatti, seine widerspenstigen Parteikader auf diese imperialistische Interventionsarmee hin, als er die Entwaffnung der Partisanen und die Selbstbeschränkung auf »demokratische« Ziele verlangte. Ähnlich ruppig ging es in den Apparaten der französischen Stalinisten zu, wo etliche Funktionäre der Auflösung der Partisanenverbände Widerstand leisteten.

Aus diesen und vielen anderen Beispielen und Ereignissen geht die wichtige Rolle der UdSSR bei der Aufteilungspolitik und der Einrichtung der neuen Weltordnung recht plastisch hervor. Die Aufteilung der Welt in einen Westen unter US-Hegemonie und in einen Osten unter sowjetischer Vorherrschaft stellt sich auf der Oberfläche zwischenstaatlicher Beziehungen als Konkurrenz und Gegensatz dar, aber sowohl die inner-imperialistische Konkurrenz (die Übernahme der britischen Führungsrolle durch die USA) als auch der sogenannte System-Gegensatz (zwischen Westen und Osten) war die im Krieg auf praktischem Wege gefundene Einheit der antifaschistischen Konterrevolution. Und der sogenannte Kalte Krieg war die Form, in der diese Einheit gewahrt blieb. Sorgsam achteten die sich gegenüberstehenden Blöcke darauf, den jeweiligen Gegner im Innern in Ruhe zu lassen. Ob als Kalter Krieg oder sogenannte Entspannungspolitik - der Systemgegensatz war nichts weiter als die friedliche Koexistenz zweier Ausbeutungsregime, während sich ein konkurrierender, politischer und militärischer Interventionismus spätestens seit Anfang der 50er Jahre in der Dritten Welt ausbreitete.

Freilich hat der Kalte Krieg dazu geführt, daß die Ideologie des demokratischen Antifaschismus ihre bisherige Form änderte ohne dabei jedoch ihre Funktion zu verlieren. Die Plätze wurden getauscht: Hier die Ex-Nazis mit den West-Alliierten zusammen gegen den »Totalitarismus«, dort der Stalinismus als Wahrer des antifaschistischen »Erbes«. Der Appell an die frühere Einheit der Alliierten ging nun von der UdSSR und den Kommunistischen Parteien aus. Das brachte solche Verrücktheiten hervor wie die nationalistische Phraseologie der Stalinisten: etwa in Frankreich, wo an die Résistance-Traditionen appelliert wurde, um auf nationalistischer Basis Antiamerikanismus zu schüren, oder in Deutschland, wo es der KPD überlassen blieb, immer wieder die Einhaltung des Potsdamer Abkommens [7] einzuklagen und ihrerseit eine nationalistische Volksbewegung gegen den US-Imperialismus zu fordern.

In der Interpretation des parteioffiziellen Kommunismus war der internationale Systemgegensatz eine höhere - und übergeordnete! - Stufe des Klassenkampfes. Diese Interpretation, gestützt auf den Mythos der Oktoberrevolution und vor allem auf die Bedeutung der Roten Armee bei der militärischen Niederschlagung des NS-Regimes, hatte in ganz Westeuropa eine Massenbasis. Und die Linke in Westdeutschland blieb diesem Schein hartnäckig verhaftet. Der »eiserne Vorhang« - eine der stärksten Waffen der internationalen Klassenspaltung - wurde in den ideologischen Auseinandersetzungen faktisch als eben jener antfaschistische Schutzwall wahrgenommen, als den ihn die stalinistische Propaganda darstellte. Rückblickend waren es nur die Bewegungen und Kämpfe um 1968, die weltweit sowohl die jeweiligen Ausbeutungsregime wie ihre internationale Ordnung ernsthaft erschütterten. In dieser kurzen Zeit einer Offensive von Arbeiterkämpfen als neues revolutionäres Subjekt wankte auch der antifaschistische Mythos des Stalinismus. Mit den Niederlagen dieser Kämpfe in den 70er Jahren und der Krise der sogenannten Neuen Linken ging zumindest innerhalb der westdeutschen Linken der stalinistische Antifa-Mythos einer neuen Renaissance entgegen. Es gehört zu den Ironien der Geschichte, daß ausgerechnet im sogenannten zweiten Kalten Krieg seit Anfang der 80er Jahre (unter Reagan und Thatcher) bei einer Reihe von orthodoxen Kommunisten das Bild des realen Sozialismus deutliche Risse bekam (Polen 1980-1981!), während sich in Westdeutschland in der autonomen und antiimperialistischen Linken immer mehr ein linksradikaler Pro-Sowjetismus breitmachte. War dies noch auf eine Frontstellung gegen den US-Imperialismus und die NATO beschränkt, so blieb bei anderen Teilen der Linken - bis in die Reihen der Sozialdemokratie hinein - der Mythos einer sowjetischen Schutzmacht gegenüber autoritären und faschistischen Tendenzen innerhalb der BRD-Gesellschaft hartnäckig bestehen.

