Wildcat-Zirkular Nr. 18 - August 1995 - S. 15-33 [z18nied3.htm]


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Zusammenbruch:

Die Theorie des Niedergangs oder der Niedergang der Theorie?

Dritter Teil

aus: Aufheben Nr. 4, Sommer 1995

Englischer Originaltext: Decadence: The Theory of Decline or the Decline of Theory? Part Three

 

Einleitung: das bisher Gesagte

Unsere geduldigeren und eifrigeren LeserInnen werden es wissen, Thema dieses Artikels sind die Theorien über den Niedergang oder den Zusammenbruch des Kapitalismus. In den beiden ersten Teilen haben wir die Spuren der Entwicklung dieser Theorien über den Niedergang des Kapitalismus genauer verfolgt, die in den letzten hundert Jahren aus dem Marxismus und anderen revolutionären Strömungen hervorgegangen sind. In diesem letzten Teil bringen wir eine kritische Besprechung der jüngsten dieser Zusammenbruchsstheorien, und zwar jene, die von den Radical Chains vertreten wird. Aber bevor wir deren neue Theorie über den Niedergang des Kapitalismus betrachten, werden wir für unsere weniger geduldigen und eifrigen LeserInnen die ersten beide Teile kurz referieren.

Im ersten Teil haben wir gesehen, wie und warum diese Zusammenbruchstheorien die Konzeptionen über die Krise des Kapitalismus und deren Verhältnis zum Übergang zum Sozialismus oder Kommunismus, in den revolutionären Analysen des Kapitalismus im 20.Jahrhundert eine entscheidende Rolle inne hatten. Wir haben gesehen, die Vorstellung eines Kapitalismus', der sich in verschiedener Hinsicht im Niedergang befindet, entstammt dem klassischen Marxismus, wie er von Engels und der 2.Internationalen entwickelt worden ist.

Zu Zeiten der revolutionären Bewegung, die den 1.Weltkrieg beendete, identifizierten die radikaleren Marxisten die Theorie vom Niedergang des Kapitalismus als die objektive Basis für eine revolutionäre Politik. Als Orientierung beriefen sie sich auf die Auffassung von Marx daß, »ab einem gewissen Stand der Entwicklung, die Produktivkräfte einer Gesellschaft mit den Produktionsverhältnissen in Konflikt kommen. Von Formen der Entwicklung der Produktivkräfte, werden sie zu ihren Fesseln... Dann beginnt die Zeit der sozialen Revolution«. [1]

Sie argumentierten, daß der Kapitalismus in diese Phase eingetreten sei und sich dies in seiner permanenten Krise und der objektiv klaren Bewegung hin zu Zusammenbruch und Kollaps ausdrücken würde. Im Kielwasser der Niederlage der revolutionären Bewegung, die dem 1.Weltkrieg folgte, wurde für diese Traditionen die Annahme eines sich im Niedergang befindlichen Kapitalismus zum Glaubensgrundsatz. Diese Traditionalisten reklamierten für sich den Anspruch, den »richtigen Marxismus« gegen dessen Verräter - zunächst die reformistische Sozialdemokratie, dann die Stalinisten - zu verteidigen.

Für die Linkskommunisten war die Vorstellung entscheidend, daß der Kapitalismus 1914 mit dem Ausbruch des Krieges in der Phase des Niedergangs angelangt war, da es Ihnen dadurch möglich wurde, eine kompromißlose revolutionäre Position zu behaupten und zugleich für sich in Anspruch zu nehmen, die Weiterentwicklung der wirklichen orthodoxen marxistischen Tradition zu repräsentieren. [2] Die reformistischen Aspekte der Politik von Marx, Engels und der 2. Internationalen, die zu einer Unterstützung der Gewerkschaften und der Beteiligung am Parlamentarismus geführt hatten, ließen sich für die Linkskommunisten auf Grund dessen rechtfertigen, daß sich der Kapitalismus zu dieser Zeit in seiner aufsteigenden Phase befand. Nun aber folgte dem Ausbruch des 1.Weltkrieges der Niedergang des Kapitalismus, er wäre nun nicht mehr in der Lage gewesen, der Arbeiterklasse dauerhafte Reformen zuzugestehen. Somit gab es für die Linkskommunisten in der Phase des kapitalistischen Niedergangs nur die Option »Krieg oder Revolution!«.

Für die Trotzkisten und andere Sozialisten war der Zuwachs an staatlichen Eingriffen und Planung, das Anwachsen der Monopole, die Nationalisierung der Großindustrie und das Auftauchen des Sozialstaates ein klarer Hinweis auf den Niedergang des Kapitalismus und die Notwendigkeit des Sozialismus. In der Konsequenz bestand für die Trotzkisten die Aufgabe, »Übergangsforderungen« vorwärts zu treiben, also offensichtlich reformistische Forderungen, die gerechtfertigt erscheinen, wenn davon ausgegangen wird, daß die vorherrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse im Widerspruch zu den Produktivkräften stehen.

Trotz anderer, fundamentaler Differenzen, die Linkskommunisten und Trotzkisten trennten [3] und die sie öfters in eine erbitterte Opposition zueinander brachten, drückte sich für beide Richtungen die konkrete Realität der kapitalistischen Entwicklung in einer objektiven Logik hin zum Kollaps des Kapitalismus und hin zur sozialistischen Revolution aus. Die zugrunde liegende objektive Realität des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verringerte das Problem dieser Revolution auf die Organisierung einer Avantgarde oder Partei, die jene Krise nutzt, die mit Sicherheit kommen wird.

Aber statt der revolutionären Erhebung, die von den meisten Theoretikern des Niedergangs vorausgesagt worden war, folgte dem zweiten Weltkrieg der längste Boom der kapitalistischen Geschichte. Während die Produktivkräfte anscheinend schneller als jemals zuvor anwuchsen, schien sich die Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern mit dem gestiegenen Lebensstandard und den sozialstaatlichen Leistungen der sozialdemokratischen Abmachungen der Nachkriegszeit zufrieden zu geben. Das Bild einer unausweichlichen Krise, die Reaktionen der Arbeiterklasse mit sich bringt, erschien nunmehr belanglos.

Als schließlich der Klassenkampf wieder in größerem Umfang zurückkehrte, da nahm er Formen an, die nicht in das Schema der »alten Arbeiterbewegung« paßten: wildcat Streiks (die oft an anderen Fragen als dem Lohn ansetzten), Arbeitsverweigerung, Kämpfe in und außerhalb der Fabrik. Viele dieser Kämpfe schienen nicht durch einen Reflex auf die, durch den kapitalistischen Niedergang bedingten, ökonomischen Härten bestimmt zu sein, sondern durch einen Kampf gegen alle Formen der Entfremdung, die durch das fortschreitende Wachstum des Kapitalismus verursacht werden. Außerdem durch eine radikalere Vorstellung von dem, was jenseits des Kapitalismus sein wird, als dies die Sozialisten anboten.

In diesem Zusammenhang entstanden die neuen Strömungen, die wir im 2.Teil betrachtet haben. Strömungen wie Socialism ou Barbarie, die Situationisten und die Arbeiterautonomie verband ihre Ablehnung des »Objektivismus« der alten Arbeiterbewegung. Anstatt ihr Vertrauen in einen objektiven Niedergang der Ökonomie zu setzen, betonten sie den anderen Pol: das Subjekt. Diese Strömungen, nicht die alten Theoretiker des Niedergangs, erfassten am besten, was in den Vorgängen des Mai '68, des heißen Herbstes 1969 in Italien und den breiten Protesten, die sich über die kapitalistische Gesellschaft ausbreiteten, geschehen war. Diese Ereignisse waren eine revolutionäre Welle, die den Kapitalismus überall auf der Welt in Frage stellte, auch wenn es diesmal diffuser zuging als in der Periode von 1917-23.

