Wildcat-Zirkular Nr. 24 - Februar 1996 - S. 47-52 [z24mouve.htm]


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Streiks, Besetzungen, Demos, Krawalle:

Ausschnitte aus der Bewegung in Frankreich von September 1995 bis Januar 1996

zusammengefaßt aus »Dans le Monde une classe en lutte« [ »Dans le monde une classe en lutte« ist eine vier- bis achtseitige Chronologie zum weltweiten Klassenkampf, die seit einem Jahr regelmäßig vom internationalen Netz »Échanges et mouvement« herausgegeben wird. Erhältlich gegen die Zusendung von frankierten Umschlägen an: BP 241, 75866 Paris Cedex 18, France.]

5.9.95Zahlreiche lokale Kämpfe zu Schulbeginn: am 5.9. der Erziehungsberater, Aufsichtspersonen und vom 5.-8.9. aller Lehrer in Lille; am
6.9.95Demonstration der Hilfslehrer an den Grundschulen (10.000-15.000 nicht wiedereingestellte Hilfslehrer); 20 von 44 Schulen in Montreuil im Streik gegen die Schließung von 11 Klassen.
7.9.95Nach 5 Tagen Besetzung des Hauptpostamts in St.Nazaire gegen die Streichung von 13 Stellen und einer Rechtsbelehrung über die Behinderung der »Freiheit der Arbeit« nehmen die Postler die Arbeit wieder auf, während sich Diskussionen eröffnen. Dutzende derartiger Streiks, manchmal von mehreren Wochen, oft mit Besetzungen haben in den vergangenen zwei oder drei Jahren den Basiswiderstand gegen einen Plan zur Umstrukturierung der Post gekennzeichnet - einem globalen Plan, der lokal umgesetzt wurde, um einen globalen Widerstand zu verhindern.
6.10.95Vorlesungsbeginn. Die Studenten der Fakultäten von Rouen im Streik für mehr Mittel und zusätzliche Stellen.
16.10.951000 Studenten blockieren den Eisenbahnverkehr in Rouen und in den folgenden Tagen die Verkehrsknotenpunkte, öffnen die Zahlstellen auf der Autobahn, besetzen die Büros der Universitätsleitungen. Sie schließen sich weder Gewerkschaften noch Gruppen an, sondern bilden ein Kampfkomitee.
25.10.95200 Studenten besetzen im Handstreich das Rektorat und verbarrikadieren sich darin, während 600 Studenten die Bullen anderswo in den Straßen beschäftigen. Sie werden nachts gewaltsam von den Bullen geräumt: mehr als 1000 Studenten demonstrieren.
 500 Studenten und Lehrkräfte der Mathematikfakultät der Universität von Toulouse beenden die Besetzung ihres Gebäudes, nachdem sie die Bezahlung der Überstunden erreicht haben, die für die Fortführung der Kurse notwendig sind.
30.10.95Rouen: direktes Gespräch zwischen dem Vermittler der Regierung und Basisdelegierten (die durch eine permanente Vollversammlung kontrolliert werden). Der Vermittler gesteht schließlich 6 Mio. FF zu, von denen 3 unmittelbar ausgezahlt werden. Der Streik geht weiter.
2.11.95Rouen: aus Angst vor einer Ausweitung der studentischen Forderungen (Erinnerung an die Explosion 1986 und die Bewegung gegen den Mindestlohn 1994) bietet der Vermittler 9 Mio. FF, davon 6 Mio. für 1995 und die Schaffung von 238 Stellen an. Ende von drei Wochen Streik.
Aber der Brand weitet sich aus: in der folgenden Woche fordern die Studenten von mehr als 10 Universitäten das gleiche. Die Bewegung wird in der Provinz wichtiger als in Paris, weil die Universitäten dort viel schlechter ausgerüstet sind. Ein nach Metz geschickter Vermittler wird von Studenten eingesperrt.
9.11.95Die Studentenbewegung weitet sich aus: 30-40.000 Demonstranten in ganz Frankreich, aber wenige in Paris.
14.11.95Die Streiks an den Universitäten weiten sich aus.
 Aus Protest gegen eine Reorganisation der Postämter laden die Einwohner von Créances (Manche) drei Tonnen Karotten auf dem Zufahrtsweg zum Sortierzentrum ab und blockieren die Post-LKWs.
