Kommentierter Besuch der sozialen Bewegung vom Dezember 1995 in Frankreich
Von Nicole Thé
Über brennbares Material und eine gewisse Wiederaufwärmung
Als Ministerpräsident Juppé am 15. November die Einzelheiten seines Planes erläutert, der die breiteste französische Streikbewegung der letzten 20 Jahre in Schwung bringen wird, ist die gesellschaftliche Stimmung bereits um etliches brennbare Material aufgeladen.
Sicher, der allgemeine Kontext ist düster, und dies seit einiger Zeit: dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen für den unaufhörlich wachsenden Rand der von der Arbeit Ausgeschlossenen, was zusammen mit der Immobilienspekulation in den Vorstädten soziale Ghettos schafft, Verödung auf dem Land und wirtschaftliche Verarmung ganzer Regionen, Wachsen eines Gefühls der Unsicherheit, die eher durch Zukunftsängste als durch reale Gewalt genährt wird, Auflösung der traditionellen sozialen Bindungen: das Bild, das in all seinen Details von so vielen Haussoziologen entworfen wird, ist voll und ganz bekannt. Soweit, daß eine gewisse Vorhersage zum Allgemeinplatz wird: »Das wird knallen!«
Dennoch bedeutet das Steigen der Spannungen nicht das Steigen der Kämpfe, und zahlreiche Aktivisten, die ihre Hoffnungen in die Krise gesetzt hatten, mußten dies schmerzlich feststellen. Die wiederholten und immer näher gekommenen Explosionen der Vorstädte erinnern uns daran, daß die Revolte nicht ausreicht, daß für einen kollektiven Kampf mindestens ein gemeinsamer Gegner und, wenn möglich, ein gemeinsames Ziel da sein muß.
Nun ließ die Rückkehr an die Macht einer Rechten, die die Erbin der autoritären Traditionen der alten französischen Bourgeoisie ist - ungeteilte Macht, die obendrein zum Preis einer schamlosen Demagogie, also unter dem Risiko der massiven Desillusionierung erreicht wurde - hoffen, daß die erste Bedingung: die Identifizierung eines gemeinsamen Feindes, bald von neuem erfüllt würde.
Nun kann man seit der Rückkehr (aus den Sommerferien) eine Verschärfung der punktuellen Mobilisierungen beobachten, was zu bedenken gibt, daß die gesellschaftliche Stimmung am Siedepunkt ist. Etwas am gesellschaftlichen Klima belebt vorsichtig eine Hoffnung, die seit 15 Jahren oft enttäuscht wurde. Neben den militanten Mobilisierungen (gegen die Atomversuche, gegen die »moralische Ordnung« und die Infragestellung des Rechts auf Abtreibung) sind zwei Bereiche in den Kampf getreten:
- Am 10.Oktober rufen die drei größten Gewerkschaftsverbände (CGT, FO, CFDT) zu einem Streik und einer Demonstration des Öffentlichen Dienstes auf, um gegen das Einfrieren der Löhne zu protestieren. Die Demonstration hat eine Breite und eine Dynamik, die man seit langer Zeit nicht mehr gesehen hat. Selbst die Bullen demonstrieren an diesem Tag... Es ist also klar, daß diese Schicht der Lohnabhängigen, die am wenigsten gebeutelte, weil am meisten geschützte, aber auch die am wenigsten atomisierte (die übrigens die Mehrzahl der großen Kämpfe der letzten zehn Jahre geführt hat: Postler 1984, Eisenbahner 1986, Krankenschwestern und Lehrer, Arbeiter der Werkstätten der RATP [Metro] 1989), durch die Mobilisierung verlockt wurde und daß die Gewerkschaften dies wohl begriffen haben;
- seit dem 9. Oktober ist die Studentenszene auf dem Siedepunkt angelangt. Zuerst sehr lokal: ausgehend von Rouen erreicht die Streikbewegung nach und nach Toulouse, Metz, Pau, Perpignan, Orléans, Tours, Montpellier, Nizza und bald etwa fünfzig Fakultäten. Ausschließlich auf die Forderung von zusätzlichen Mitteln für die Hochschulausbildung [1] ausgerichtet, entwickelt sie allerdings harte Aktionsformen (Besetzungen von Rektoraten und Universitätsgebäuden) und versichert sich dabei der Unterstützung durch die Dozenten und sogar der Universitätsleitungen. Aber diese Bewegung war nur eine soundsovielte Wiederholung der Studentenmobilisierungen, wie wir sie in den vergangenen zehn Jahren erlebt haben. Während der ganzen Dauer der Bewegung in Aix-en-Provence, aber vielleicht auch in Toulouse (sehr phantasievoll in den direkten und spektakulären Aktionen), auch anderswo in der Provinz, dann zögernd und sehr punktuell in Paris (siehe Fußnote 12) entstehen Orte des freien Meinungsaustauschs, wo das Verhältnis der Studenten zur Welt, ihre Angst gegenüber der Gesellschaft usw. zur Diskussion stehen, Initiativen, die aufs Beste wieder an die Stimmung von 1968 anknüpfen.
Andererseits bringen es die Vielfältigkeit der Aktionsformen, die Tatsache, daß die Bewegung eher von der Provinz als von Paris geprägt war, das Fehlen einer Vereinheitlichung unter einer nationalen Parole, mit sich, daß die Macht sich schwer tut, darauf zu antworten. Mehrere Verhandlungsversuche und einige finanzielle Zuschläge an die kämpferischsten Universitäten haben die Bewegung nicht entschärft, die im Gegenteil beginnt, eine nationale Breite zu gewinnen. Am 21. November sind es mehr als 100 000 Studenten, die in ganz Frankreich demonstrieren.
Eine »kühne Reformwette«
In diesem Zusammenhang entschließt sich der Cheftechnokrat Juppé, die Herausforderung, die ihm die politische Klasse gestellt zu haben scheint, zu erhöhen: zu zeigen, daß er den Mut hat, einen entscheidenden Schlag gegen die schreckliche Seeschlange, das Defizit der Sozialversicherung, zu führen. Am 15. November also präsentiert er vor der Nationalversammlung, die ihm auf Anhieb zujubelt, »die kühnste Reformwette, die seit Jahrzehnten gewagt wurde«. [2]
Was beinhaltet dieser Plan?
Einen Plan zur Sanierung der Sozialversicherung. Der Reformeifer von Juppé in der Angelegenheit wird ihn nicht die Interessen der Klasse vergessen lassen, die er vertritt: trotz der Ausweitung der Abstriche an den Spareinkommen und den Familienzulagen - was Juppé erlaubt, von Gerechtigkeit zu sprechen - wird das wesentliche Gewicht der Sanierung der Beträge auf den Lohnabhängigen lasten: 225 Mrd. FF werden sie zahlen, gegenüber 5 Mrd., die von den Unternehmen und der Pharmaindustrie verlangt werden! Stattdessen definitives Schweigen über die Unternehmerschulden gegenüber der Sozialversicherung, die sich auf 91 Mrd Franc. belaufen, und über die staatlichen Schulden von 70 Mrd. Die neuen Einschnitte, die alles andere als vernachlässigenswert sind (auf einen Lohn von 7500 FF stellen die zusätzlichen Abstriche einen Einschnitt von 400 FF dar, nach einer Berechnung der Gewerkschaften) werden auch die schwächsten Einkommen nicht verschont: alle Löhne oder Ersatzleistungen über 2300 FF werden davon betroffen sein.
Dieser Sanierungsplan für die Sozialversicherung beinhaltet auch ein sehr übles Projekt einer Krankenhausreform. Kurzgesagt geht es darum, überall Rentabilitätskriterien einzuführen, um die Umschichtungen und Schließungen von Krankenhausstationen zu beschließen. Dieser Aspekt des Planes wird bei den KrankenhausarbeiterInnen am heißesten umkämpft sein, auch wenn er vom Rest der Bewegung ein wenig vergessen wird.
Aber Juppé hört hier noch nicht auf. Zweifellos denkt er als großer politischer Stratege, daß es sich eher lohnt, alle Schläge auf einmal zu führen. Denn sein Plan enthält auch: einen Plan zur Reform der Vorruhestandsregelungen (worunter der gesamte öffentliche Dienst fällt), der die Verlängerung der Beitragsdauer von 37,7 auf 40 Jahre vorsieht. Im Klartext bedeutet dies, daß der öffentliche Dienst dasselbe Schicksal erleiden soll wie der Privatsektor, dem die vorherige Regierung im August 1993 diese schöne Überraschung serviert hatte.
Die erste Seite des Juppé-Planes führt einen Schlag gegen die Kaufkraft der gesamten Lohnabhängigen - aber wegen der starken Lohnhierarchie, die in Frankreich existiert, hat die Wirkung dieser neuen Abstriche sehr ungleiche Auswirkungen, je nach Einkommensniveau. Die zweite Seite führt einen Schlag gegen die Lohnabhängigen im öffentlichen oder quasi-öffentlichen Dienst, aber dieses Mal nicht im Rahmen der Kaufkraft, sondern des Statutes. Nun spielt das Statut des Öffentlichen Dienstes eine große Rolle in der Art des moralischen Vertrages, der die Lohnabhängigen des Öffentlichen Dienstes an den Staat bindet. [3] Und für einige Berufsgruppen ist die Rente das Schlüsselelement des Vertrags. Besonders bei den Lokführern der SNCF [franz. Eisenbahn] und den Metro-Fahrern der RATP wird das Recht, mit 50 Jahren in Rente zu gehen, als gerechter Ausgleich für eine Arbeit mit harten Arbeitszeiten angesehen, die den Fahrern eine durchschnittliche Lebenserwartung von nur 65 Jahren beschert.