Einleitend zu diesem Text habe ich schon hervorgehoben, wie diese ideologischen und politischen Positionen mit dem Verhältnis der Linken zur Arbeiterklasse vermittelt sind. Vielleicht wird jetzt auch die Behauptung nachvollziehbarer, daß der Umschlag vom Antifaschismus zur »antideutschen« Linken letztlich den ArbeiterInnen der DDR und des gesamten ehemaligen Ostblocks zu verdanken ist: Anstatt den Zusammenbruch der konterrevolutionären Nachkriegsordnung wenigstens als Chance für eine Internationalisierung der Klassenauseinandersetzungen zu begreifen, entlarvt sich die ganze antideutsche Propaganda als abgrundtief reaktionär [8]. Sie ist nicht bloß ein »Irrtum«, sie bewegt sich schon auf der Seite des Feindes.

Martin Rheinlaender, Hamburg


Fußnoten:

[1] So zum Beispiel Heiner Möller in seiner Entgegnung auf Karl Heinz Roth in: »Die Wiederkehr der Proletarität«.

[2] In Jean Barrot: Bilan, Contre-Révolution en Espagne. Leider wurde der Text bislang noch nicht einmal in Auszügen auf deutsch veröffentlicht.

[3] Die Forderung nach der þbedingungslosen Kapitulationþ hatte neben der - in den Augen der Westalliierten notwendigen - Zerstörung der Eigenstaatlichkeit Deutschlands auch den Zweck, ein gegenseitiges Ausscheren aus dem militärischen Bündnis zu verhindern. Also eine Art Rückversicherung für alle Beteiligten; denn insbesondere die sowjetischen Führung befürchtete damals noch einen möglichen Separatfrieden der Westmächte gegen die UdSSR. Tatsächlich war auch die Churchill-Regierung anfänglich nicht so leicht für dieses Ziel der USA zu gewinnen, denn sie liebäugelte noch - eben wie es die sowjetische Regierung befürchetete - mit einem Separatfrieden. (Unter Churchill wurde schließlich auch wieder 1945 darüber nachgedacht, den Krieg in Richtung Osten fortzusetzen.)

[4] Die ausdrücklich politischen Gruppen werden hier nur als Vermittler zwischen den sich neu herausbildenden Kontrollapparaten der Besatzungsmächte und der Arbeiterklasse hervorgehoben. Es wäre bei einer anderen Gelegenheit einmal genauer auszuführen, wie zerstreut und breit gestreut die alltägliche Renitenz war und wie auch in nicht wenigen Fällen diese Renitenz zu militantem Widerstand überging. Zu den þVergessenenþ dieses Teils der Klassengeschichte gehören insbesondere jugendliche Subkulturen - ob rheinische Edelweißpiraten, Leipziger Meuten oder andere wilde Cliquen -, deren Ausbreitung den Nazis große Sorgen bereitete und auf die sie zum Beispiel 1944 mit der öffentlichen Hinrichtung einer Gruppe Kölner Jugendlicher und der Einrichtung besonderer Jugend-KZs äußerst brutal reagierten.

[5] Ich gehe davon aus, daß in einem weiteren Diskussionsbeitrag - zumindest anhand der vorhandenen Literatur wie dem Buch von Mason über die »Arbeitspolitik« des Dritten Reiches - etwas genauer auf die Klassenzusammensetung und -situation unter dem NS-Regime eingegangen wird. Deshalb bleibt es hier nur beim allgemeinen Hinweis.

[6] Den Anteil, den die Arbeiterklassen selber an diesem Integrationsprozeß hatten, habe ich vor längerer Zeit in dem Thesenpapier über »Integration und Klassenkampf« zu schildern versucht. Wenn hier von Niederlage geredet wird, dann heißt das nicht, daß die ArbeiterInnen dabei bloß Objekt der imperialistischen Politik waren. Diese historische Niederlage - gemessen an den revolutionären Bewegungen nach 1918 - nahm jeweils die Form eines nationalen Klassenkompromisses an, der andauernd umkämpft blieb bzw. nur durch Klassenkämpfe eingehalten werden konnte. Insofern ist auch das durch die internationale Konterrevolution herbeigeführte System des Nachkriegskapitalismus natürlich kein starre, unbewegte Ordnung geblieben.

[7] Das Potsdamer Abkommen vom Sommer 1945 formulierte in einem Satz den Charakter der Besatzungspolitik: »Alliierte Armeen führen die Besatzung von ganz Deutschland durch, und das deutsche Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden.« (in: »Neubeginn und Restauration«, München 1984, S. 113).

[8] Daß sie nicht nur im negativen Sinne nationalistisch ist, sondern auch positiv, zeigt sie sowohl in der Anrufung des Bomberkommandanten Harris als auch in einer manchmal schon unerträglichen Verherrlichung des demokratischen Nationalgedankens. Wenn Jürgen Elsässer seinen Kommentar in der Jungen Welt über Rassismus und Nationalismus in Frankreich und Deutschland mit dem Ausruf þVive la Revolution! oder wenigstens: Vive la France!þ enden läßt, dann zeigt hier nur ein ausgeprägter Flachkopf, was in komplizierter arbeitenden Hirnen noch nicht so eindeutig ausgearbeitet wurde.


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