Der Nachkriegsboom zerbrach in der 1970er Jahren. Die kapitalistische Krise kam mit Macht zurück. War es zunächst gerade der Vorzug der neuen Strömungen gewesen, sich von den angeblichen Mechanismen der kapitalistischen Krise abgewandt zu haben, so wurde dies allmählich zur Schwäche. Ein Kapitalismus, der sich objektiv im Niedergang befindet, diese Vorstellung fand wieder Zustimmung, es kam zu einer Erneuerung der alten Krisentheorie. Gleichzeitig kam es angesichts der Krise und der steigenden Arbeitslosigkeit zu einem Rückzug der Hoffnungen und Tendenzen, die diese neuen Strömungen ausgedrückt hatten. [4] Mit dem Fortschreiten der Krise geriet unter den Angriffen des Monetarismus und der breiten Wiederdurchsetzung der Arbeit eben jene Verweigerung der Arbeit, auf die sich die neuen Strömungen bezogen hatten und die von den alten Linken nicht verstanden werden konnte, ins Wanken.

Aber die verschiedenen Wiederbelebungsversuche der Theorien über die kapitalistische Krise und den Niedergang waren alle ungenügend. Die Sekten der alten Linken hatten die Bedeutung vieler der abgelaufenen Kämpfe nicht gesehen, nun waren sie sich sicher, daß die Mechanismen des kapitalistischen Niedergangs ihre Arbeit verrichtet hatten. Jetzt wäre das Kapital dazu gezwungen, den Lebensstandard der Arbeiterklasse anzugreifen und der richtige Klassenkampf würde einsetzen. »Wir verstehen die Krise, schart euch um unsere Fahne«, so konnten diese Gruppen nun auftreten. Sie glaubten, die Arbeiterklasse würde sich angesichts des Kollaps der Grundlagen des Reformismus nun ihnen zuwenden. Es gab viele Debatten über die Natur der Krise; widersprüchliche Versionen wurden angeboten, aber der erwartete Wechsel der Arbeiterklasse hin zum Sozialismus und zur Revolution blieb aus.

Dies ist die Situation, in der wir uns befinden. Die Fortschritte der neuen Strömungen, deren Konzentration auf die Selbsttätigkeit des Proletariats, auf die Radikalität des Kommunismus sind für uns wichtige Bezugspunkte, aber nichtsdestotrotz müssen wir begreifen, wie sich die objektive Situation verändert hat. Die Umstrukturierungen, die die Krise begleitet haben, der folgende Rückzug der Arbeiterklasse, läßt einige der berauschenden Träume der 68er Bewegung wenig wahrscheinlich erscheinen. Bis zu einem gewissen Grad hat sich Vorstellung, von der die Bewegung ihre Inspiration holte, verdunkelt (Immiseration?).

Wir müssen neu nachdenken, um zu erfassen, in welchem objektiven Zusammenhang sich der Klassenkampf befindet. Bourgeoisie und Staat scheinen nicht dazu in der Lage zu sein, mit den bekannten Zugeständnissen Bewegungen einzukreisen und einzuholen, so nimmt der Klassenkampf oft verzweifeltere Formen an. Angesichts eines gewissen Rückzugs des Subjektes - dem Fehlen offensiver Klassenkämpfe, besteht der Reiz, sich eine Art Krisentheorie zu eigen zu machen. In diesem Zusammenhang sind die Ideen der Zeitung Radical Chains von Bedeutung.

Die Synthese der Radical Chains

Radical Chains haben trotz all ihrer Fehler und Unklarheiten vielleicht mehr als andere existierende Gruppen einen gemeinschaftlichen Versuch unternommen, im Kielwasser des endgültigen Zusammenbruchs des Ostblocks und dem Niedergang des Stalinismus, neu über den Marxismus nachzudenken. Sie taten dies, indem sie versuchten den Objektivismus der trotzkistischen Tradition mit den eher »subjektivistischen«, am Klassenkampf orientierten, Theorien des autonomen Marxismus zusammenzuziehen. Von der Arbeiterautonomie hat Radical Chains die Vorstellung übernommen, daß die Arbeiterklasse kein passives Opfer des Kapitals ist, sondern stattdessen dem Kapital Veränderungen aufzwingt. [5] Von dem Trotzkisten Hillel Ticktin hat Radical Chains die Vorstellung übernommen, daß solche Veränderungen mit dem Wertgesetz und dem auftauchenden »Gesetz der Planung« in Beziehung gesetzt werden müssen.

Indem sie die Vorstellung übernehmen, die gegenwärtige Phase des Kapitalismus wäre eine Übergangsphase, die durch den Konflikt zwischem auftauchendem »Gesetz der Planung« - das mit der Entstehung des Kommunismus identifiziert wird - und einem niedergehenden Wertgesetz bestimmt ist, landen die Radical Chains zwangsläufig bei einer Theorie des kapitalistischen Niedergangs. Auch wenn es eine ist, die nachdrücklich den Klassenkampf hervorhebt. Wie wir noch sehen werden, besteht das zentrale Argument von Radical Chains tatsächlich darin zu sagen, daß die zunehmende Macht der Arbeiterklasse den Kapitalismus gezwungen hat, administrative Formen zu entwickeln, die das Auftreten des »Gesetzes der Planung« - und mithin den Schritt zum Kommunismus - behindern und verzögern. Gerade dadurch wird für die Radical Chains das dem Kapitalismus eigene grundlegende Regulationsprinzip, das Wertgesetz, untergraben. [6]

So sehen Radical Chains im Stalinismus und der Sozialdemokratie die hauptsächlichen Formen einer »teilweisen Aufhebung des Wertgesetzes«, die dazu dienten, den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus zu verzögern.

Aber bevor wir die Theorie der Radical Chains über eine »teilweise Aufhebung des Wertgesetzes« genauer betrachten, ist es nötig, kurz auf deren Ursprung in den Arbeiten von Hillel Ticktin zu schauen, die den wichtigsten Einfluß auf die Ausbildung dieser Theorie gehabt haben.

Ticktin und die fatale Anziehungskraft des Fundamentalismus

Hillel Ticktin ist der Herausgeber und Cheftheoretiker der nicht parteigebundenen trotzkistischen Zeitung Critique. Ticktin und die Critique sind wohl für die Radical Chains deswegen so anziehend, weil die Analysen nicht an die partikulären Bedürfnisse einer trotzkistischen Sekte gebunden sind. Stattdessen begeben sie sich auf die höchst ehrenwerte Stufe, einen Versuch zu starten, den klassischen Marxismus wieder einzubringen.

Ticktin gibt der These der 2.Internationalen, die den Sozialismus als die bewußte Planung der Gesellschaft gegen die Anarchie des kapitalistischen Marktes gesetzt hatte, einen wissenschaftlichen Anstrich, indem er diesen Widerspruch mit demjenigen zwischen dem »Gesetz der Planung« und dem Wertgesetz gleichsetzt. Ticktin versucht dann »wissenschaftlich« zu erklären, daß die Bewegungsgesetze der gegenwärtigen Phase des kapitalistischen Niedergangs als Niedergang des dem Kapitalismus eigenen Regulationsprinzip (dem Wertgesetz) und dem beginnenden Aufstieg des »Gesetzes der Planung«, zu fassen ist, was seiner Meinung nach das notwendige Auftreten des Sozialismus ankündigt.

Ebenso wie die klassischen Marxisten betrachtet Ticktin den Niedergang des Kapitalismus in den Begriffen einer Entwicklung der Monopole, der steigenden Staatsinterventionen in die Ökonomie und dem daraus folgenden Niedergang des freien Marktes und des Laissez Faire Kapitalismus. Wenn die Produktion auf einer immer größer werdenden Stufenleiter vergesellschaftet wird, dann kann die Verteilung gesellschaftlicher Arbeit nicht mehr bloß durch die blinden Kräfte des Marktes betrieben werden. Aber die volle Entwicklung einer bewußten Planung widerspricht der privaten Aneignung, die den kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen anhaftet. Die Planung beschränkt sich auf einzelne Nationalstaaten und Kapitale, somit führt sie zu einer Intensivierung des Wettbewerbs zwischen diesen Kapitalen und Staaten. So enden die Vorteile der rationalen Planung in einer gesellschaftlich irrationalen Explosion aus Kriegen und Konflikten. Nur der auf Weltebene stattfindende Triumph des Sozialismus, der Produktion und Verteilung der Arbeit bewußt im Interesse der gesamten Gesellschaft plant, kann den Widerspruch zwischen den materiellen Produktivkräften und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen in Einklang bringen. Das »Gesetz der Planung« zeigt sich als die grundlegende Form gesellschaftlicher Verhältnisse.