Aber zu diesen verallgemeinerten Angriffen kommt bald noch ein weiterer hinzu: am 28. November, als die Eisenbahner bereits seit vier Tagen im Streik sind, präsentiert der Direktor der SNCF den Plan zur finanziellen Rettung der SNCF, das Ergebnis einer Verhandlung zwischen dem Staat und der SNCF (der sogenannte Planvertrag Staat-SNCF). Der Staat, Hauptverantwortlicher der 175 Mrd.-Verschuldung der Eisenbahngesellschaft, der er die Finanzierung der TGV [Hochgeschwindigkeitszug]-Strecken aufgezwungen hat, übernimmt nur 37 Mrd. davon. Außerdem verlangt er im Namen der Rentabilität den Abbau von 73 000 Stellen und die Schließung von 6000 km an defizitären Strecken.
Das bedeutet, dem ersten Sektor, der in den Streik getreten ist, einen weiteren und besonderen Grund zur Unzufriedenheit zu geben, der darüberhinaus vielleicht die größte Blockadefähigkeit und eine starke Kampftradition hat...
Wie soll man diese Ballung von Angriffen in einem Moment wachsender Mobilisierung interpretieren, die gleichzeitig alle Lohnabhängigen und heftiger noch den Öffentlichen Dienst und die Eisenbahner berühren, die schon gezeigt haben, daß sie sich zu verteidigen verstehen? Sucht die Macht eine allgemeine Konfrontation, die es ihr erlauben soll, für lange Zeit den letzten Widerstand zu brechen? Diejenigen, welche zu dieser Hypothese neigen, führen das Beispiel Thatcher an, die den Angriff gegen die Bergarbeiter geführt hat. Aber dieses Beispiel ist nicht überzeugend, wenn man bedenkt, daß der Angriff dort nur gegen einen genau begrenzten Sektor geführt wurde, der zudem noch im Niedergang begriffen war. Bei der Poll Tax mußte Thatcher zurückweichen, da diese Bewegung die gesamte Bevölkerung betraf. Ich sehe hier eher die charakteristische Ungeschicklichkeit eines ehrenwerten Vertreters der guten französischen Rechten, welche die subtile Waffe der Verhandlungen und der gewerkschaftlichen Garden ignoriert, verstärkt durch einen Technokraten, der unempfänglich gegenüber gesellschaftlichen Stimmungen ist.
Es ist übrigens genau die Ungeschicklichkeit, welche ihm die Linke und auch die Balladur-Rechte vorwirft und nichts anderes... Was uns betrifft, so können wir uns nur freuen, daß es einen Juppé an der Macht gibt, der der französischen Arbeiterklasse den notwendigen Anstoß gibt, sich massiv in Bewegung zu setzen.
Drei Wochen soziale Bewegung
Zwischen dem 15. und dem 23. November äußert sich die politische Klasse im Mißklang, die Gewerkschaften, überrascht vom unerwarteten Angriff auf die Renten im Öffentlichen Dienst, überschlagen sich mit Erklärungen, scheinen aber zu zögern, welche Strategie sie einschlagen sollen.
Die Motive der Gewerkschaften
Die CFDT-Führung unterstützt die Regierung, in der guten Geschäftsführertradition, die sie seit mehr als zehn Jahren übernommen hat, nicht ohne mit mehreren ihrer Verbände in Konflikt zu geraten, besonders mit dem der Eisenbahner, der eine treibende Kraft im Streik sein wird. Nicole Notat, die CFDT-Führerin, wird bei der ersten großen, einheitlichen Demonstration am 24. November sogar ausgepfiffen und gezwungen, den Demozug zu verlassen.
Die FO denunziert den »Raub der Sécu« [Sozialversicherung] durch den Staat: diese Gewerkschaft, die jedoch bei der Macht Gehör findet, hat in der Tat einen Grund zur Beunruhigung: da Juppé eine einheitliche Krankenversicherungsregelung unter der Kontrolle des Parlaments vorgesehen hatte, ist sie davon bedroht, die Leitung der Sozialversicherung zu verlieren (nachdem sie bereits die der Arbeitslosenversicherung verloren hat), die hauptsächliche Quelle ihrer Macht und ihrer Finanzierung. Daß die Macht beschließt, diesen harten Schlag einer Gewerkschaft zu versetzen, die seit ihrer Gründung 1945 immer eine Hilfsrolle für den Staat gespielt hat, erklärt sich dadurch, daß die FO inzwischen ihre historische Funktion verloren hat. Mit dem Fall der Mauer ist die Existenz einer antikommunistischen Gewerkschaft nicht mehr gerechtfertigt; die CFDT tendiert immer mehr dazu, ihr die Rolle des von der Macht bevorzugten Gesprächspartners zu entreißen.
Die FSU (Verband der Lehrergewerkschaften) hat auch ein spezifisches Problem. 1993 nach einer Spaltung vom Nationalen Erziehungsverband (FEN) entstanden, hat sie, obwohl sie inzwischen die Mehrheit bei den Lehrern hat, noch nicht die Vertretung in den paritätischen Kommissionen erreicht. Sie hat also alles zu gewinnen, wenn sie ihre Kraft auf der Straße zeigt.
Die CGT hat eine andere Sorge: wie verhindert sie es, von der Welle der Unzufriedenheit, die zu entstehen droht, an den Rand gedrängt zu werden? In der gewerkschaftlichen Aufgabenteilung, auf der der soziale Konsens in Frankreich beruht, übernimmt die CGT tatsächlich die Rolle des Tribuns, der zur Schau gestellten Unbeugsamkeit, während die anderen die versöhnliche Rolle übernehmen. [4] Nun hat die CGT sicherlich ihre Lehren aus den Streikbewegungen von 1986 und 1989 gezogen, die sie zugunsten der Koordinationen an den Rand gedrängt hatten. Es steht also außer Frage, daß sie keine Bewegung außerhalb von ihr sich entwickeln lassen will.
Die Entwicklung der Streiks
Die Verbindung dieser besonderen Gründe drängt zur Gewerkschaftseinheit im Kampf und jeder begräbt vorübergehend seine alten Feindschaften. So rufen am 24. November CGT, FO und die FSU gemeinsam zu einem Streik und einer Demonstration des Öffentlichen Dienstes gegen die Verlängerung der Beitragsdauer für die Rentenversicherung auf, die sich schnell in einen Protest gegen den »Sécu-Plan« umwandelt. Diese Premiere einer langen Reihe von Demonstrationen hat auf Anhieb einen branchenübergreifenden Charakter, der sich im Laufe der Wochen nur bestätigen wird. Die Studenten haben sich effektiv den Eisenbahnern und den Beamten angeschlossen.
Am Abend weigern sich die Eisenbahner (SNCF), die Arbeit wiederaufzunehmen. Der Eisenbahnverkehr ist von jetzt ab lahmgelegt. Zwischen dem folgenden Montag und Mittwoch schließen sich ihnen die Fahrer der Pariser Metro (RATP) im Streik an. Das Fehlen jeglichen öffentlichen Verkehrs in der Pariser Region und bald auch in zahlreichen Provinzstädten wird diesem Streik eine außerordentliche Wirkung geben. Indem alle nichtstreikenden Arbeiter gezwungen werden, alternative Beförderungsmittel zu finden, wird die tägliche Routine durchbrochen. Hunderttausende von Personen entdecken das Fahrrad oder den Fußmarsch, also die körperliche Anstrengung, aber auch viele die wirklichen Dimensionen ihrer Stadt, die sie zu normalen Zeiten nur unter der Erde oder im Rhythmus der Autos durchqueren. Formen spontaner Solidarität (Gruppenfahrten im Auto, per Anhalter, Beherbergung von Kollegen aus dem Stadtrand ...) entstehen, zu normalen Zeiten unmöglich geworden durch die Atomisierung und den alltäglichen Individualismus.
Auf die Mobilisierungen hat das Fehlen der öffentlichen Verkehrsmittel widersprüchliche Auswirkungen: es drängt zweifellos bestimmte, nicht sehr entschiedene Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes dazu, sich passiv der Bewegung anzuschließen, um den Versetzungsdrohungen zu entgehen; aber es hat auch eine demobilisierende Auswirkung gehabt, besonders bei den Studenten, deren Vollversammlungen immer leerer wurden.
Es sind also die Arbeiter der Verkehrsbetriebe, die den Tanz anführen. Sie sind es, die die Streikbewegung beginnen, sie sind es, die die Bewegung der Wiederaufnahme der Arbeit ab dem 14./15. Dezember einleiten und die anderen Bereiche mitreißen werden.