21.11.95»Professoren! Kohle! Von den überfüllten Seminaren haben wir die Schnauze voll!« Mehr als 100.000 Studenten und Schüler demonstrieren nach einem Aufruf der Studentenkoordination. Die in Paris schwache Aktion nimmt in der Provinz radikalere Züge an: mit Besetzungen in Rouen, Montpellier, Pau, einem unbefristeten Streik in Limoges, Rennes, Tours (wo man sich weigert, mit dem Vermittler zu reden) und Toulouse (25.000 Studenten auf der Straße).
24.11.95Der Flugverkehr in Orly wird beträchtlich behindert durch die Besetzung der Landebahnen durch die Arbeiter der Instandhaltung von Air-France, die nach zwei Stunden von den Bullen geräumt werden. Die französischen Fähren von Sealink in Calais werden durch einen Streik der Seeleute gegen die Zunahme der Arbeitsbelastung lahmgelegt. 70 Prozent der 7000 städtischen Beschäftigten von Toulouse im Streik, darunter die Müllabfuhr. Das Sortierzentrum von Caen wird von den Postlern besetzt und unter Mithilfe der Eisenbahner die Zufahrtswege blockiert; ebenso wird das Sortierzentrum von St.Brieuc unter Beteiligung von Eisenbahnern und Beschäftigten der E-Werke besetzt. Die Postler des Sortierzentrums von Grenoble beschließen den unbefristeten Streik.
26.11.95Der Direktor von Elf Atochem de Mont (Pyrénées Atlantiques), einer Filiale von Elf Aquitaine wird eine ganze Nacht von 450 streikenden Arbeitern eingesperrt, die seit dem 10.11. mehr Lohn fordern.
27.11.95Die Eisenbahnen in ganz Frankreich sind praktisch lahmgelegt. In den besetzten Gebäuden werden Vollversammlungen abgehalten und Streikposten versuchen, die wenigen Züge zu blockieren, die noch fahren. Der Streik weitet sich auf den Pariser Nahverker (RATP) aus.
29.11.95Unbefristeter Streik in den Sortierzentren von Valence und Clermont-Ferrand. Der Streik in den Sortierzentren von Caen und Sotteville weitet sich auf die gesamte Normandie und auf die Postämter und Giroämter aus.
30.11.95Zusammenstöße in Paris, Nantes und Montpellier. Die Hälfte der Sortierzentren (von 130) ist im Streik. Einsatz der CRS im Gare du Nord von Paris gegen die Eisenbahner, die den EuroStar blockieren.
4.12.95Das Beispiel der Streikenden bei der EDF in Brest, für alle den Strom auf Nachttarif umzustellen, weitet sich auf fast ganz Frankreich aus.
5.12.95247 Demos in ganz Frankreich mit fast einer Mio. Beteiligter. Zusammenstöße in Montpellier, Paris, Nancy, Nantes, wo der Busbahnhof in Brand gesteckt wird. Starke Beteiligung des Privatsektors: RVI, Moulinex, Kodak in Caen, die Hafenarbeiter in Marseille, Streikposten vor den Militärwerften in Toulon, Brest und Cherbourg, die Kranführer in den Häfen von Rouen und Le Havre. Streiks in der Metallindustrie in Loire-Atlantique, la Meuse, le Cher, Ardennen und Rhone, bei Renault in Sandouville bei Le Havre. Besetzung des Gare de Montparnasse (Bahnhof) in Paris.
6.12.95Nach SNCF, RATP, Post, Telecom, Universitäten und Schulen, EDF-GDF weiten sich die Streiks auf den städtischen Nahverkehr aus (Caen, Cherbourg, Limoges, Marseille, Lille, Bordeaux, Grenoble, Lyon), auf die Müllabfuhr von Bordeaux, die Militärwerften von Brest, die Kaliwerke im Elsaß, auf die Krankenhäuser, Fluglotsen und Fährlinien in Marseille.
7.12.95In Freyming-Merlebach (Lothringen) liefern sich 2-3.000 Bergarbeiter der Kohlengruben eine Schlacht mit 400 Bullen: Barrikaden aus brennenden Reifen auf den Kreuzungen, ein Bulldozer gegen die Bullen, der schließlich gegen die Wand eines Polizeireviers prallt, Entführung des Bürgermeistervertreters in einen Schacht, um ein Gespräch mit dem Präfekten durchzusetzen. Zusammenstöße bis spät in die Nacht mit 28 Verletzten.