Aber anders als die führenden Theoretiker des klassischen Marxismus, räumt Ticktin der zunehmenden Autonomie des Finanzkaitals eine bedeutende Rolle als ein Symptom des kapitalistischen Niedergangs ein. Der klassische Marxismus war der Argumentation in Hilferding's fruchtbarem »Finanzkapital« gefolgt, indem die Integration des Bankenkapitals in das monopolisierte Industriekapital als das Kennzeichen der letzten Stufe des Kapitalismus ausgemacht wurde, die nun den Aufschwung der rationalen Planung und den Niedergang der Anarchie des Marktes ankündigt. Im Gegensatz dazu, kennzeichnet sich für Ticktin der späte Kapitalismus durch die zunehmende Autonomie des Finanzkapitals. Den Kapitalismus des 20.Jahrhunderts betrachtet Ticktin als Widerspruch zwischen den Formen der Vergesellschaftung, die nicht eingedämmt werden können, und der dekadenten parasitären Form des Finanzkapitals. Diesem Finanzkapital wird ein parasitäres Verhältnis zu den produktiven gesellschaftlichen Kräften zugeordnet. Es sorgt dafür, daß die Vergesellschaftung nicht außer Kontrolle gerät und erzwingt so die Herrschaft der abstrakten Arbeit. Aber dieses Finanzkapital ist letztlich abhängig von seinem Wirt - der Produktion und ihrem unvermeidlichen Drang zur Vergesellschaftung.

Ticktin integriert den Aufstieg des globalen Finanzkapitals in den letzten 25 Jahren in die klassische marxistische Zusammenbruchstheorie, indem er die zunehmende Autonomie des Finanzkapitals als Symptom des kapitalistischen Niedergangs interpretiert. Insofern liefert Ticktin einen bedeutenden Beitrag für die Entwicklung der klassischen Zusammenbruchstheorie.

Aber es könnte eingewandt werden, daß die zunehmende Autonomie des Finanzkapitals einfach nur der Hebel ist, mit dem das Kapital seine Um- und Neustrukturierungen vorantreibt. Der Aufstieg des Finanzkapitals in den letzten 25 Jahren ist aus dieser Sicht der wichtigste Hebel gewesen, mit dem das Kapital versucht hat, die Arbeiterklasse in den alten industrialisierten Ökonomien, wo sie sich eingegraben hatte, unter Druck zu setzen: die Produktion wurde in neue geographische Gebiete ausgelagert, neue Industrien anstelle der Alten gesetzt.

Die zunehmende Autonomie des Finanzkapitals mag so tatsächlich in einigen Gebieten den Niedergang der kapitalistischen Akkumulation ankündigen, aber nur bis zu dem Grad, wie dadurch ebenso die Beschleunigung der kapitalistischen Akkumulation in anderen Gebieten eingeläutet wird. Die zunehmende Autonomie des Finanzkapitals als Symptom des kapitalistischen Niedergangs zu begreifen, erscheint aus dieser Perspektive als eine reichlich anglo-zentristische Vorstellung. Ticktin's Vorstellung eines parasitären und dekadenten Charakters des Finanzkapitals nimmt so betrachtet die Perspektive der Anwälte der britischen Industrie ein, die schon seit langem in der Kurzsichtigkeit der Londoner Börse die Ursache für den relativen Niedergang der Industrie in GB sieht. [7] Solche Argumente mögen nicht ganz falsch sein, aber durch deren Übernahme muß sich Ticktin den Vorwurf gefallen lassen, daß er die spezifischen Ursachen des relativen Niedergangs in GB auf den gesamten Kapitalismus projeziert. In den alten industrialisierten Ökonomien mag das freie und unbeschwerte Finanzkapital Krisen verursachen, aber zu selben Zeit kann es der Hebel sein, mit dem neue Sphären kapitalistischer Akkumulation geschaffen werden.

Ticktin's Anglozentrismus findet sich in der Theorie der Radical Chaines wieder. Aber dies wäre nur der Anfang einer Kritik gegenüber dem Versuch der Radical Chains, die Analyse von Ticktin zu übernehmen. Ticktin ist ein unverbesserlicher Trotzkist. Deshalb verteidigt er Trotzki's Beharren auf einem Fortschreiten der Produktivkräfte gegen die Arbeiterklasse, was zu einer Militarisierung der Arbeit, zu der Zerschlagung der aufständischen Arbeiter und Matrosen in Kronstadt und seiner loyalen Opposition gegenüber Stalin geführt hatte. Aber die Radical Chains stellen sich energisch gegen Ticktin's trotzkistische Politik. Sie beharren auf dem Versuch, Ticktin's guten Marxismus von seiner Politik zu trennen.

Wir sind der Meinung, diese Trennung können sie nicht durchhalten: indem sie Ticktin's Niedergangstheorie zu ihrem Ausgangspunkt machen, übernehmen sie unausgesprochen dessen Politik. Aber bevor wir dieses Argument weiter ausführen, werden wir uns zunächst die Theorie des Niedergangs der Radical Chains ein wenig genauer betrachten.

Radical Chains

Die Welt, in der wir leben, wird durch einen Widerspruch zwischen dem verborgenen Gesetz der Planung und dem Wertgesetz durchzogen. Dieser Zustand korrespondiert innerhalb einer im gesamten betrachteten Übergangsperiode mit den Bedürfnissen des Proletariats und denjenigen des Kapitals, die als Pole der Klassenbeziehungen bestehen bleiben. [8]

Dieser Ausschnitt aus einer Erklärung der Radical Chains faßt kurz und bündig ihre Akzeptanz und ihre Transformation von Ticktin's Problematik des kapitalistischen Niedergangs zusammen. Ebenso wie die Theorie von Ticktin basiert die Theorie der Radical Chains auf der Vorstellung eines Konfliktes zweier unterschiedlicher Organisationsprinzipien. Für das Proletariat ist es nicht ausreichend, nur »Agent der Kämpfe« zu sein; es muß »der Träger eines neuen organisatorischen Prinzips sein, welches das Kapital angesichts seines unausweichlichen Antagonismus hinsichtlich des Wertes zu einem gesellschaftlich explosiven und schließlich untergehenden System macht.« [9]

Aber die Radical Chains sind nicht Ticktin. Sie akzeptieren die Vorstellung, daß das dem Wertgesetz eigene Wirken, verzerrten Wirkungsformen dieses Gesetzes den Weg bereitet hat. Die Radical Chains vollziehen den bedeutenden Schritt hin zu einer Vorstellung, das Wertgesetz nicht nur in Begriffen unterschiedlicher Kapitalfraktionen zu begreifen, sondern es in Begriffen des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zu analysieren. Der entscheidende Punkt des Wertgesetzes sind nicht die Produkte, sondern die Arbeiterklasse. [10] So sind es für Ticktin Phänomene wie Regierungseingriffe in die Ökonomie und von den Monopolen festgesetzte Preise, die die Wirkung des Wertgesetzes untergraben, für die Radical Chains ist es die Anerkennung und Verwaltung von Bedürfnissen außerhalb des Lohnes, wie Sozialhilfe, das öffentliche Gesundheitswesen und Wohnungsämter... . [11] Dies ist ein durchaus entscheidender Unterschied, da es den Radical Chains nunmehr möglich ist, den Klassenkampf einzubringen.