In den anderen öffentlichen oder quasi-öffentlichen Bereichen bleibt der Streik partiell. In den Sortierzentren der Post, wo bereits im Frühjahr ein Streik geführt wurde, ist die Streikbeteiligung unterschiedlich: 80 Prozent Streikende am 2. Dezember, ab dem 6. Dezember beginnt sie zu zerfasern, aber es scheint, daß die Nicht-Streikenden, allgemein die am Verschuldetsten und zahlreiche Prekäre, selten feindlich gegenüber den Streikenden sind und sie oft noch finanziell unterstützen. In den einzelnen Sortierzentren ist die Kampfbereitschaft ebenso unterschiedlich. Bestimmte Sortierzentren treten bereits am 28. November in den Streik und hören erst am 20. Dezember auf (das von Caen erst am 30.). Andere öffentliche oder quasi-öffentliche Bereiche brauchen etwas mehr Zeit, sich zu entscheiden. Ende der ersten Woche werden bei der EDF-GDF (Nationale Strom-und Gaswerke) ein Drittel Streikende gezählt, es sind dann 40 bis 50 Prozent bis die Eisenbahner wieder an die Arbeit zurückgekehren (20 Prozent am 23.).
Vor allem zu Beginn der zweiten Woche wird die Bewegung größer: am 4. Dezember 19 Prozent Streikende bei France Telecom, dem nationalen Telekommunikationsunternehmen, das von Privatisierung bedroht ist. Die Krankenhäuser, die von der Krankenhausreform besonders bedroht sind, treten auch in den Tanz ein (da der schwache Personalbestand dafür sorgt, daß oft kaum ein Unterschied besteht zwischen dem normalen Dienst und dem aufgezwungenen Notdienst, ist die Streikbeteiligung schwer abzuschätzen).
Die Lehrer zögern: am 4. Dezember streiken 10 Prozent von ihnen (aber 23 Prozent der Lehrer der Pariser Schulen) und erst am 7. Dezember treten sie mit Macht in den Streik, als ihre Verbände (FSU, FEN, SGEN-CFDT) sie dazu aufzurufen. Ab dem 11. Dezember gibt es eine leichte Abschwächung.
Die Beschäftigten der Finanzämter sind ab dem 4. Dezember in den Streik getreten, aber sie sind in den öffentlichen Statistiken nicht aufgetaucht. [5]
Air France, das sich vielleicht durch einen harten Konflikt die Finger verbrannt hat, wo die Lohnabhängigen sich am Ende die Bedingungen der Umstrukturierung gefallen lassen mußten, ist nur sehr partiell und punktuell in den Streik getreten.
Auf nationaler Ebene muß man auch vereinzelte Streiks in den Häfen erwähnen: bei den Hafenarbeitern von Marseille und bei den Seeleuten. Wir wollen auch auf die Streikbeteiligung anderer Randbereiche des Öffentlichen Dienstes hinweisen, die niemals in der Presse erwähnt wurden, die aber in den Demonstrationen sichtbar waren: Verwaltungs- und Bibliothekspersonal der Universitäten, Beschäftigte des Kulturministeriums und sogar der Behörden von Matignon [Regierungspalast] ... Sollte man vielleicht noch die Praxis des »Einfrierens der Strafmandate« erwähnen, zu der vom »linken« Polizeiverband aufgerufen wurde, um gegen die Arbeitsbedingungen und die nichtbezahlten Überstunden zu protestieren, zu denen sie der »Plan Vigipirate« zwingt, der immer noch offiziell in Kraft ist [6], und auf allgemeiner Ebene die nichtfeindliche Haltung und offene Sympathie der Bullen bei den Demonstrationen?
Wenn man den nationalen Rahmen verläßt, bemerkt man, daß lokal, in einigen Städten, bestimmte Bereiche sich mit spezifischen Forderungen der Bewegung anschließen. Die Müllmänner von Bordeaux sind vom 4. bis zum 19. Dezember im Streik. Die Angestellten der Departementleitstelle für Raumplanung (DDE), die von einem Plan zur Umstrukturierung ihrer Zuständigkeit bedroht sind, machen sich in mehreren Städten bemerkbar. In vielen Provinzstädten sind die Verkehrsunternehmen (die direkt oder indirekt unter kommunaler Verwaltung stehen) im Laufe der zweiten Woche in den Streik getreten, aber viele widerstehen der Rückkehrwelle zur Arbeit, und man bemerkt sogar eine lokale Verhärtung, siehe das Wiederaufflackern des Konflikts in Bordeaux und Marseille.
Allgemein gesagt, läßt die Rückkehrwelle zur Arbeit Platz für bestimmte lokale Restkonflikte, die in lokalen Forderungen liegen: im EDF-Kraftwerk von Martigues wegen der Frage der Belegschaft und der Zukunft des Kraftwerks; in Limoges nehmen die Busfahrer die Arbeit erst am 27. Dezember wieder auf, nachdem sie Lohnerhöhungen bekommen haben. Zwei Kämpfe werden die Aufmerksamkeit besonders erregen: im Sortierzentrum von Caen wird bis zum 30. Dezember für die Festeinstellung von 50 Prekären gekämpft und in den Verkehrsbetrieben von Marseille bis zum 8.Januar für eine Gleichbehandlung von Alten und Neueingestellten. Als Symbol für die Solidarität der Bessergestellten mit den schlechter Eingruppierten, wird dieser Kampf mit einem vollständigen Sieg enden.
Enthaltung des Privatsektors
Es gab bestimmte Lohnabhängige von Privatunternehmen, die von der Bewegung profitiert haben, um spezifische Konflikte zu regeln. Bei Kodak in Metz z.B. gegen einen Entlassungsplan, aber auch bei Houllières in Lothringen, wo ein Lohnstreik in gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Bergarbeitern und Polizei überging. Die Beschäftigten der Speditionsunternehmen, deren Arbeitsbedingungen und Löhne sich seit dem Konflikt zwischen den LKW-Fahrern und dem Staat in der Frage der Punkteregelung noch mehr verschlechtert haben, hätten sich am 4. Dezember um ein Haar angeschlossen.
Dennoch hat sich der Privatsektor massiv des Streiks enthalten. Die Beteiligung der großen Unternehmen an der Bewegung ist begrenzt auf Arbeitsniederlegungen, um an den großen Demonstrationen teilzunehmen, besonders die vom 4. und 12. Dezember: Renault in Le Mans, Michelin in Clermont-Ferrand, Bull in Angers, Aerospatiale in Toulouse usw. In bestimmten Städten wie Caen, Rouen, Marseille oder Grenoble war die Beteiligung der großen Privatunternehmen an den Demonstrationen massiv und spektakulär (dafür in Paris nichts, oder fast nichts).
Wie ist es zu erklären, daß der Privatsektor zu keinem Zeitpunkt dabei war, in den Streik zu kippen? Zuerst und vor allem weil eine der Hauptmotivationen der Streikenden, die die Einheit des Öffentlichen Dienstes ausgemacht hat: der Angriff auf die Renten, für den Privatsektor eher ein guter Grund war, sich zu enthalten. 1993 war dem Privatsektor in der Tat von der Balladur-Regierung die Verlängerung der Beitragsdauer von 37,5 auf 40 Jahre aufgezwungen worden, ohne etwas anderes hervorzurufen als die formelle Mißbilligung durch die CGT und die FO. Das, was den Hauptgrund der Einheit des Öffentlichen Dienstes ausmachte, war auch der Grund für den Riß zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor.
Dennoch zeigten alle Umfragen, alle Haltungen, daß diese Streikbewegung die Sympathie der Masse der nichtstreikenden Arbeiter hatte. Aber der Privatsektor hat sich mit einer moralischen Unterstützung zufrieden gegeben: die Füße und die Kräfte benutzen, ohne sich zu widersetzen, das war ihr Beitrag. Das Fehlen der öffentlichen Verkehrsmittel hat auch hier nicht notwendig zu einer Kampfbereitschaft geführt: die Kräfte verbrauchten sich in einer außergewöhnlichen körperlichen Anstrengung, es blieb fast nichts für die Kampfkraft übrig ... Ein Streikaufruf, der von den Gewerkschaftsverbänden am 15. Dezember in den Banken verbreitet wurde, (dem Moment, als sich die Wiederaufnahme der Arbeit ankündigte), wurde von 3 Prozent des Personals befolgt.
Um eine Verbindung zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor im Kampf entstehen zu lassen, hätte es eines klareren Übergangs von branchenspezifischen Forderungen zur gesellschaftlichen Kritik bedurft. Die gewerkschaftliche Logik der Verwaltung von spezifischen Unzufriedenheiten hätte deutlich innerhalb der Suche nach einer Einheit durch die übergreifenden und offensiven Forderungen verschwinden müssen. Damit ist nur angefangen worden. Und es ist schnell wieder entschärft worden ...
