Der folgende Artikel ist ursprünglich für die Sondernummer der Quer zu dem Erwerbslosenkongreß im Herbst in Hamburg geschrieben worden. Wir drucken ihn jetzt im Zirkular ab, da er dort doch keinen Platz mehr gefunden hat.
Mindestens ein Einkommen?
Die Forderung nach Existenzgeld ist in die Krise geraten
Das Thema Existenzgeld (oder auch: Mindesteinkommen, bedarfsorientierte Grundsicherung, Bürgergeld, negative Einkommenssteuer) hatte in den letzten Jahren Konjunktur. Die Erwerbslosengruppen und Arbeitslosenintiativen waren mit dieser Forderung angetreten, um eine breite und vereinheitlichte Bewegung von Erwerbslosen zu schaffen. Die neue Popularität des Konzepts stellt sie aber vor ein ernsthaftes Problem: es waren nicht massenhafte Demonstrationen von Erwerbslosen, die sich die Forderung nach einer Mindestsicherung auf die Fahnen schrieben, sondern unerwünschte Bündnispartner wie die Neoliberalen sowie Teile der CDU und des Unternehmerlagers. Die Forderung nach Existenzgeld läuft Gefahr, in den Sog der kapitalistischen Umbaupläne am Sozialstaat zu geraten.
Zunächst wurde versucht, die grundlegende Unterschiedlichkeit der Vorschläge aus den verschiedenen Lagern herauszustreichen. Aber so grundverschieden waren und sind sie nicht. Es begann daher begrüßenswerterweise innerhalb der Erwerbslosenbewegung eine selbstkritische Diskussion um die bisherige Forderung. Am weitesten ging bisher der Beitrag in der QUER vom Dezember letzten Jahres. Er sieht, daß eine Mindestsicherung die weitere Prekarisierung der Arbeitsmärkte nur flankieren würde. Er hinterfragt die begrenzte Orientierung auf ein Geldeinkommen und die Fixierung auf den Staat. Dem Kampf um ein Existenzgeld soll daher der Widerstand gegen die Prekarisierung und ein Kampf um Arbeitszeitverkürzung zur Seite gestellt werden. Unübersehbar werden hier Diskussionsstränge von Robert Kurz oder Karl Heinz Roth aufgenommen, die etwas frischen Wind in die reformistisch festgefahrene Existenzgelddebatte bringen könnten. Das wichtigste an dem Beitrag ist daher auch der Vorschlag, zunächst einmal die Realität in der Gesellschaft breiter zu untersuchen. Da, wo er schon versucht, die kritischen Überlegungen in neue Forderungen umzusetzen, bleibt er auf ausgetretenen Pfaden: Forderung eines Mindestlohns oder Weitertreiben der bisherigen Arbeitszeitverkürzungspolitik. Also doch wieder der Appell an den Staat, die weitere Prekarisierung zu verhindern, obwohl klar ist, daß er sie betreibt.
Die Geschichte der Forderung nach Existenzgeld
Heute ist in Vergessenheit geraten, wie in der politisch radikalen Bewegung die Idee entstanden ist, Existenzgeld zu fordern, aber diese Geschichte ist wichtig zum Verständnis der aktuellen Krise der Forderung. Das »Existenzgeld« tauchte erstmals Anfang der 80er Jahre bei den sogenannten sozialrevolutionären Zusammenhängen auf und markierte einen wichtigen Einschnitt.
In den 70er Jahren hatten die vielfältigen Kämpfe auf der Straße, in den Fabriken oder um Häuser einen allgemeinen revolutionären Optimismus getragen. Es ging um eine radikale Konfrontation mit der ganzen kapitalistischen Gesellschaft, deren Grundlage in der Abpressung von Arbeit gesehen wurde. Der Kampf gegen die Arbeit und Ausbeutung bildete daher ein Zentrum und die Machtbasis, von dem aus alle gesellschaftlichen Bereiche der praktischen Kritik unterzogen werden sollten. Die Kämpfe in den Stadtteilen und Hausbesetzungen, Null-Tarif-Aktionen, Bewegungen an den Schulen, gegen Knast oder Psychiatrie standen nicht im Gegensatz zu den Fabrikrevolten, sondern wurden als Einheit gesehen und erfahren. Die verschiedenen kapitalistischen Institutionen zerstören unser Leben, weil sie alle dem Zweck dienen, uns zum lebenslangen Arbeiten in der Leistungsgesellschaft abzurichten. Der Zwang zur Arbeit wurde weithin als die grundlegendste und brutalste Gewalt dieser Gesellschaft empfunden. In den radikalsten theoretischen Strömungen, die vor allem aus Italien kamen, wurde dies offen formuliert und mit einer Kritik am Arbeitsfetisch des orthodoxen Marxismus untermauert.