Die Wechselwirkung zwischen Staat und Wertgesetz ist für die Theorie der Radical Chains zentral. Durch diese Wechselwirkung werden Systeme geschaffen, welche die Bedürfnisse regulieren, um die Kontrolle der Arbeiterklasse aufrecht zu erhalten. Die orthodoxe Theorie des Niedergangs arbeitete mit einem Schema, daß die freien Märkte des laissez faire als die Blütezeit und den Kapitalismus der Monopole als Epoche des Niedergangs begriff. Die Radical Chains arbeiten mit einem ähnlichen Schema, daß auf der Anwendung des Wertgesetzes auf die Arbeitskraft basiert. Der Kapitalismus hatte seine Blütezeit erreicht, als die Arbeiterklasse gänzlich dem Wertgesetz unterstand; der Niedergang des Kapitalismus beginnt mit der Periode, in der diese volle Subordination durch administrative Maßnahmen teilweise durchsetzt wird.

Die volle Wirkung des Wertgesetzes

Die Reform des Armengesetzes von 1834 stellt für die Radical Chaines den »programmatischen Höhepunkt« des Kapitalismus dar, da hierdurch die Etablierung der Arbeitskraft zur Ware gekennzeichnet werden kann. In den vorangehenden Armengesetzen waren die existentiellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse durch eine Kombination aus den Löhnen der Arbeitgeber und einer Reihe diverser Unterstützungen der Gemeinden reguliert worden. Das neue Armenrecht verallgemeinerte den Lohn, indem diese Formen der lokalen Wohlfahrt abgeschafft wurden. An ihre Stelle trat die Wahl zwischen einem Auskommen durch Lohnarbeit oder aber das Arbeitshaus. Das Arbeitshaus wurde so unerfreulich wie nur möglich gemacht, um es zu einer unmöglichen Alternative zur Lohnarbeit zu machen. Somit befand sich die Arbeiterklasse in einem Zustand absoluter Armut. Ihre Bedürfnisse waren gänzlich dem Geld untergeordnet, dem Zwang zum Austausch ihrer Arbeitskraft gegen den Lohn. Ihre Existenz war somit völlig abhängig von der Akkumulation. Dieser Zustand war nach den Radical Chains die einzig wahre Existenzform der Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus.

Nur wenn die subjektive Existenz des arbeitenden Proletariats mit diesem Zustand der absoluten Armut korrespondiert, befindet sich das Kapital in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Objektivität des Wertgesetzes. Wenn es innerhalb dieses Verhältnisses zu Veränderungen kommt, dann kommt es zum Niedergang des Kapitals.

Die »teilweise Aufhebung des Wertgesetzes«

Die volle Subordination der Existenz der Arbeiterklasse unter das Geld veranlaßte die Arbeiterklasse dazu, ihre Interessen denen des Kapitals als grundsätzlich entgegengesetzt zu betrachten. Daraus resultierte die Entwicklung einer Kollektivität, die mit der Drohung der Vernichtung des Kapitals verbunden war. Diese Drohung basierte auf der Tatsache, daß die Arbeiterklasse trotz ihrer Vereinzelung durch das Wertgesetz, auf der Ebene des Tausches der Arbeitskraft gegen Lohn, durch ihre Stellung in der Produktion vereinheitlicht wird. Das Wertgesetz versucht die Durchsetzung der abstrakten Arbeit, aber die Arbeiterklasse kann auf ihrer Macht als besondere konkrete Arbeit setzen. Die Vorstellung einer proletarischen Konstituierung, ausgedrückt durch das Gesetz der Planung, ist für die Radical Chains gebunden an die Existenz der Arbeiterklasse als eine gesellschaftliche Produktivkraft. Die Arbeiterklasse hat als Antwort auf das volle Funktionieren des Wertgesetzes seine eigene Alternative entwickelt, die Entwicklung einer Gesellschaft, die durch die Planung der Bedürfnisse organisiert ist.

Die Bourgeoisie erkannte das Unvermeidliche an und intervenierte mit »administrativen Stellvertretern für diese Planung«. Ein Aspekt der »teilweisen Aufhebung des Wertgesetzes« ist die Anerkennung repräsentativer Formen der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie. Verantwortliche Gewerkschaften und Parteien der Arbeiterklasse werden gefördert. Zur selben Zeit kam es zu einer Aufweichung der Härten des Armengesetzes. Radical Chains verfolgt die Spuren der dem 2.Weltkrieg schließlich folgenden sozialdemokratischen Regelungen, und sie werden bei weit zurückliegenden Prozessen fündig, die durch weitsichtige Mitglieder der Bourgeoisie ausgelöst worden waren. Bereits Ende des 19.Jahrhunderts begann die Ergänzung des Armengesetzes durch eine noch planlose Armenunterstützung. Die liberale Regierung der Jahre 1906 bis 1912 systematisierte diesen Schritt hin zur verwalteten Wohlfahrt.

Diese Reformen spitzten sich zu einer fundamentalen Modifizierung des Wertgesetzes zu: die Lockerung der Bedingungen einer absoluten Armut. Das Einkommen wurde aufgeteilt, ein Teil blieb an die Arbeit gebunden, während der andere Teil durch den Staat verwaltet wurde. Dies war ein Schritt, den Radical Chains die »formale Anerkennung der Bedürfnisse« nennen: Bedürfnisse der Arbeiterklasse werden durch Verwaltungsmaßnahmen geregelt. Bürokratische Prozeduren, Formulare, Überprüfungen und ähnliches mehr dringen in das Leben der Arbeiterklasse ein.

Das Kapital hat nun zwei Gesichter, das Wertgesetz und den Staat. Diese teilweise Aufhebung des Wertgesetzes zeigt sich in den nationalen Deals mit der Arbeiterklasse. Das globale Proletariat ist in nationale Gruppen gespalten, die über einen unterschiedlichen Schutz vor dem Wertgesetz verfügen. Dies stoppt die globale Vereinigung der Arbeiterklasse zur revolutionären Klasse, aber es beeinträchtigt auch die Wirksamkeit des Wertgesetzes, das global agieren muß.

Die Krise der teilweisen Aufhebung des Wertgesetzes

Innerhalb der Formen der teilweisen Aufhebung des Wertgesetzes kommt es zu Kämpfen der Arbeiterklasse. Sie macht sich Vollbeschäftigung und Sozialstaat zu nutze, um beide Formen des aufgeteilten Einkommens zu erhöhen. Regierungen erweisen sich als der wesentlich uneffektivere Weg die Arbeiterklasse in Schach zu halten, als das reine Funktionieren des Marktes. Die Kampfformen, denen sich die neuen Strömungen verbunden fühlen, werden von den Radical Chains als Beweis interpretiert, daß die Arbeiterklasse ihre Umklammerung aufbricht. Die letzten 20 Jahre stellen für Radical Chains die Krise derjenigen Formen zur Verhinderung des Kommunismus dar, mit denen das Kapital reagiert hatte, indem es versuchte, die Einkommen wieder zusammenzubringen und dem Wertgesetz wieder volle Geltung zu verschaffen. Radical Chains gibt sich keine Mühe, die verschiedenen Kämpfe zu betrachten; ihnen geht es nur darum, sie in einer grandiosen theoretischen Perspektive zu verorten!

Die Anziehungskraft der Radical Chains besteht in dem Versuch, die konkreten Entwicklungen des 20.Jahrhunderts durch eine Kombination aus subjektiven und objektiven Elementen zu erklären. Revolutionäre Theorien neigen zu der Tendenz, den subjektiven Aspekt, also die Kämpfe der Arbeiterklasse, nur in revolutionären Perioden entdecken zu können, weswegen zu anderen Zeiten keine Spur mehr von ihnen übrig bleibt. Das Subjekt begreifen die Radical Chains in einer Umklammerung durch die Formen zur Verhinderung des Kommunismus, also Stalinismus und Sozialdemokratie. Aber diese Umklammerung wird ständig bekämpft und schließlich aufgebrochen. Diese Analyse scheint revolutionäre Schärfe zu besitzen, kritisieren doch die Radical Chains mit dieser Theorie die linke Tendenz, zu Komplizen dieser Formen zur Verhinderung des Kommunismus zu werden. Aber wir stoßen hier auf Zweideutigkeiten: die Annahmen der Radical Chains hängen an der Vorstellung eines zugrundeliegenden Prozesses - die Planung, also die Überwindung des Wesens des Kapitalismus bevor der Kommunismus sich entfaltet. Wir werden es noch sehen, dies ist genau der Rahmen, der zur linken Komplizenschaft mit dem Kapital führt.