 Zusammenstöße mit den Bullen in Montpellier und Nantes.
 Da die Spannung weiterhin steigt, was den streng von der Basis kontrollierten Streik nicht schwächt, der anfängt, auf Randbereiche des Privatsektors überzugreifen und sich radikalisiert, beginnen hinter den Kulissen Gespräche, um einen »ehrenwerten Abgang« zu finden; die Regierung lädt die Gewerkschaften zu einer »Arbeitssitzung«.
8.12.95Die Radikalität der Bewegung wird deutlicher: es wird effektiv notwendig einzugreifen. Neue Zusamnmenstöße in Orly zwischen Bullen und Streikenden von Air-France. Einschließung des Direktors und dreier Ingenieure bei Houillières de Gardannes bei Marseille. Zusammenstöße vor den Präfekturen von Montlucon, Nizza, Chateauroux. Besetzung des Rathauses von Avignon. Der Wohnsitz des Abgeordneten von Albi sowie das Büro dessen von Mantes wird zugemauert. Besetzung eines Radiosenders in Limoges.
 In Merlebach von 7 Uhr morgens an: »Man könnte sagen, ein Krieg.« 4.000 Bergarbeiter, ausgerüstet mit Helmen, Schutzbrillen, Gasmasken und bewaffnet mit Axtstielen und Stahlkabeln liefern sich mit 500 Gendarmen und 200 CRS eine Schlacht vor dem Direktionsgebäude. »Dieses Mal sind wir gerüstet für den Kampf Mann gegen Mann.« Die Bergarbeiter werfen Molotow-Cocktails und Knallkörper auf das Gebäude. Mehrere Brandherde brechen in verschiedenen Etagen aus, sofort schlagen Flammen aus den Fenstern, und dicke Rauchschwaden steigen vom obersten Stockwerk auf. Die Feuerwehrfahrzeuge werden von den Demonstranten blockiert und können nicht eingreifen. Die teilweise sehr heftigen Zusammenstöße gehen bis zum Nachmittag weiter: »Das schießt von überall her, man glaubt, in Sarajewo zu sein«, erzählt ein CGT-Aktivist. 50 Verletzte, einer mit durchlöchertem Bein von »all den Schweinereien, die sie in ihre Granaten stecken«. Nachdem die Bullen die Straße besetzt haben, besetzen und stoppen 50 Bergarbeiter ein Heizkraftwerk. In Toulouse halten die Studenten eine permanente Versammlung auf dem Kapitolsplatz ab und machen nächtliche Demos.
9.12.95Es wird Zeit, denn die Anzeichen einer Radikalisierung gehen weiter: Im Gare du Nord von Paris wird das Stellwerk besetzt, der Flughafen von Roissy zwei Stunden durch den Streik der Fluglotsen blockiert, die Flughäfen von Marseille und Montpellier sind geschlosen, die Banque de France ist im Streik, der Hafen von Dieppe wird von Streikenden blockiert, die Fähren in Cherbourg sind lahmgelegt, in Agen wird der Bürgermeister von den Gemeindeangestellten eingesperrt, auf der Autobahn bei Thionville wird Öl auf die Fahrbahn gekippt, anderswo werden die Zahlstellen geöffnet, Sabotage in einem Atomkraftwerk bei Bordeaux...
13.12.95In Rouen blockieren Arbeiter der EDF und Eisenbahner das BusDepot, besetzen das Büro einer Bank, organisieren Straßensperren, schicken Delegierte in alle privaten Betriebe, besetzen das Telecom-Gebäude. Die Bergarbeiter von Gardanne besetzen das Heizkraftwerk. In Caen gibt es Straßensperren, und der Busverkehr ist lahmgelegt.
14.12.95Die Gewerkschaften greifen die schwachen Glieder der Streikzentren an; plötzlich lassen bestimmte Versammlungen keine Externen mehr sprechen, die sich vorher frei äußern konnten. Manchmal geht dies ohne große Probleme einfach durch. Die Gewerkschaften beginnen bereits, lokal die Modalitäten der Lohnabzüge für die Streiktage zu verhandeln.