Anwachsen und Bruch einer einheitlichen Dynamik
Der Juppé-Plan (sogar Juppé überhaupt) bildete den unabdinglichen gemeinsamen Feind für jede einheitliche Dynamik. Dann ist die Dynamik im wesentlichen von zwei Arten von Iniativen angetrieben worden. An der Basis sind schnell vielfältige branchenübergreifende Kontakte spontan entstanden und haben die geographische Nähe ausgenutzt. Auf Gewerkschaftsebene wurde zu einer langen Reihe von einheitlichen Demonstrationen aufgerufen, bei denen es darum ging, gegenüber der Macht möglichst viele Leute zusammenzubekommen. Und auch wenn die Demonstrationen für die Gewerkschaftsführungen ein Mittel waren, die Energien auf ihr eigenes Ziel hin zu kanalisieren - einen Platz am Verhandlungstisch zu bekommen !, haben diese beiden Arten von Initiativen doch ihren Anteil an der Schaffung eines Einheitsgefühls und einer wirklichen Kampfbewegung gehabt.
Vielfältige branchenübergreifende Kontakte
Nach dem zu beurteilen, was ich in meinem Stadtteil gesehen habe, was in den Bewegungsradios gesagt wurde und nach einigen Spuren in der Presse, gab es zahlreiche Kontakte zwischen verschiedenen Streikbereichen.
Die Vollversammlungen der Streikenden, wo fast täglich der Fortgang der Bewegung beschlossen wird, haben sich schnell den Streikenden anderer Sektoren geöffnet, die daran teilnehmen wollten, und es wurde oft nach Wortmeldungen von Externen gefragt. So haben die Eisenbahner die Lehrer zur Diskussion aufgefordert die Krankenschwestern kamen zu den Diskussionen in den Busdepots, die dynamischsten Studenten ergriffen das Wort auf den Vollversammlungen der Lohnabhängigen.
An verschiedenen Orten gab es Initiativen zu branchenübergreifenden Treffen von besonders entschlossenen Streikenden: z.B. im 18. Arrondissement von Paris hat eine Gruppe von Lehrern, die durch einen mehr als fünfjährigen Kampf für die Öffnung einer zusätzlichen Schule zusammengewachsen war, zwei Treffen zwischen Streiksektoren und der Bevölkerung des Stadtteils organisiert.
Es ist schwierig, die Breite dieses Phänomens zu beurteilen, aber es ist unbestreitbar, daß sich in den branchenübergreifenden Versammlungen die Debatte herausgebildet hat, daß die Fragen ausgeweitet wurden, die gesellschaftliche Kritik vorangeschritten ist. »Je mehr in den Vollversammlungen diskutiert wird, desto weniger fühlt man sich als Postler, Eisenbahner, Krankenschwester«, sagte ein Streikender auf dem Höhepunkt der Bewegung. Viele haben die Qualität des Zuhörens und des Austauschs in diesen Debatten betont, die unbestreitbar durch die Kraft einer Bewegung begünstigt wurde, welche die traditionellen gewerkschaftlichen Spaltungen und die Manipulationen der politischen Gruppen neutralisiert hat.
Die Serie der Demonstrationen
24. November: 500 000 Menschen auf der Straße. 28. November: 60 000. 30. November: 160 000. 5. Dezember: 800 000. 7. Dezember: 3 300 000. 12. Dezember: 2 200 000. 16. Dezember: 2 000 000. [7]
Diese Zahlen beweisen, daß es sich um eine Flutwelle handelt. Eine Flutwelle, die in den Provinzstädten noch beeindruckender als in Paris ist. In 270 Städten gab es Demonstrationen, in manchen von ihnen hat es noch nie welche gegeben. Und in bestimmten Städten wie Marseille, Bordeaux, Caen, Rouen oder Grenoble haben sich 15 Prozent, ja sogar 20 Prozent der Bevölkerung diesen Demozügen angeschlossen, die manchmal beeindruckender waren als die von 1968. [8]
Nun genügen weder der »Juppéthon« [9], der unklugerweise vom Ministerpräsidenten begonnen wurde, noch das Anwachsen der Zahl der Streikenden ab der zweiten Woche, um die wachsende Breite der Demonstrationen zu erklären. Die Demos waren große Momente von Übereinstimmung, Vergnügen und kollektiven Kampfes, der nach so vielen Jahren der Abwesenheit wiederentdeckt wurde. Ihre Dynamik, ihr Bruch mit der traurigen und passiven Seite aller politischen Stelldicheins, die wir in den letzten Jahren auf der Straße kennengelernt haben, ist bis zum 18. Dezember gewachsen. Die Kälte, die Notwendigkeit kilometerweit zu Fuß zu gehen, um sich zu treffen, haben auch dazu beigetragen, die Energien zu steigern und das zu schaffen, was sich in Momenten der Euphorie äußerte.
Diese Demonstrationen waren auch eine Gelegenheit für die Streiksektoren, sich zu versammeln, aber auch für die Nichtstreikenden, die zu der Gelegenheit in der Provinz die Arbeit niederlegten, oder auch für eine ganze Schicht der Bevölkerung, die nicht durch Arbeit sozialisiert ist, besonders die Arbeitslosen, deren Blöcke auf den Demonstrationen immer größer wurden. [10] Die Arbeitslosen haben dort eine Gelegenheit gefunden, die Isolation zu durchbrechen, öffentlich zu existieren - und für die Verbände, die beanspruchten, sie zu vertreten, eine Gelegenheit, über sie zu reden (was es ihnen erlaubt hat, erfolglos einen Klappsitz in den angekündigten Verhandlungen zu fordern). Auf der Seite der Lohnabhängigen scheint die Anwesenheit der Arbeitslosen auf den Demonstrationen sehr geschätzt worden zu sein: sie bildet den konkreten, materiellen Prüfstein des solidarischen Elans, dessen Träger die Bewegung war, das lebendige Dementi für alle Spießer, die meinten, in dieser Bewegung nicht mehr zu sehen, als den Ausdruck der branchenspezifischen Unzufriedenheiten.
Auch die Studenten, jedenfalls der neugierigste und kämpferischste Teil, konnten in den Demonstrationen die Verbindung zur Welt der Arbeit herstellen - ein Phänomen, das sicherlich in der Zukunft eine große Rolle spielen wird, wenn es auch scheinbar die Studentenbewegung zerfasern ließ. Schließlich haben diese Demonstrationen eine andere wichtige Funktion gehabt, besonders für die am wenigsten eingebundenen und neugierigsten Teilnehmer: die Zirkulation der Informationen und Überlegungen durch Flugblätter und Schilder. Die spezifischen Probleme der einzelnen Bereiche, die sich im Kampf befinden - Angestellte prangern die Steuerungerechtigkeit an, die Krankenhausbeschäftigten prangern die Entlassungen und die wachsende Ungleichheit in den Stationen an, die von der Krankenhausreform erzeugt wird, die Eisenbahner prangern das Opfern der Schiene an - konnten zum Ausdruck kommen. Gleichzeitig haben zahlreiche individuelle Initiativen oder kleine (und nicht nur klassische militante) Gruppen versucht, die Kritik auf die Ebene der Organisation der Gesellschaft zu lenken und der Revolte gegen eine ungerechte, Ausschlüsse anstiftende, unmenschliche und selbstmörderische Gesellschaft Sinn und Ausdruck zu verleihen.
Die Taktik der Regierung: gerade soweit zurückweichen, um die Einheit zu zerbrechen
Gegenüber einer Bewegung solchen Wachstums erweist sich die Taktik des Verfaulenlassens, die die Regierung scheinbar anfangs angenommen hatte, sehr schnell als gefährlich. Die Gefahr einer Verbindung der Kämpfe scheint ziemlich schnell wahrgenommen worden zu sein und ihr wird durch Teilzugeständnisse begegnet.
1. Indem den Studenten am 3. Dezember 369 Mio. Francs an zusätzlichen Mitteln gewährt wurde, 4 Mrd. Francs für die Gebäude, 2000 Lehrstühle und 2000 Verwaltungsstellen - alles durch simple Budgetumstellungen finanziert!, tut Bayrou gerade genug, um eine Studentenbewegung zu entschärfen, die bereits eine nationale Breite erreicht hat und die gerade anfängt, eine Verbindung mit den Lohnabhängigen einzugehen (am 30. November demonstrieren 160 000 Studenten, Eisenbahner und Beamte Seite an Seite) - was die Tendenz zur Radikalisierung weiter fördert, die sowohl inmitten der Koordination [11] als auch in den Zusammenschlußversuchen an ihrem Rand [12] vorhanden ist.
Die Taktik der Regierung funktioniert relativ gut, da sich diese Verbindung, jedenfalls in Paris, nicht wiederholt. Wenn auch der kämpferischste Teil der Studenten weiterhin an den Demonstrationen der Lohnabhängigen teilnimmt, so tut er es aber als unterstützende Kraft, die sich im Laufe der Demos immer mehr verringert. Wenn auch die Koordination, die die Kraftprobe der internen militanten Konflikte besteht, indem sie nach Tours umzieht, ihre Bemühungen nicht aufgibt, die studentische Bewegung am Leben zu halten, indem sie sie auffordert, sich an der sozialen Bewegung zu beteiligen.
2. Auf der Seite der Lohnabhängigen wird die Regierung bald die Geschlossenheit aufgeben, die sie während der ersten Woche zur Schau getragen hat. Ihre Bemühungen um »Pädagogik« und »Erklärung«, weit davon entfernt überzeugend zu sein, irritieren. Vom 7. bis 9. Dezember beauftragt sie ihre Minister mit weitreichenden Kontaktaufnahmen, aber es geht immer nur um »Dialog«, niemals um Verhandlung.