Aber bevor wir zu den fundamentalen gedanklichen Problemen kommen, die Radical Chains von Ticktin geerbt haben, sollten wir einige Probleme in ihren historischen Ausführungen über Aufstieg und Fall des Kapitalismus betrachten.

Nicht länger als ein Augenzwinkern

Die Radical Chaines haben recht, wenn sie das neue Armengesetz als Ausdruck dessen begreifen, daß die Bourgeoisie von einer Arbeiterklasse träumt, die gänzlich dem Kapital untergeordnet ist. Für sie beginnt diese Phase einer totalen Dominanz 1834 und endet mit dem Einsetzen der teilweisen Aufhebung des Wertgesetzes mit der Bewegung um die ersten planlosen Formen der Armenunterstützung in 1880er Jahren. Die Blütezeit des Kapitalismus dauerte ungefähr 50 Jahre.

Aber es gibt einen Unterschied zwischen Absichten und der Realität. Das neue Armengesetz war 1834 eingeführt worden, aber Arbeiterklasse und Gemeinden widersetzten sich, das neue Armengesetz wurde erst um 1870 durchgesetzt. Das neue Armengesetz wurde also praktisch in dem Moment untergraben, als es eingesetzt worden war. [12] Damit scheint es so, als ob sich die Hochphase des Kapitalismus auf wenig mehr als ein oder zwei Jahrzehnte reduzieren würde. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß der Feudalismus mehrere Jahrhunderte überdauerte, so wäre historisch gesehen die Blütezeit des Kapitalismus nach einem Augenzwinkern vorbei.

Gegen diese Vorstellung eines Kapitalismus, der nur in der letzten Phase des 19.Jahrhunderts richtig blühte und sich seitdem im Niedergang befindet, läßt sich natürlich sagen, daß die Welt im Laufe des 20.Jahrhunderts kapitalistischer als jemals zuvor geworden ist. Diese Sicht erscheint noch begründeter, sobald wir die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur in den Begriffen des Niedergangs des Wertgesetzes begreifen, sondern von den Begriffen des Übergangs von einer formellen zu einer reellen Subsumption der Arbeit unter das Kapital und des gleichzeitigen Übergangs von der Vorherrschaft der Produktion des absoluten Mehrwertes hin zur Produktion des relativen Mehrwertes ausgehen. [13]

Formale und reale Herrschaft

In der von der Produktion des absoluten Mehrwerts bestimmten Periode war das Leitmotiv der Kontrolle der Arbeitskraft einfach die Schaffung von genügend Härten, um die Arbeiterklasse durch die Tore der Fabriken zu zwingen. [14] Sobald aber die relative Mehrwertproduktion dominierte, waren anspruchsvollere Methoden notwendig. Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit mußte neu strukturiert werden. Die Reduzierung der notwendigen Arbeit erforderte die Massenproduktion von Waren. Eine konstante Nachfrage nach diesen Waren wurde für das Kapital wesentlich. Die Arbeiterklasse wurde im Resultat nicht nur zu einer Quelle der Arbeitskraft, sondern auch zu einer Quelle der Nachfrage. Zur selben Zeit machte die kontinuierliche Revolutionierung der Produktionsmittel eine besser ausgebildete Arbeitskraft und eine kontrolliertere Reservearmee an Arbeitslosen notwendig.

Natürlich haben die Radical Chains recht, wenn sie sagen, daß diese Veränderungen dem Kapital auch durch die Drohung einer proletarischen Selbstorganisierung aufgezwungen werden. Dies aber mit dem Niedergang des Kapitalismus gleichzusetzen ist nicht gerechtfertigt. Es ist nur so, daß nur mit diesen neuen Herrschaftsformen über die Klasse die relative Mehrwertproduktion effektiv durchgesetzt werden kann. Taylorismus und Fordismus sind Phänomene die zeigen, daß der Kapitalismus des 20.Jahrhunderts mit seinem Streben nach relativem Mehrwert noch eine Menge Leben inne hat. Tatsächlich ist der Nachkriegsboom, der ein massives Wachstum des Kapitalismus brachte, das auf Vollbeschäftigung und Bindung des steigenden Lebensstandards der Arbeiterklasse an eine höhere Produktivität basierte, vielleicht die Periode, in der die Bedürfnisse der Arbeiterklasse und die Akkumulation am weitestgehendsten zusammenpaßten.

Von dieser Perspektive aus betrachtet, erscheint das neue Armengesetz eher als eine Übergangsform in der Entwicklung des Kapitalismus. Zum einen befand es sich in Übereinstimmung mit der drakonischen Gesetzgebung, die das Kapital in seiner langen Entstehungsgeschichte benötigte. Zum anderen wurde ein nationales System zur Kontrolle der Arbeit geschaffen. Die Vielfalt an Behörden, die dadurch eingesetzt wurden, sind die direkten Vorläufer der bis heute folgenden Regierungsformen.

Anstatt von einem massiven Bruch müssen wir also eher von sehr vielen Kontinuitäten sprechen, wenn wir die verschiedenen vom Armengesetz von 1834 geschaffenen Institutionen mit den späteren bürokratischen Strukturen vergleichen wollen. Die durch das Armengesetz von 1834 geschaffenen systematischen Formen einer nationalen Regulierung der Arbeit zur Disziplinierung der Arbeiterklasse waren die materielle Basis für neue Beziehungen der Vertretung, der Herrschaft und der Intervention.

Wir können also sagen, daß neue Armengesetz wurde eingesetzt, um die Erfordernisse einer Periode der absoluten Mehrwertproduktion zu erfüllen. Außerdem ersetzten seine Maßnahmen nur in den 1870er Jahren wirklich frühere Unterstützungssysteme, obwohl es bereits 1834 eingeführt worden war. Zu dieser Zeit befand sich der Kapitalismus im Übergang zur relativen Mehrwertproduktion, dies machte neue Arbeitsverhältnisse notwendig. [15]

Die Radical Chains drücken das laissez faire Stadium des Kapitalismus mit seinen eigenen Worten aus, dies ist das grundlegende Problem ihrer historischen Analyse. Seine Worte waren eine individualistische Ideologie, die sofort durch ein Wachstum kollektiver Formen untergraben wurde. Gilt das Wertgesetz, dann ist die Vorstellung eines perfekten Sytems der Bedürfnisbefriedigung ein Mythos. Wertgesetz und Kapital befanden sich immer unter Druck, zunächst durch die ländliche Armut und den noch bestehenden Communities, dann durch den Klassenkampf, der innerhalb des Kapitals entstand. Andere Vermittlungsinstanzen als nur der Lohn werden dem Kapital von der Arbeiterklasse aufgezwungen und der Staat ist das notwendige Mittel der Reaktion. Das Armengesetz stand für eine Strategie der Kontrolle der Arbeiterklasse; der Staat steht für eine andere. Sobald wir das Wertgesetz als etwas unter Druck stehendes begreifen, verliert die Vorstellung seiner teilweisen Aufhebung den Boden unter den Füßen.