Den ersten Einschnitt bildete der Krisenangriff des Kapitals Mitte der 70er Jahre, der in Verbindung mit einer enormen politischen Repression die Kämpfe zurückdrängte. Die Arbeitslosigkeit wurde dauerhaft hochgetrieben. Die Unternehmer wollten uns wieder mit Gewalt einbleuen, daß wir gefälligst um Arbeit zu betteln hätten, statt uns gegen ihre Zwänge aufzulehnen. Politisch konnte die Bewegung so abgebrochen werden, aber ihre Inhalte, die Ablehnung der Arbeit, waren damit nicht ausgelöscht. Bezahlte Arbeitslosigkeit wurde als eine befreiende Möglichkeit begriffen: der »glückliche Arbeitslose«! Daneben stand die unmittelbare Aneignung von gesellschaftlichem Reichtum auf dem Programm: Laden- oder Stromdiebstahl, Schwarzfahren und Hausbesetzungen. Damit war - wie beim Gebrauch von Sozialgeldern für ein »selbstbestimmteres« Leben - eine Individualisierung der Kampfformen verbunden, aber im Unterschied zu heute wurden sie politisch verstanden (oder als solche überhöht).
Den zweiten Einschnitt bildete die Krise 1980/82, die die Arbeitslosigkeit weiter herauftrieb. Die neue Hausbesetzerbewegung dieser Jahre zeigte, daß es auch damit nicht gelang, die Jugendlichen für die kapitalistische Arbeitsgesellschaft zu begeistern. Aber nach deren Rückgang fragten sich die verbliebenen sozialrevolutionären Gruppen, wie sich eine breitere Bewegung entwickeln ließe - ohne daß es dafür eine Massenbasis auf der Straße oder in den Fabriken gab. Hinzukam, daß die gesellschaftliche Entwicklung theoretisch als Tendenz zu einer »postindustriellen Massenarmut« erklärt wurde. Aufgrund der verstärkten Rationalisierung und Automatisierung in der Produktion wurde die baldige Abschaffung der Arbeit durch die Unternehmer selbst vorhergesagt. Es gänge also langfristig nicht mehr um den Kampf gegen den Arbeitszwang, sondern um den Kampf um das pure Existenzrecht der arbeitslosen Massenarmut. Es kam anders: das Kapital nutzte die Schwächung des gesellschaftlichen Widerstands für einen Boom in den 80er Jahren, in dem in kurzer Zeit über drei Millionen neue Jobs geschaffen wurden - allerdings schlechtere und mieser bezahlte: Leiharbeit, befristete Jobs, Arbeit auf Abruf, neue Klitschen im Zuliefer- und Dienstleistungsbereich waren angesagt.
Wir hatten auf diese Entwicklung schon damals hingewiesen, aber der Vorschlag, Kampfinitiativen und praktische Untersuchungen innerhalb einer neu zusammengesetzten und prekarisierten Arbeiterklasse zu probieren, fiel auf keinen fruchtbaren Boden. Das Dilemma der damaligen sozialrevolutionären Gruppen, die zu den Vorläufern der heutigen Erwerbslosenbewegung gehören, lag darin, daß sie für sich selber die Nutzung der Sozialleistungen (später kam die Nutzung der aufgeblähten ABM-Mittel hinzu) als die befreitere Lebensweise entdeckt hatten, von da aus aber zu keinen umfassenden politischen Vorschlägen mehr kommen konnten. In dieser Situation entstand die Forderung nach dem Existenzgeld, mit dem der Staat das Überleben in der Massenarmut sichern sollte.
Existenzgeld - integrierbar in die neue Kapitalpolitik
Damit war an zwei Punkten eine entscheidende Wende vollzogen. Erstens kam es zu einer Hinwendung zum Staat, dem nun wieder die Aufgabe zugeteilt wurde, das gesellschaftliche Gemeinwohl zu organisieren. Er wurde nicht mehr als politische Seite der kapitalistischen Herrschaft gesehen, sondern als neutrale Instanz, der die Auswirkungen der kapitalistischen Krisenpolitik kompensieren könne. Der materielle Hintergrund war die zunehmende Integration der radikalen Kräfte in eine systemtragende Politik - nicht zuletzt über den Weg der Grünen in die Parlamente.
Zweitens wurde mit diesem Konzept der Klassenkonflikt, der sich zentral um die Abpressung von Arbeit dreht, unterschlagen. »Der Abschied vom Proletariat« war damals Zeitgeist, und die Theorie der Massenarmut behauptete, daß der Konflikt entlang des Arbeitszwangs absehbar bedeutungslos werde. Stehen sich aber im Konzept der Massenarmut nicht mehr spezifische Klassen gegenüber, dann wird nur noch die Beziehung zwischen Individuum (Bürger) und Staat gesehen. Das Existenzgeld war - aufgrund der fehlenden Klassenbestimmung - schon immer ein »Bürgergeld«, denn als einzelner gegenüber dem Staat ist das Individuum eben nur Bürger - der eine ärmer, der andere reicher, aber daraus ergibt sich keine kollektive Bestimmung. Insofern ist es auch nur ein Taschenspielertrick, wenn Horst Kahrs meint, schon die Begriffe »Bürgergeld« und »Existenzgeld« würden auf einen wesentlichen Unterschied hinweisen. Von der gesellschaftspolitischen, klassenlosen Konstruktion her ist das Existenzgeld gerade ein Bürgergeld.