Trotzdem hört die Mobilisierung nicht zu wachsen auf. Am Abend des 10. Dezember, während einer vom Fernsehen übertragenen Ansprache, gibt Juppé nun an einigen Schlüsselpunkten nach: a) die Fahrer der SNCF und der RATP können weiterhin mit 50 Jahren in Rente gehen; b) der Planvertrag Staat-SNCF ist auf unbestimmte Zeit aufgehoben; c) die Kommission, die damit beauftragt ist, die Reform der Vorruhestandsregelungen zu untersuchen, wird aufgelöst. Im Klartext: in der Frage der Renten im Öffentlichen Dienst und der Streitsache SNCF weicht die Regierung (vorübergehend) zurück: dafür werden bezüglich des Reformplans für die Sozialversicherung alle Maßnahmen aufrechterhalten. Kein Zweifel, es geht wieder einmal darum, den Motor vom Rest der Bewegung abzukoppeln: die Fahrer vom übrigen Personal der SNCF und RATP, die SNCF vom übrigen Öffentlichen Dienst, den Öffentlichen Dienst vom Privatsektor, der, obwohl noch ruhig, sich auch bald dazugesellen könnte.
Es zahlt sich wieder mal die Taktik der Spaltung durch sektorielle Zugeständnisse aus. Aber nicht sofort. Zwischen diesen Zugeständnissen und dem Beginn der Wiederaufnahme der Arbeit werden noch fünf bis sechs Tage vergehen, in denen die Bewegung die offensive Einheit versucht, indem sie die Zahlen des »Juppéthon« (siehe Fußnote 9) in die Höhe treibt. Aber als am Abend des 12. Dezember die Zahl von 2 Millionen Demonstranten offensichtlich überschritten ist, gibt es eine organisierte Nachrichtensperre der nationalen Radio- und Fernsehketten über dieses Thema [13], und alle verstehen, daß Juppé nicht zurücktreten wird.
Weil sie nicht die Zeit hatte, ihre wachsende Einheit auf solide Formen der Selbstorganisation zu gründen, wird die Bewegung aufgerieben. Und es sind logischerweise die Eisenbahner und die Metro-Fahrer, die am Wochenende die Wiederaufnahme der Arbeit vorbereiten. Nicht ohne ein sehr schlechtes Gewissen bei denen, die am intensivsten den Schwung der Solidarität mit den anderen aktiven Sektoren erlebt haben, und die genau wußten, daß sie in den Augen aller [14] den offensiven Flügel der Bewegung darstellten.
Mehr oder weniger zusammenhanglos folgen die anderen Bereiche und Städte und lassen lokale Konflikte in der Provinz zurück, von denen manche sogar gerade erst begonnen hatten und manchmal bis zum Ende des Monats andauerten.
Um sich der Wiederaufnahme der Arbeit zu versichern, wird die Regierung noch einmal gezwungen, hier und da Zeit zu gewinnen: Garantien, daß die vor dem Streik bei der SNCF geplanten Entlassungen aufgehoben sind; Ankündigung, daß die Privatisierung von France Télécom verschoben ist. Dann, als die Bewegung völlig entschärft ist, kann die Inszenierung der Verhandlungen beginnen. Am 21. Dezember versammelt sich der berühmte »Sozialgipfel«, aus dem die Gewerkschaften mit unbedeutenden kleinen Maßnahmen und vielen Versprechen über zukünftige Dialoge herauskommen werden. Das ist wohl das mindeste, was die Regierung ihnen schuldet für ihre loyale Kontrolle der mächtigsten sozialen Bewegung, die das Land seit fast 27 Jahren erlebt hat.
Die Taktik der Gewerkschaft: Mitziehen, um eindämmen zu können
Tatsächlich war diese Bewegung trotz ihres massiven Charakters von Anfang bis Ende von der Gewerkschaft, wenn nicht geführt, dann wenigstens begleitet. Es ist schwer zu erkennen, ob zu Beginn der Bewegung die Gewerkschaften sofort auf den Zug der Streiks aufgesprungen sind, die in den Verkehrsbetrieben losbrachen oder ob sie es waren, die aus den oben genannten Gründen den Anstoß für den Beginn gegeben haben.
Wie ist dann die Ausweitung zustande gekommen? Viele Berichte legen nahe, daß die Leitungen der Gewerkschaftsverbände starkem Druck von den Basisaktivisten zugunsten des Streiks ausgesetzt waren. Man kann sich auch fragen, ob die CGT, welche besonders empfindlich gegen militante Konkurrenz ist, ohne den Druck von kleinen Branchengewerkschaften, die im Laufe der letzten zehn Jahre aus einem Bruch mit den Verbänden entstanden sind - die SUD bei der Post, die CRC in den Krankenhäusern, die SNUI in den Finanzämtern, zu denen man die Lehrergewerkschaft, die Mitglied der FSU ist, hinzuzählen muß - es riskiert hätte, in den anderen Branchen des Öffentlichen Dienstes zum Streik aufzurufen. Die Konkurrenz unter den Gewerkschaften - zwischen FO und CGT in Bezug auf die Vertretung, zwischen der CGT und den »alternativen« Branchengewerkschaften in Bezug auf die militanten Mitglieder - scheint also in Zusammenhang mit der starken Kampfbereitschaft an der Basis die Formierung einer Gewerkschaftseinheit im Kampf begünstigt zu haben.
Wie dem auch sei, die Gewerkschaften fanden sich gezwungen, anpassungsfähig zu handeln und die Regeln der Basisdemokratie zu akzeptieren, die überall spontan angewandt wurden. Überall wurde tatsächlich die Weiterführung oder die Wiederaufnahme der Streiks nach Diskussion und Abstimmung in Vollversammlungen entschieden. Überall mußten die Gewerkschaften zusehen, wie autonome Basisinitiativen gebildet wurden, so zum Beispiel der Aufbau branchenübergreifender Kontakte, oder in der Provinz sogar verschiedene Formen direkter Aktion [15] - die ohne Zweifel in Versammlungen oder in Streikkomitees entworfen wurden. Die Gewerkschaften hatten offensichtlich die Lektion der vorherigen Jahre gelernt: es ist besser, sich anzupassen, als sichtbar nach Hegemonie zu streben, wenn man schwach ist.
Die Streikenden ihrerseits überschreiten die Gewerkschaftsstrategien nicht oder kaum. Auf Anhieb schien das Engagement der Gewerkschaftsverbände im Streik eine Garantie für schnelle Wirksamkeit zu sein. Danach scheint die Gewerkschaftseinheit als Garantie der Einheit überhaupt erlebt worden zu sein - und vielleicht selbst, besonders bei den Eisenbahnern, als ein Schutz gegen die Spaltungen, unter denen einige frühere außergewerkschaftliche Kämpfe gelitten hatten.
Aber das, was vielleicht als Ausdruck eines bestimmten Pragmatismus der Streikenden angesehen werden könnte, wird problematisch, wenn man bedenkt, daß der Anspruch der Gewerkschaftsführungen, die Bewegung gegenüber der Macht zu vertreten, niemals bestritten wurde. Die Gewerkschaftschefs konnten immer weiter wiederholen: »Die Regierung muß verhandeln«, ohne daß jemals die Frage nach ihrer Legitimität, nach einem konkreten Mandat von Seiten der Streikenden für die Verhandlungen, gestellt wurde, außer ganz am Rande. Die Gewerkschaften können andererseits der Macht danken, die nichts Ernsthaftes zu verhandeln hatte, daß sie ihnen die Prüfung erspart hat, die darin bestanden hätte, den Rahmen der Verhandlungen der Abstimmung der Versammlungen zu unterwerfen. All dies läßt denken, daß die Gewerkschaften aufgewertet und verjüngt aus dieser Bewegung herausgekommen seien, wenigstens in den Augen der weniger Kampferprobten. Vielleicht wird es bald möglich sein, die Streikbewegung vom Dezember 1995 mit der von 1936 oder 1968 zu vergleichen, was den Zustrom an Gewerkschaftsmitgliedern betrifft.
Es gibt dennoch einen Punkt, wo man Vorbehalte gegenüber der Haltung der Gewerkschaftsführungen gehört hat - allerdings kaum in Versammlungen: die Frage der Ausweitung der Streiks. Diese Frage hatte sich tatsächlich im Lauf der Zeit zu einer Kraftprobe ersten Ranges verwandelt, und war geeignet, über die Zukunft der Bewegung zu bestimmen. Und die Hellsten oder die Engagiertesten im Kampf (oft die Gewerkschaftsdelegierten von der Basis) verstanden sehr schnell, daß jenseits der zur Schau gestellten Diskurse die Gewerkschaften überhaupt nicht erpicht darauf waren, die Ausweitung der Bewegung auf den Privatsektor zu erreichen.