Vom Fetischismus der Planung

Wenn wir davon ausgehen, daß Radical Chains das Verhältnis des Kampfes zwischen Kapital und Arbeiterklasse herausstellen wollen, dann erscheint es seltsam, daß sie den Übergang von der formellen zur reelen Subsumption nicht in Betracht ziehen. Aber eine solche Herangehensweise würde nicht nur ihre Verbundenheit zu einer Theorie des Niedergangs untergraben, sondern auch ihrem gedanklichen Rahmen zuwiderlaufen, den sie sich durch den klassischen Marxismus bei Ticktin zugezogen haben. Um dies genauer zu untersuchen, müssen wir noch einmal kurz zu den Ursprüngen der klassischen marxistischen Zusammenbruchstheorie zurück.

Die Vorstellung eines objektiv vorbestimmten Niedergangs des Kapitalismus hat seine Wurzel in der orthodoxen Interpretation des Vorwortes zu den Beiträgen zur Kritik der politischen Ökonomie, in denen Marx ausführt: »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen (...). Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.« [16]

Für die klassischen Marxisten der Jahrhundertwende schien es außer Frage zu stehen, daß die gesellschaftlichen Beziehungen der privaten Aneignung und des Marktes zu Fesseln der sich beständig vergessellschaftenden Produktivkräfte werden. Deswegen der Gedanke, Antriebskraft der Revolution wäre der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit einer sozialistischen Planung der Produktivkräfte und der Anarchie des Marktes und der privaten Aneignung.

Damit geht natürlich die Vorstellung einher, daß der Sozialismus nur dann seine Berechtigung findet, wenn er für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte auf einer rationaleren und geplanteren Basis historisch notwendig wird. Der Sozialismus muß einspringen und den Taktstock der ökonomischen Entwicklung übernehmen, sobald der Kapitalismus sein Potential erschöpft hat, die Produktivkräfte auf der Basis des Wertgesetzes zu entwickeln. Der Sozialismus erscheint aus dieser Perspektive heraus als wenig mehr, als die geplante Entwicklung der Produktivkräfte. [17]

Wenn wir uns den Gang der Geschichte als Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen vorstellen, in dessen Verlauf jede Gesellschaftsform durch die nächste abgelöst wird, die eine weitergehende Entwicklung der Produktivkräfte erlaubt, dann werden wir Geschichte immer wieder nur vom Standpunkt des Kapitals betrachten. Marx hatte diesen Standpunkt deutlich herausgearbeitet, da er versuchen wollte, die Perspektive des Kapitals gegen das Kapital selbst umzudrehen. Marx versuchte zu zeigen, daß der Kapitalismus, ebenso wie vorangegangene Gesellschaften, der Entwicklung der Produktivkräfte immer wieder Grenzen bescheren wird, und gerade deshalb die Möglichkeit einer Abschaffung aufgrund seiner ihm eigenen Widersprüchlichkeiten besteht.

Vom Standpunkt des Kapitals betrachtet, ist Geschichte nichts anderes als die Entwicklung der Produktivkräfte; der Kapitalismus verwirklicht lediglich das vollendete Auftreten der Produktivkräfte als eine entfremdete Kraft, die abgetrennt von menschlichen Bedürfnissen und Wünschen zu sein scheint. Der Kommunismus muß nicht nur die Abschaffung jeglicher Klassen verwirklichen, sondern ebenso die Aufhebung der Produktivkräfte als eine abgetrennte Macht.

Die klassischen Marxisten landen bei der Perspektive des Kapitals, da sie den Sozialismus in erster Linie als eine vernünftiger geplante Entwicklung der Produktivkräfte begreifen und diese der Anarchie des Marktes gegenüberstellen. Eben diese Perspektive machte es den Bolschewiken nach der Machtübernahme in Rußland möglich, die Aufgaben einer Ersatzbourgeoisie zu übernehmen, da sie durch diese Perspektive zu einer Entwicklung der Produktivkräfte verpflichtet waren. Bei Trotzki war diese Sicht der Dinge vielleicht am entwickelsten. Durch seine Unterstützung des Taylorismus, des hierarchischen Managements, der Militarisierung der Arbeit und der Zerschlagung der Rebellion in Kronstadt demonstrierte er konsequent seine Verpflichtungen gegenüber einer Entwicklung der Produktivkräfte, gegen und vor den Bedürfnissen der Arbeiterklasse.

Für Ticktin als langjährigen treuen Trotzkisten ist die Identifizierung des Sozialismus mit der Planung kein Problem. Indem er den klassischen Marxismus erneuert, indem er den Widerspruch zwischen Planung und Anarchie des Marktes weiterentwickelt, bezieht sich Ticktin ziemlich eindeutig auf die Arbeiten von Preobrazhensky, der in den 20er Jahren Seite an Seite mit Trotzki zu den führenden Theoretikern der Links-Opposition gehörte. Die Unterscheidung zwischen einem Gesetz der Planung und dem Wertgesetz als Grundlage des Wettstreits zweier ökonomischer Regulationsprinzipien in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, stammt von Preobrazhensky. Auf der Basis dieser Unterscheidung entwickelte Preobrazhensky die Argumentation der Links-Opposition, die für eine schnelle Entwicklung der Produktivkräfte auf Kosten des Lebensstandards der Arbeiterklasse und Bauern eintrat. Nachdem die Links-Opposition beseitigt worden war, setzte Stalin das alles später praktisch um. [18]

Für die Radical Chains ist es weitaus schwieriger, einfach die Position zu übernehmen, wir befänden uns in der Phase des kapitalistischen Niedergangs und folglich im Übergang zum Sozialismus, der in erster Linie durch den Widerspruch zwischen Wertgesetz und Gesetz der Planung geprägt sei. Ein wichtiger Teil der Arbeit von Radical Chains ist ihr Versuch, traditionelle linke Politikformen und insbesondere den Leninismus zurückzuweisen. So betonen sie in Artikeln wie z.B. »The Hidden political Economy of the Left« resolut die Bedeutung der Selbstaktivität der Arbeiterklasse und attackieren die leninistische Vorstellung einer passiven Arbeiterklasse und die Notwendigkeit einer von außen auferlegten Disziplin. Aber ihr Festhalten am »guten Marxismus« von Ticktin untergräbt diese Anstrengungen.

Die Position der Radical Chains wird daher schlüpfrig und äußerst doppeldeutig, wenn die Frage nach der Planung zugespitzt wird. Sie rechtfertigen die Planung, indem sie diese praktisch mit der Selbstemanzipation identifizieren. Sie erwarten von uns, daß wir die Revolution im Namen der Planung machen, und bestehen noch darauf, daß dies echt klasse ist, denn »die Planung ist die gesellschaftliche Präsenz des in Freiheit vereinigten Proletariats und darüber hinaus die menschliche Daseinsform«. [19] Aber Planung ist Planung. Die freie Vereinigung des Proletariats ist die freie Vereinigung des Proletariats. Weil sie sich weigern, den von Ticktin vorgegebenen Rahmen zu sprengen, landen die Radical Chains trotz all ihrer Anstrengungen bei einer Kritik der linken Vorstellungen über die Planung aus der Sicht von Planern. Unserer Meinung nach sollte solch ein klassischer linker Marxismus untergraben und nicht wiederbelebt werden. Hierfür muß die ihm eigene Struktur in Frage gestellt werden.

Der Markt oder das Wertgesetz sind für uns nicht die Essenz des Kapitals; [20] dieses Wesen ist eher die Selbst-Ausdehnung des Wertes: also die entfremdete Arbeit. Das Kapital ist vor allem eine Organisierung der entfremdeten Arbeit, wobei eine Kombination von Markt- und Planungsaspekten dazugehört. Der Kapitalismus hat immer Märkte gebraucht und er hat immer Planung benötigt. Im 20.Jahrhundert hat sich eine beständige Spannung zwischen dem kapitalistischem Markt und den Tendenzen zur Planung entfaltet. Die Linke hat sich mit einem dieser Pole identifiziert, mit der Planung. Aber unser Projekt ist nicht mit Planung gleichzusetzen. Der Kommunismus ist die Abschaffung aller kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen, sowohl des Marktes als auch des entfremdeten Planes. Irgendeine Form der Organisierung ist selbstverständlich Vorbedingung des Kommunismus: aber dabei geht es nicht um die Planung an sich, nicht um eine abgetrennte und spezielle Aktivität, sondern um die Planung im Dienste des Projektes einer freien Entfaltung unseres Lebens. Der Brennpunkt bestände in der Produktion von uns selber, nicht in der Produktion von Dingen. Nicht Planung der Arbeit und der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern die Planung freier Aktivitäten im Dienste einer freien Entfaltung unseres Lebens.