Schon damals war natürlich nicht unbekannt, daß Neoliberale wie Milton Friedman oder Margaret Thatcher an ähnlichen Konzepten bastelten. Der eigene Vorschlag eines Existenzgeldes wurde aber vor dem Hintergrund einer sich rapide verbreitenden arbeitslosen Massenarmut (im Unterschied zu dem sich tatsächlich ausweitenden Phänomen der »working poor«, also der Armut innerhalb der Lohnarbeit) gesehen. Daher erschien die Nähe zu den neoliberalen Konzepten unbedenklich, die ja gerade auf eine verstärkte Integration in die Arbeit abzielten. Zudem war der Vorschlag von der politischen Elite - abgesehen von einigen Außenseitern - noch nicht ins Spiel gebracht worden. Durch diese Betrachtungsweise wurde in der Erwerbslosenbewegung jahrelang übersehen, welcher funktionale Zusammenhang zwischen der vom Kapital gewollten Prekarisierung der Arbeitsmärkte und einer Mindestsicherung besteht. Diese funktioniert dann nämlich als staatliche Subventionierung von Billiglohnarbeit und Arbeit ohne andere Absicherungen (befristete Jobs, Scheinselbständigkeit, Teilzeitarbeit usw.). Das Konzept Existenzgeld wurde auch quantitativ von Anfang an so bescheiden formuliert (1500 Mark), daß eine wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zusätzliche Arbeit erfordern würde.
Das Mißverständnis über den Sozialstaat
Der Orientierung auf einen anderen Sozialstaat lag ein weiteres historisches Mißverständnis zugrunde. Ausgehend von der eigenen Lebenspraxis, Sozialgelder für ein Leben mit weniger oder ohne Arbeit nutzbar zu machen, wurde übersehen, daß der Sozialstaat historisch entstanden ist, um den Zwang zur Arbeit abzusichern. Die wesentlichen Leistungen wie Rente oder Arbeitslosenversicherung sind daran gebunden, daß wir uns dauerhaft in die Arbeitsgesellschaft integrieren lassen. Nicht umsonst wurde die Rente in der sozialpolitischen Diskussion als »Durchhalteprämie« gekennzeichnet. Jede einzelne Leistung wird für die Zeit der Nicht-Arbeit gezahlt, weshalb der Schein entsteht, der Sozialstaat könne in diese Richtung der Existenzsicherung bei Nichtarbeit hin »weiterentwickelt« werden. Aber das sozialstaatliche System bildet gerade den umfassenden Zwang zur Arbeit, weswegen es hier für uns auch nichts weiterzuentwickeln gibt!
Die neoliberalen Varianten eines Existenzgeldes treten heute auf den Plan, weil die bisherige Form der Sozialversicherung die dauerhafte Einbindung in die Arbeit nicht mehr sicherstellt. Der Sozialstaat ist nicht irgendwie zu teuer geworden, sondern die ausgegebenen Gelder machen sich nicht mehr hinreichend als Produktivität und Arbeitsmotivation bezahlt. Und auf der andern Seite können mit ihr die zunehmende Arbeit von Frauen in prekären Jobs oder das wechselhafte, aber sehr wohl hochproduktive Arbeitsleben jüngerer Leute nicht mehr sozial gesichert werden. Die Modelle einer Grundsicherung sollen die Kombination von Sozialleistung und Arbeit ermöglichen und damit mehr Anreize zur Arbeitsaufnahme schaffen.
Auf der anderen Seite ist in der Erwerbslosenbewegung die Kritik an der Arbeit gründlich in Vergessenheit geraten. »Vollbeschäftigung« erscheint als ein ideales, nur leider nicht erreichbares Ziel. Insofern hat es die jahrelange Arbeitslosigkeit geschafft, die linke Diskussion zu verändern - von der Kritik der Arbeitsgesellschaft zum (Horror)Traum der Vollbeschäftigung. Zwar wird von Teilen der Bewegung die Forderung nach dem Existenzgeld noch mit einem »Recht auf Faulheit« verbunden, aber dafür fehlt der Adressat und das Subjekt. Das Leiden an der Arbeit ist vor allem dort verbreitet, wo sich die Menschen dem Zwang zur Arbeit nicht entziehen können. Dort müßte also auch ein Kampf ansetzen, der dieses Leiden wieder aus dem Schatten holt und in den Mittelpunkt einer politischen Initiative stellt.
F.
Siehe auch in diesem Zirkular: Vollzeit-Surfer. Wie die Nichtarbeit die Produktivität erhöht.