Natürlich hat die CGT, die vom 4. bis zum 7. Dezember ihren Kongreß abhielt, zweimal nach erregten Debatten zur »Verallgemeinerung« der Streiks aufgerufen, aber es ist schnell klar geworden, daß dieser Aufruf eine Formsache war, dazu bestimmt, den Schein zu wahren (die FO hat sogar zum Generalstreik im Privatsektor aufgerufen..., wo sie fast keine Mitglieder hat). Denn um den Privatsektor zum Eintritt in den Streik zu veranlassen, was gewiß schwieriger ist, da er oft starkem Druck von Seiten der Unternehmer ausgesetzt ist, da er vor allem vom Angriff auf die Renten nicht betroffen und weniger empfänglich für den Einfluß der Gewerkschaft ist, bedarf es schon mehr als eines formalen Aufrufs. Es bedarf eines Willens, Überzeugungsarbeit, direkter Kontaktaufnahmen, was die Gewerkschaften nie forciert und was sie vielleicht sogar verhindert haben. [16] Zweifellos bedurfte es auch eines Minimums an gewerkschaftlicher Selbstkritik, denn die Parole »37,5 Jahre für alle«, die vorsichtig in einigen Gewerkschaftsflugblättern vorgebracht wurde, konnte nicht ausreichen, um das totale Fehlen eines Kampfaufrufs im Jahre 1993 vergessen zu lassen, als der Schlag der Verlängerung der Beitragszeit für die Rente dem Privatsektor verpaßt wurde. Genauso könnte man sich fragen, warum die Gewerkschaften gewartet haben, bis die Rückkehr zur Arbeit vorbereitet wurde, um an einem Wochenende eine nationale Demonstration zu organisieren, eine Voraussetzung, um die Teilnahme der nichtstreikenden Arbeiter zu ermöglichen, also um direkte Kontakte zwischen Streikenden und Nichtstreikenden zu erlauben...
Genau in der Frage der Ausweitung des Streiks auf den Privatsektor hat die Hauptschwäche der Bewegung - ihre strategische und organisatorische Abhängigkeit von den Gewerkschaften - die meistens Konsequenzen. Denn als die Zugeständnisse der Regierung kamen, hatten die Gewerkschaften keine größe Mühe, die Eisenbahner zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bringen, denen sehr wohl bewußt war, daß das Kräfteverhältnis es nicht zuließ, an dem Punkt zu gewinnen, der zur einzigen vereinheitlichenden Forderung geworden war: die totale Rücknahme des Juppé-Plans. Die CGT weiß dennoch die Form zu wahren: sie ruft die Eisenbahner auf, »die aktuelle Form der Bewegung zu verändern« - natürlich ohne neue Formen vorzuschlagen... Dagegen wird dort, wo sich lokale Konflikte in die Bewegung integrieren, die Rückkehr zur Arbeit problematischer. Am 15. Dezember, also als die Wiederaufnahme der Arbeit in den Verkehrsbetrieben vorsichtig anfängt, erklärt ein CFDT-Delegierter: »Die Basis wächst. Unsere Gewerkschaftsführer versuchen immer noch die Bewegung aufzuspalten, anstatt zu einem Generalstreik aufzurufen.« Aber die Widerstände dauern insgesamt nicht länger als ein paar Tage, mit Ausnahme einzelner Orte.
Eine voll ausgearbeitete Gesellschaftskritik
Von Anfang an hat die Forderung nach »Rücknahme des Juppé-Planes« als Bindemittel für die gesamte Bewegung gedient. Man braucht sich nicht über den rein defensiven Charakter dieser Forderung zu wundern: In einem Zusammenhang, wo seit dem definitiven Scheitern des »realen Sozialismus« kein Projekt zur Umwandlung der Gesellschaft Zeit oder Gelegenheit hatte, in den Köpfen Gestalt anzunehmen; in einem Zusammenhang, wo die Jugendlichen, durch eine Konkurrenzlogik unter Druck gesetzt, die sich nun seit den ersten Jahren des Gymnasiums aufzwingt, gelähmt von der Angst um eine Zukunft, die immer bedrohlicher zu werden verspricht, es nicht wagen, von einer Zukunft zu träumen, die sie selbst aufbauen wollen. In diesem Zusammenhang wäre es ziemlich unrealistisch, von der ersten großen Streikbewegung seit dem Fall der Mauer zu erwarten, daß sie sich zum Träger einer Idee radikaler Gesellschaftsveränderung machen könnte. Auch wenn übergreifende Forderungen wie die massive Arbeitszeitverkürzung oder Nulltarif in öffentlichen Verkehrsmitteln während der Streiks sich ein bißchen den Weg gebahnt haben, so ist es Tatsache, daß die Einheit auf einer defensiven und minimalen Basis entstanden ist.
Aber wir hätten Unrecht, wenn wir die Breite des Weges, den die kollektive Kritik, die im Laufe der Tage in den Vollversammlungen oder den branchenübergreifenden Treffen entwickelt worden ist, durchlaufen hat, unterschätzen würden. Das Zusammentreffen der besonderen Unzufriedenheiten, aber auch die stillschweigende Unterstützung eines guten Teils der Nichtstreikenden haben diejenigen, die sich in erster Linie im Kampf engagiert haben, dazu gebracht, sich als Wortführer eines kollektiven »Schnauze-Voll« zu fühlen, das sich an die gesamte herrschende Klasse richtet. So hat auch die Macht des »Einheitsdenkens« [17] ein Ende gefunden - das seit mehr als zehn Jahren mit Arroganz beanspruchte, die einzig mögliche und wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung zu fördern, indem es die Belange der Ökonomie, der Leistung, der Konkurrenz und des Marktes verteidigte.
Sicher haben wir vor allem in den Gewerkschaftsreden das Wiedererscheinen der alten rohen Äußerung des Klassengefühls erlebt: »Es sind immer die Kleinen, die es ausbaden müssen.« Aber innerhalb des langen Rückschritts der gesellschaftlichen Errungenschaften hatte selbst diese reduzierende Form des Klassengefühls (denn es ist ohne jeglichen emanzipatorischen Gedanken) einen Charakter des Bruchs mit der passiven Haltung - die einige für Zustimmung gehalten haben - die für Jahre vorgeherrscht hat: »Wir haben die Opfer satt, die immer von denen am unteren Ende der Rangordnung bezahlt werden.« Gewiß wurden oft vereinfachende Lösungen wie »Man muß die Finanzeinkommen versteuern«, die modernisierte Version von »Man muß die Reichen bezahlen lassen«, von den Gewerkschaftsaktivisten als Patentrezept vorgebracht und so die Probleme der Wahl einer Gesellschaft aufgeschoben. [18]
Aber davon abgesehen gab es zahlreiche Gelegenheiten freien Meinungsaustauschs, wo man auch andere Dinge hat äußern hören. Vor allem ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit, das sich nach Jahren der Unterwerfung unter den herrschenden Diskurs ausdrückte; es war stark, weil bei vielen genährt vom Gefühl, durch die Politiker reingelegt worden zu sein, die die Ansprüche des Volkes benutzt haben, um an die Macht zu kommen und sie danach verhöhnen; es war stark, weil es von einem kollektiven Bewußtwerden über die wirkliche Bedeutung der Worte der Macht begleitet war: es wird für alle offensichtlich, daß Rentabilität, Liberalisierung, Privatisierung nur Entlassungen, Arbeitsintensivierung, Erhöhung der Preise bedeuten; daß »Kampf gegen die Arbeitslosigkeit« Prekarität und niedrige Löhne bedeutet, die massiv in allen Bereichen der Lohnabhängigen eingeführt werden.
Nach und nach wurde so die Logik derjenigen wieder in Frage gestellt, die alle Entscheidungen der politischen Klasse seit 15 Jahren geleitet haben, und dies im Namen von Werten, die durch soviele Jahre »Einheitsdenken« schon fast ausgelöscht geglaubt schienen: Solidarität, Verteidigung des öffentlichen Wohls.
Solidarität
Diese Bewegung hat schonungslos offengelegt, daß die Arbeitslosigkeit und die große Armut zur Angelegenheit aller geworden sind, und nicht nur derjenigen, die von der Macht und den Medien als Ausgeschlossene bezeichnet werden; und nicht nur zur Angelegenheit der Bewahrer des sozialen Konsenses. Mit anderen Worten, daß die Schwelle des Erträglichen überschritten worden ist. Dies bezieht sich nicht nur auf eine quantitative Realität (alle haben inzwischen einen Arbeitslosen unter ihren Verwandten, alle fühlen sich mehr oder weniger bedroht), sondern zweifellos auch auf das Wiedererwachen des alten Gleichheitsgefühls, das in den Kämpfen der letzten zwei Jahrhunderte entstanden war und das man kaum noch lebendig glaubte.
Infolgedessen ist es nicht mehr das wachsende Elend, was man als Skandal anprangert, sondern die wachsenden sozialen Ungleichheiten: Reichtum auf der einen Seite, Elend auf der anderen. So haben die Beschäftigten der Krankenhäuser die wachsende Ungleichheit im Zugang zu den Diensten angeprangert, die von der Steuerbehörde die wachsende Ungleicheit in den Steuererhebungen.