Kurze Zusammenfassung der Radical Chains

Mit den Radical Chains haben wir den jüngsten und vielleicht intelligentesten Vertreter der klassischen marxistischen Theorie des Niedergangs kennengelernt. Aber unserer Meinung nach ist ihr Versuch gescheitert, diese objektivistische marxistische Theorie mit den enger am Klassenkampf orientierten Theorien der 60er und 70er Jahre zu verbinden, und dies hinterläßt sie in einer politisch ziemlich bloßgestellten Lage. Mit den Radical Chains haben wir unsere Odyssee beendet und wir können zu einer Art Schlußbetrachtung kommen.

Statt einer Schlußfolgerung

Befindet sich der Kapitalismus im Niedergang? Die Auseinandersetzung mit den Begriffen der Theorien über den Niedergang des Kapitalismus hat uns zu einer Auseinandersetzung mit den Begriffen des Marxismus gebracht. Für Marx war es einer der wesentlichen Aspekte der Kritik der politischen Ökonomie zu zeigen, daß die Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft nicht natürlich und ewig sind. Vielmehr zeigte er, warum der Kapitalismus eine Übergangsform der Produktion ist. Der Kapitalismus entfaltet seine eigene Vergänglichkeit. Der Kapitalismus beinhaltet seine eigene Negation und es gibt eine Bewegung hin zu seiner Abschaffung. Aber die Theorie des Niedergangs ist nicht die unsrige. Sie betont den Niedergang als eine Periode innerhalb des Kapitalismus und der Prozeß der Überwindung des Kapitals wird mit Änderungen in den Erscheinungsformen des Kapitals identifiziert statt mit den Kämpfen gegen diese Erscheinungsformen.

Den Niedergang können wir weder als eine objektive Periode des Kapitalismus begreifen, noch kann der progressive Aspekt des Kapitals als eine nun vergangene Periode begriffen werden. Die progressiven und dekadenten Aspekte des Kapitals sind immer gemeinsam aufgetreten. Der Kapitalismus war immer mit einem dekadenten und negativen Prozeß verbunden, mittels des Wertes das Leben zur Ware zu machen. Ebenso war er verbunden mit der Entfaltung der sich in der Opposition befindlichen universellen Klasse, reich an Bedürfnissen und mit dem äußersten Bedürfnis nach einem neuen Leben, jenseits des Kapitals.

Das Problem mit den orthodoxen Marxisten ist deren Bestreben, das Verhängnis des Kapitals nicht in den kollektiven Organisierungs- und Kampfformen des Proletariats zu verorten, sondern in den Erscheinungsformen der kapitalistischen Vergesellschaftung. Dem Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus wird eine lineares evolutionäres Modell verpaßt. Die revolutionäre Bewegung hin zum Kommunismus umfaßt Brüche; die Theoretisierungen über den Niedergang des Kapitalismus übersehen dies, da sie sich mit Aspekten des Kapitals identifizieren. Dabei hat schon Pannekoek gezeigt, der wirkliche Niedergang des Kapitals ist die Selbst-Emanzipation der Arbeiterklasse.


Fußnoten:

[1] Aus dem Vorwort zu »Ein Beitrag...«, wir werden später auf dessen Bedeutung zurückkommen.

[2] Pannekoek war eine abweichende Stimme innerhalb der Bewegung von Links- und Rätekommunisten, die eine Theorie des Niedergangs entwickelten.

[3] Während die Links-Kommunisten revolutionäre Positionen gegen den Trotzkismus verteidigt haben, wurde dies durch ihre rigide Konzeption der kapitalistischen Dekadenz unterminiert und erschien zunehmend dogmatisch.

[4] Die Arbeiterautonomie entwickelte die beste theoretische Erwiderung, aber sie verlor ihre Dynamik als der offensive Klassenkampf zurücktrat.

[5] So z.B. Negris Argument, die keynesianische Ausprägung des Staates, der Vollbeschäftigung und einen höheren Lebensstandard für eine wachsende Produktivität versprach, sei die strategische Antwort auf die Drohung einer proletarischen Revolution gewesen. Siehe A. Negri (1988), Revolution Retrieved. London, Red Notes.

[6] Ein Teil des Problems mit den Radical Chains und Ticktin ist die Verwendung des Begriffes »Wertgesetz«. Es wird mit der Vorstellung gearbeitet, mit dem Bezug auf »das Wertgesetz« hätte man bereits festen Boden unter den Füßen. »Die Analyse setzt das Wertgesetz ins Zentrum. Zustimmung oder Ablehnung erfordert zumindest das Begreifen des Wertgesetzes«, sagen die Radical Chains. Weil Ticktin sich danach richtet, ist er für sie ein »guter Marxist«. Das Wertgesetz wird benutzt, um den Kapitalismus auf den Begriff zu bringen, es ist quasi sein Wesen. Aber wenn das Wertgesetz in dieser Art und Weise verwendet werden soll, dann muß es in seiner breitesten Bedeutung gefaßt werden, als Addition aller Bewegungsgesetze des Kapitals: die Produktion und die Akkumulation des absoluten Mehrwerts, die Revolutionierung des Arbeitsprozesses hin zur Produktion des relativen Mehrwerts, der Zwang, die Produktivität zu steigern und so weiter. Auf der anderen Seite gibt es die engere Bedeutung, die sich einfach auf den Markt bezieht. Wenn beide Bedeutungen verwechselt werden, dann werden aus Veränderungen der engeren Bedeutung des Wertgesetzes - Grenzen des Marktes - der Niedergang des Kapitals, oder die anderen Gesichtspunkte des Kapitalismus werden vergessen. Die Radical Chains sind der Meinung, die Bedeutung des Wertgesetzes erweitert zu haben, indem sie es auf die Arbeitskraft konzentrieren. Aber sie denken es weiterhin nur in Begriffen des Marktes.

[7] Die von Hilferding entwickelte Vorstellung, die Ära des kapitalistischen Niedergangs beginne mit der Integration des Bankenkapitals mit dem Industriekapital kann auch als Deutschland-zentriert bezeichnet werden, da Hilferding solche Schlußfolgerungen auf dem hohen Integrationniveaus des Bankenkapitals und den großen Kartellen aufbaute, die zur Jahrhundertwende die deutsche Ökonomie kennzeichneten.

[8] »Statement of Intent«, Radical Chains 1-3. In der 4. Ausgabe gibt es eine leichte Änderung. »Die Welt in der wir leben wird durch den Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit der Planung und dem Wertgesetz durchzogen«, heißt dort die neue Formulierung.

[9] Radical Chains 4, Seite 27.

[10] »Das Wertgesetz steht nicht abseits der Arbeiterklasse, es ist kein separater Mechanismus. Zweckmäßiger ist es zu sagen, das Wertgesetz ist die Existenz der Arbeiterklasse, die sich noch nicht gefunden hat«, Radical Chains 4, Seite 21.

[11] Bei Ticktin sind es gelegentliche Hinweise, die den auf die Bedürfnisse ausgerichteten Sektor als einen Faktor für den Niedergang des Wertgesetzes enthalten, bei den Radical Chains dreht sich alles darum.

[12] Die beste Quelle zu diesem Gegenstand ist das 3. Kapitel aus »Public Order and the Law of Labour« von Geoff Key und James Mott (MacMillan, 1982). Im wesentlichen geht es Kay und Mott darum, daß die Anwendung des Mehrwertsgesetz anhand des Lohnvertrages immer mit einer breiteren Arbeitsgesetzgebung des Staates einherging. Die Radical Chains scheinen der Analyse dieses Buches viel zu verdanken, doch Kay und Mott sprechen von keiner reinen Subordination die abnimmt. Im Gegenteil, da die Anwendung des Arbeitsvertrags immer ungenügend ist - die Arbeitskraft weigert sich, nur eine Ware zu sein - müssen beständig verschiedene Kontrollen entwickelt werden.

[13] Für Marx verbarg sich die Natur der Klassenausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft in der Zahlung eines Lohnes für eine bestimmte Arbeitszeit, von der ein Teil - die notwendige Arbeit - den Lohn darstellte, während der Rest - nicht notwendige Arbeit - einen Mehrwert produziert. Absoluter Mehrwert steigert den Mehrwert durch eine Ausdehnung des Arbeitstages. Relativer Mehrwert steigert den Mehrwert durch eine Verringerung der notwendigen Arbeit zur Reproduktion des Lohnes. Der relative Mehrwert benötigt eine steigende Produktivität. Diese beiden Formen schließen sich nicht aus. Aber man kann sagen, daß es in der Entwicklung des Kapitalismus einen wichtigen Umschwung gab, als der Anwendung von Wissenschaft und Technologie zur Revolutionierung der Produktivkräfte im Streben nach relativen Mehrwert eine entscheidende Bedeutung zukam.

[14] In der durch die Produktion des absoluten Mehrwerts dominierten Periode übernahm der Kapitalist Arbeitsprozesse die im wesentlichen so blieben, wie gewesen waren bevor sie das Kapital übernommen hatte, obwohl eine Effizienz auf größerer Stufenleiter möglich war. Der relative Mehrwert verlangt auf der anderen Seite, daß der Kapitalist den gesamten Arbeitsprozeß umorganisiert. Es kommt zu einer beständigen Revolutionierung der Produktivkräfte; die Produktion wird spezifisch kapitalistisch und dominiert die ArbeiterInnen.

[15] Hierzu wichtig Kay und Mott in »Law of Labour«. Es sieht so aus als hätten die Radical Chains sich einen Text geschnappt, der aus einer eher autonomen Perspektive heraus geschrieben worden ist und dann dessen Inhalte ihrer Zusammenbruchstheorie angepaßt hätten. Es paßt nicht.

[16] MEW Bd. 13, S. 9.

[17] Wir denken, die Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen mag beim Sturz des Feudalismus durch die Bourgeoisie hilfreich gewesen sein, aber sie kann nicht die Garantie für den Niedergang des Kapitals sein. Dieser Widerspruch mag die Wurzel der Krise sein, aber das bedeutet noch nicht die endgültige Krise, die zur Lösung den Sozialismus benötigt. Anders als frühere Produktionsweisen ist der Kapitalismus nicht an eine Stufe der Produktivkräfte gebunden. Eher basiert er auf deren permanenten Revolutionierung. Er schafft eine Wachstumsgrenze in dem Sinne, daß nur für den Markt produziert werden kann. Aber die Grenzen die das Kapital sich selber setzt, sind Grenzen die das Kapital beständig zu überwinden versucht. Um eine fortschreitende Ausdehnung zu ermöglichen werden beständig die Produktionsverhältnisse revolutioniert. Die Notwendigkeit einer beständigen Transformation der sozialen Beziehungen zwingt das Kapital zur beständigen Konfrontation mit der Arbeiterklasse. Ein einmal durchgesetztes Modell des Klassenkompromisses kann nicht unbegrenzt aufrecht erhalten werden. Die Krise kann Bedingungen bringen, unter denen das Proletariat seine Bedürfnisse gegen die des Kapitals stellt. Aber ebenso ist es möglich, daß das Kapital den Widerspruch auf einer höheren Stufe der Produktivkräfte löst. Das Kapital revolutioniert die ihm eigenen Produktuionsverhältnisse, um die Profuktivkräfte zu entfalten. Die Perspektive der Produktivkräfte ist die des Kapitals, nicht die des Proletariats. Die Perspektive des Proletariats ist ein bewußter Bruch mit diesem Widerspruch, der anderenfalls weiterbesteht.
Marxen's Ausführungen im »Vorwort« als Rechtfertigung für die Vorstellung eines Niedergangs zu nehmen verwechselt Logik mit historischem Niedergang. Der Kapitalismus umfaßt die logisch/reale Möglichkeit des Niedergangs: das heißt, die Defetischisierung des Wertgesetzes und die Entfaltung einer freien Vereinigung von Produzenten an dessen Stelle. Diese Möglichkeit als historische Epoche/Fakt zu sehen bedeutet eine Konkretisierung: der Fortgang eines Teils des Kapitals (gemeint ist das Proletariat) über das Kapital hinaus wird als innerhalb und Teil des Kapitals und seiner sich veränderten Erscheinungsformen vergegenständlicht. Dies soll nicht bedeuten, daß die Defetischisierung und mithin der Kommunismus eine unhistorische Möglichkeit ist, ohne Beziehung zur Entwicklung des Kapitalismus und der Produktivkräfte; durch den Weltmarkt und die Reduzierung der notwendigen Arbeit schafft der Kapitalismus die Basis des Kommunismus. Aber für die Produktivkräfte gibt es keine technische Stufe, auf der eine weitere Entwicklung des Kapitalismus unmöglich oder der Sozialismus unvermeidlich wird. Es gibt eine organische Beziehung zwischen Klassenkampf und kapitalistischer Entwicklung. Von Zeit zu Zeit erreicht die Entwicklung von Kapital und Klasse den Punkt des möglichen Bruchs. Revolutionäre und die Klasse versuchen ihr Glück; wenn die Welle das Kapital nicht überrollt, dauert der Kapitalismus auf einer höheren Ebene an. Der Kapitalismus wird neu strukturiert, um die Klassenzusammensetzung die ihn angegriffen hatte zu neutralisieren: d.h., der Kapitalismus ändert seine Erscheinungsformen. So betrachtet ist die weitere Entwicklung der Produktivkräfte der Trottelpreis für gescheiterte Revolutionen.

[18] Es war die stalinistische Verpflichtung zur Planung die Trotzki und den orthodoxen Trotzkismus (zusammen mit vielen sozialistischen Intellektuellen im Westen) in der UDSSR ein progressives System sehen ließ. Ticktin's »Bruch« mit dieser Tradition besteht in der Behauptung, die UDSSR wäre weder von der Planung noch vom Markt bestimmt gewesen. Er behauptet, für Lenin und Trotzki wäre die Planung notwendigerweise »demokratisch« gewesen. Lenin's Unterstützung des Tylorismus und Trotzki's Ruf nach einer Militarisierung der Arbeit zeigen, daß die frühen Vorstellungen der Bolschewisten über die Planung nicht so einfach von der stalinistischen Version getrennt werden können. Es ist eindeutig nicht ausreichend nur darauf zu bestehen, dem sozialistischen Projekt einer geplanten Entwicklung der Produktivkräfte das Wort »demokratisch« anhängen zu wollen. Das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis ist ziemlich kompatibel mit Demokratie. Kommunismus ist ein Inhalt - die Abschaffung der Lohnarbeit - und keine Form. Die unangetastete Natur in Ticktin's Trotzkismus zeigt sich deutlich in dem Artikel »What would a socialist society be like« aus Critique 25. Nach der Übernahme der Macht umfaßt dieser »die allmähliche Abwicklung der Reservearmee an Arbeitslosen«, die »allmähliche Eliminierung des Finanzkapitals, die »Nationalisierung der wichtigen Firmen und ihre allmähliche Vergesellschaftung«!!

[19] Radical Chains1, Seite 11.

[20] Das Wertgesetz ist eine der Arten, in denen der Kapitalismus sein eigenes Wesen ausdrückt. Wettbewerb und Markt ist der Weg, mit dem das Wertgesetz den einzelnen Kapitalisten aufgezwungen wird.


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