Verteidigung des öffentlichen Wohls
Die Zerschlagung des Öffentlichen Dienstes war zweifellos das am meisten kritisierte Element in den Streiks. Gewiß liegen die Gründe in den unmittelbaren Problemen der meisten streikenden Branchen des Öffentlichen Dienstes: Drohungen von Streckenstillegungen bei der SNCF, von teilweisen oder vollständigen Schließungen von Krankenhäusern, Entlassungsdrohungen in Verbindung mit zukünftigen Privatisierungen bei der Post, bei France Télécom, bei EDF-GDF ... Gewiß war es gestützt auf die Identifikation der Beamten mit dem Staat, auf ihren Stolz, einer große Verwaltung zu dienen, die wegen ihrer Effizienz bekannt ist. Und in dieser Richtung hat die Unzufriedenheit die Branchenfragen hinter sich gelassen. Denn das, was sich in den Streiks massiv äußerte, war eine Reaktion der Revolte gegen den Bruch des Vertrags, der unausgesprochen den Staat mit den Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes verband, und weiter gefaßt, den Staat und die französische bürgerliche Gesellschaft.
Zwei Elemente bekräftigen diesen Standpunkt:
- Die Streikbeteiligung eines nicht zu vernachlässigenden Teils der höheren Angestellten und der Meister in der Frage der Verteidigung des Öffentlichen Dienstes, der durch die Politik der Rentabilität der Führungen in Frage gestellt ist;
- die Breite der Demonstrationen und die relative Radikalität der Aktionen in der Provinz, wo die Ablehnung einer Zerschlagung des Öffentlichen Dienstes begründet ist in der Ablehnung eines Kahlschlages auf dem Lande (fortschreitendes Verschwinden der Schulen, der Postämter, der Eisenbahnlinien..) und der massiven Arbeitslosigkeit (der Staat ist in vielen Städten der letzte große Arbeitgeber).
Es war zweifellos dieser Eindruck des Vertragsbruchs, der so viele Streikende dazu gebracht hat, die Kritik auf eine Ebene zu heben, die bisher nur der linke Rand der Arbeiterbewegung formuliert hat: »Schluß mit der herrschenden Wirtschaftsideologie, die die Menschen ignoriert! Schluß mit der liberalen Logik, die sie vernichtet!« Infolgedessen äußert sich nach und nach der Bruch zwischen »ihnen« und »uns«. Sie, das sind die Politiker, die Technokraten, die, welche in Buchhalterbegriffen denken. »Wir«, das sind alle Menschen ohne Macht, die »Bürger«, Träger von Werten menschlicher Solidarität. Eine Erneuerung des Klassengefühls also, dieses Mal als Anleihe bei den humanistischen Werten - Werte, denen die klassischen Theoretiker des Klassenkampfs jede Wichtigkeit absprachen...
Es ist in diesem Zusammenhang nicht erstaunlich, daß der Gedanke einer Lösung durch einen Wechsel des politischen Personals nicht auf der Tagesordnung stand - auch wenn es gefallen hätte, sich vorzustellen, Juppé mitsamt seinem Plan zu stürzen; auch wenn der Stimmengewinn der Sozialisten bei den Teilwahlen am 3. und 10. Dezember beweist, daß das Schaukelspiel auf der politischen Bühne noch seine Funktion erfüllt (aber für wen? Für die, die auf der Straße sind oder für die, die Angst vor der Straße haben, die sich äußert?).
In den Streiks, auf der Straße fühlte man sehr wohl, daß die Gesamtheit der ökonomischen, technischen und menschlichen Entscheidungen, die von der gesamten politischen Klasse seit 15 Jahren getroffen worden sind, in Frage gestellt wurde. Warum über Regierungswechsel reden, wenn die dort oben sich alle einig sind, den Rückzug des Staates voranzutreiben, um Privatisierungen durchzuführen, um die Kosten der Defizite denen am Ende der Rangordnung aufzubürden? Alle, und nicht nur die Rechte und nicht nur die französischen Politiker; alle, die ganze internationale herrschende Klasse trifft überall dieselben Entscheidungen.
In der politischen Klasse übrigens wollte scheinbar niemand die heiße Kartoffel, die die Handhabung dieses sozialen Konfliktes war. Jospin hat darauf hingewiesen, daß er erst in ferner Zukunft an die Macht zurückkehren wird und seine Truppen aufgefordert, sich darauf vorzubereiten. Die KP hat sich bedeckt gehalten. Nur der populistische Flügel der Regierungsrechten zappelte und hoffte, bald an die Reihe zu kommen.
Es ist auch nicht erstaunlich, daß die Medien als das begriffen wurden, was sie sind: Werkzeuge im Dienste der Macht. Ihre so offensichtlich partielle Behandlung der Ereignisse konnte nur zu dem Gefühl beitragen, daß die Regierung die Streikenden als Feinde und die Medien als Kriegswaffe behandelt.
Schließlich ist es nicht erstaunlich, daß die sogenannte Intellektuellenwelt sich durch diese plötzliche Wortmeldung einer Welt gestört fühlt, die 20 Jahre geschwiegen hat, scheinbar ohne Ideen und Stimme.
Einige haben sich daran gemacht, das zu diagnostizieren - »Legitimitätsverlust der Eliten«, die zu technokratisch, zu sehr vom Volk abgeschnitten seien; »Kommunikationsdefizit« von Seiten einer Macht, die nicht verstanden habe, daß das Volk heute intelligent genug ist, die Dinge erklärt zu bekommen, bevor man sie ihm aufzwingt...
Im Lager der Linken gibt es einerseits die, die sich auf die Seite der »notwendigen Reform« gestellt haben und sich ereifern, in dieser Bewegung nicht mehr zu sehen als Branchenforderungen, während sie die Äußerung dieser Bewegung auf gewerkschaftliche Forderungen reduzieren. Andererseits die, die das Lager der Streikenden gewählt haben, nicht ohne die Bewegung mit Werten zu beladen, die vor allem die ihrigen sind: Verteidigung der »republikanischen Werte«, des »typisch französischen« Öffentlichen Dienstes... Schließlich gab es subtilere Verleumder wie Wieviorka, für den diese soziale Pseudo-Bewegung sich im Vergleich zu 68 unfähig gezeigt hat, sich der Gesamtheit der Probleme anzunehmen, die sich der Gesellschaft stellt ...
In all diesen Positionen war weder die Rede vom Wiederauftauchen eines Klassengefühls, das der herrschenden Logik feindlich gegenübersteht, noch von der schwierigen Ausarbeitung einer Gesellschaftskritik, die das Streben nach einer anderen Gesellschaft ausdrückt. Und dennoch ging es um all das in den Köpfen und manchmal auch in den Wörtern. Und genau das müssen wir in den Kämpfen von morgen lebendig werden lassen.
Öffnen sich die Perspektiven?
Die Bewegung vom Dezember 1995 kann sehr wohl als letzte Version eines typisch französischen Schemas begriffen werden: eine Zentralmacht, die den zwischen sich und der bürgerlichen Gesellschaft vermittelnden Mächten keinen Platz läßt; Probleme, die durch Explosion geregelt werden; Gewerkschaften, die zu schwach sind, um in normalen Zeiten zu verhandeln, die unter dem Druck der sozialen Mobilisierung an den Verhandlungstisch gelangen; schließlich ein neuer Kompromiß bis zur nächsten Krise.
Nur daß es diesmal gar keinen Kompromiß gab. Daß nicht einmal Verhandlungen gab. Übrigens scheint es, daß keine Verhandlung mehr möglich ist. In einem Zusammenhang, wo das Wachstum nicht mehr an der Tagesordnung ist; wo die Belange der europäischen Einigung und allgemeiner die Globalisierung der Wirtschaft dem Zentralstaat jegliche Entscheidungsmöglichkeit im Rahmen allgemeiner ökonomischer Optionen nehmen; wo der transnationale und darüberhinaus verborgene Charakter des Finanzkapitalismus die Finanzierung der Sozialausgaben durch einen bedeutenden Einschnitt in die Profite verbietet - in einem solchen Zusammenhang sieht man nicht, wie sich ein Kompromiß entwickeln könnte.
Und dennoch ist nichts geregelt. Die Umgestaltung der Vorruhestandsregelungen, der Planvertrag Staat-SNCF, die Privatisierung von France Télécom sind nur aufgeschoben. Allgemeiner gesagt werden die Probleme der Defizite der Verkehrsbetriebe, des öffentlichen Defizits, der kommenden Privatisierungen Quellen zukünftiger Spannungen sein. Die Lohnfrage droht übrigens mit den ersten zusätzlichen Abstrichen wiederaufzuflackern.
Keine Perspektive für politischen Wechsel mehr. Die Politiker können wechseln, sie behandeln dieselben Probleme mit derselben Logik. Nur die Methoden ändern sich. Die Methode der Handhabung der Konflikte: Spaltung, Tiefschlag oder eiserne Hand.
Es ist gut möglich, daß diese Bewegung die Eröffnung einer Zeit der Erneuerung der Kampfbereitschaft markiert. Für viele Jugendliche sind diese drei Dezemberwochen die erste große Kampferfahrung. Für alle ist dies der erste große branchenübergreifende Streik und die erste große Bewegung seit zwanzig Jahren. Die Lust am kollektiven Kampf, an der öffentdlichen Äußerung der Revolte, das wiedergefundene Zusammenleben sind Motivationen, deren Kraft man nicht unterschätzen darf. Und die branchenübergreifenden Kontakte haben autonome Netze entstehen lassen, die nur danach verlangen, wieder aufgespannt zu werden.
Es bleibt die Frage, ob die Abwesenheit des Privatsektors im Kampf, die ihn von der Ansteckung durch den Protest abgehalten hat, nicht den Bruch zwischen privatem und öffentlichem Sektor in Bezug auf die Kampfkraft verstärken wird, ein Bruch, der bereits seit mehreren Jahren sichtbar war.
Es bleibt die Frage, ob es den kritischen Fähigkeiten, die diese Bewegung geäußert hat, gelingen wird, die nationalistischen, »identitätssuchenden«, sogar rassistischen Abwege, die einige wiederbeleben wollen [19], in Schach zu halten.
Es bleibt schließlich die Frage, wie die Entwicklung der Kämpfe in Europa sein wird. Denn heute mehr denn je kann sich keine dauerhafte Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen auf nationaler Ebene abspielen.
Paris, Ende Dezember 1995
Fußnoten:
[1] Während die Studentenzahlen wegen einer Politik, welche die Verlängerung des Studiums fördert, ständig steigen, wurde das Hochschulbudget seit 1993 nicht mehr erhöht. Bestimmte Universitäten, besonders die jüngsten, wie Rouen, sind so mittellos, daß sie nicht mehr funktionieren.
[2] Le Monde, 21. Dezember 1995.
[3] In den Öffentliche Dienst einzutreten, heißt, zu akzeptieren, daß man sich in den Dienst des »öffentlichen Wohles« stellt, für einen Lohn, der oft niedriger ist als entsprechend im privaten Bereich, aber mit einem geschützten Statut zum Ausgleich: Beschäftigungsgarantie und besondere Vorteile je nach Beruf, darunter für einige die Möglichkeit zur Frühverrentung. Es stimmt, daß seit zehn Jahren die massive Arbeitslosigkeit und die Senkung der Löhne im privaten Sektor dazu beigetragen haben, den Öffentlichen Dienst extrem attraktiv zu machen, aber es ist nicht sicher, daß die älteren Lohnabhängigen des Öffentlichen Dienstes das Ausmaß dieses Phänomens kennen. Dagegen ist der massive Rückgriff auf prekäre Beschäftigungen von Seiten der Verwaltungen in den letzten Jahren - und dies an der Grenze der Legalität - eine unbestrittene Quelle der Unzufriedenheit geworden.
[4] Siehe dazu den Artikel »Syndicalisme français: quel genre de crise?«, in Cahiers du Cercle Berneri Nr. 3 (deutsch: »Die französischen Gewerkschaften: welche Krise?«, im Wildcat-Wandlitz-Reader Nr.1/1991.
[5] Die Verwaltungen hatten ziemlich oft die Tendenz, zu verhindern, daß die Zahl der Streikenden registriert wurde. Deshalb sind alle veröffentlichten Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Übrigens merken wir an, daß es immer nur Prozentzahlen gibt, niemals absolute Zahlen der Streikenden.
[6] In Paris hat das Rathaus tatsächlich die Initiative ergriffen und die Strafmandate ausgesetzt, um die Verschlimmerung der Situation angesichts des Auto-Chaos zu verhindern.
[7] Gewerkschaftsangaben.
[8] Nur der traditionell konservative äußerste Osten und der äußerste Norden (»durch soviele verlorene soziale Kämpfe gebrochen?«) sind von dieser Flutwelle verschont geblieben.
[9] Nachdem Juppé nach den ersten Protesten angekündigt hatte, daß er erst zurücktreten würde, wenn zwei Millionen Menschen auf die Straße gingen, hat man angefangen von »Juppéthon« zu sprechen: nach dem Bild von »Téléthon«, einer Fernsehsendung, wo das Überbieten von Spenden zugunsten der medizinischen Forschung organisiert wird, bestand das Spiel darin, die Anzahl der Demonstranten von Demo zu Demo zu steigern.
[10] Marseille, die Stadt, wo die Demonstrationen am beeindruckendsten waren, hat 20 Prozent Arbeitslose. »Die Ausgeschlossenen demonstrieren mit den Geschützten in einer Art protesthaften und momentanen Verkleinerung der berühmten sozialen Spaltung«. Le Monde, 14.12.95).
[11] Am Freitag, dem 1. Dezember, gelingt es den kommunistischen, trotzkistischen, anarchistischen und autonomen Aktivisten, die an die Techniken von Abstimmungen und Gegenabstimmungen gewöhnt sind, inmitten der stürmischen und unendlichen Debatten, die nach und nach die Delegierten aus der Provinz entmutigten, den Kern der Delegation zu bilden, die die Verhandlungen auf nationaler Ebene führen soll.
[12] Am Abend des 30. November muß die nationale Koordination, die sich nach der einheitlichen Demo in Jussieu versammelt hat, fliehen, um Zusammenstößen mit der Polizei aus dem Weg zu gehen, auf die eine Plünderung der Cafeteria und der Buchhandlung folgen. Diese Zusammenstöße wurden provoziert von einer Gruppe von Studenten und Gleichgesinnten, die sich, nachdem sie einige Tage vorher vom Ordnungsdienst aus der vorhergehenden Versammlung der Koordination rausgeworfen worden waren, nach der Demo versammelt hatten und in einem Demozug nach Jussieu marschiert waren unter der Parole: »Die einzige Lösung ist die Revolution«. Es endet damit, daß sich mitten in den Zusammenstößen eine andere Versammlung zusammenfindet, die von CARGO (Collectif d'agitation pour un revenu garanti optimal; Gruppe, die sich für ein ausreichendes Mindesteinkommen für alle einsetzt) organisiert wurde, und wo Eisenbahner und Arbeitslose teilnahmen. Daher, so scheint es, ein freier und glücklicher Meinungsaustausch.
[13] An diesem Abend beginnen alle Fernseh- und Radionachrichten mit zehnminütigen Glückwünschen wegen der Freilassung der französischen Piloten, die in Bosnien gefangen waren. Die Demonstrationen werden danach in zwei Minuten abgehandelt. Das ist die offenkundigste Veranschaulichung der totalitären Haltung der Medien, die während der ganzen Bewegung das Spiel der Regierung gespielt haben: die Aufmerksamkeit von der sozialen Bewegung ablenken, volles Licht auf den Appell von Cotonou beim Gipfel der Frankophonen, auf die Unterzeichnung des Friedensabkommens in Jugoslawien... Nicht erstaunlich also, daß die Streikenden und Demonstranten die Medien als Gegner begriffen haben (mehrmals wurden Kameraleute des Fernsehens angegriffen).
[14] In allen großen Pariser Demos führten die Eisenbahner spektakulär den Demozug an und erhielten unterwegs viel Beifall.
[15] Es war vor allem in der Provinz, wo man Formen offensiver direkter Aktion erwähnen kann, über die von der nationalen Presse nur sehr spärlich berichtet wurde. Hier ist das, was ich berichten kann: die Elektriker der EDF haben an verschiedenen Orten für alle Verbraucher automatisch den Nachttarif eingestellt und hier und da den Strom wieder angestellt, der zahlungsunfähigen Familien gesperrt worden war. Eingänge von Rathäusern oder Häusern von Deputierten wurden zugemauert, Landebahnen blockiert; Stadtzentren wurden mittels Autobussen blockiert, besonders auf dem Höhepunkt der Streiks (6.-7. Dezember), aber an bestimmten Orten auch, als die Wiederaufnahme der Arbeit begann.
[16] Zur Veranschaulichung hier die Äußerungen eines Delegierten der FO am Bahnhof St.-Lazare, wiedergegeben von einem Journalisten von Le Monde (18.12.95): »Ich bin davon überzeugt, daß die Gewerkschaftsführungen von CGT und FO niemals bis zum Generalstreik gehen wollten. Viannet und Blondel scheißen sich in die Hose beim Gedanken daran. Die Bewegung ist zu spontan, zu autonom. Wir haben dies ja vor Ort gesehen. Sie haben wie verrückt gebremst, um zu verhindern, daß wir Streikkomitees in jedem Viertel organisieren.«
[17] Ein Begriff, der von Le Monde diplomatique verbreitet wurde und in der Bewegung einen außerordentlichen Erfolg hatte.
[18] Um praktikabel zu sein, setzt die Besteuerung der Finanzeinkommen angesichts der Internationalisierung des Finanzmarktes und des verborgenen Charakters der finanziellen Transaktionen mindestens eine Kontrolle von Seiten der Arbeiter der Banken voraus - eine Frage, die sich die Gewerkschaften wohl hüten, aufzuwerfen.
[19] Die Front National fühlte sich von dieser Streikbewegung stark in Verlegenheit gebracht, die, wie ihre eigene Wochenzeitschrift schreibt, »die politische Debatte von der nationalen Ebene, wo die Front National unschlagbar war, auf eine sogenannte soziale Ebene verlagert hat«. Als Anhängerin der Zerschlagung des Systems sozialer Sicherheit und der Renten zugunsten von Systemen individueller Versicherung hat sie sich dennoch gegen den Juppé-Plan, aber... gegen die Gewerkschaften und gegen die Streiks ausgesprochen.