 Die Bullen räumen die Rheinschleusen in Strasbourg, die von Streikenden der EDF blockiert wurden.
15.12.95SNCF: 20 von 180 Anlagen [sites] und 50 von 140 Betrieben [etablissements] stimmen für die Wiederaufnahme der Arbeit. Einige Züge fahren wieder, auch bei der Pariser Metro.
 40 von 135 Postverteilzentren sind immer noch besetzt und lahmgelegt, während alle anderen mehr oder weniger vom Streik betroffen sind. Bei der EDF-GDF sind die Hälfte aller Kraftwerke, E-Werke und Gaswerke noch im Streik, lokale Stromsperren z.B. in Mulhouse.
17.12.95Die Wiederaufnahme der Arbeit ist besonders schwierig bei der SNCF durchzusetzen: Räumung des besetzten Stellwerkes im Gare du Nord. Die Versammlung der Kontrolleure im Gare d'Austerlitz sperrt einen Direktor ein, um die Festanstellung der Zeitverträgler zu erreichen. Im gesamten Süden wird weiter gestreikt.
18.12.95Die Hälfte der Kraftwerke ist weiterhin im Streik. In Mulhouse halten die Streikenden die Besetzung des Kraftwerks von Ilzach und das wilde Stromabschalten aufrecht, was das ganze Elsaß betrifft. In Grenoble und Annecy kündigen die EDF-Beschäftigten »illegale Aktionen« an. In Toulouse auch wilde »rotierende« Stromsperren. Die Streikenden verteilen sich ins Umland und unterbrechen die Stromzufuhr zu den Umspannwerken.
19.12.95Der Eisenbahnverkehr ist im Roussillon und Languedoc noch lahmgelegt. Der städtische Nahverkehr ist in Marseille, Bordeaux und Limoges noch blockiert. In St.Etienne eskaliert der vierwöchige Streik der städtischen Angestellten nach einem Polizeieinsatz gegen die Streikposten. Sie fordern die Einstellung von 200 Beschäftigten, die Festeinstellung Hunderter von Prekären und die 35-Stundenwoche.
 In Marseille ist die Situation so explosiv, daß sich ein Gericht weigert, die Räumung des besetzten Sortierzentrums anzuordnen, wie es die Postdirektion verlangt.
21.12.95Bei der SNCF geht der Zugverkehr langsam wieder los; in Marseille und Toulouse ist der Nahverkehr weiterhin lahmgelegt.
 In den Postverteilzentren von Bordeaux, Toulouse und Lille wird der (bereits beendete) Streik wiederaufgenommen wegen der Lohnabzüge für die Streiktage, In Chambéry, Caen, Sotteville und Ajaccio geht der Streik weiter für die Festanstellung der Prekären.
27.12.95In Marseille polarisiert sich auf lokaler Ebene eine Forderung, die sowohl im Öffentlichen Dienst als auch im Privatsektor der Motor hätte sein können: Bus und Metro werden bestreikt, um den dualen Status Alte - Neueingestellte abzuschaffen. Die Neueingestellten verdienen für die gleiche Arbeit 600-1000 ff monatlich weniger. Die gleichen Forderungen tauchen in Caen auf.
29.12.95Die Streikenden, die seit 26 Tagen das E-Werk von Martigues (bei Marseille) besetzt hatten, beenden die Besetzung, nachdem ihnen die Einstellung von 10 Arbeitern und eine zeitliche Entzerrung der Lohnabzüge für die Streiktage zugesagt wurde; sie streiken weiter bis zum Ende der Verhandlungen.
2.1.96Hier und da Wiederaufnahme von Streiks wegen der Lohnabzüge. Wiederaufnahme der Arbeit im Postverteilzentrum von Caen nach 32 Tagen Streik nach der Festeinstellung von 15 Prekären und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen.
4.1.96Besetzung des Sortierzentrums in Limoges, die nach einem Tag mit einem Kompromiß bezüglich der Lohnabzüge und neuer Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen beendet wird.
 Die EDF-Beschäftigten der Gironde beschließen vierstündige »gezielte« Stromabschaltungen, obwohl der Streik bereits am 21.Dezember beendet wurde. Seit 32 Tagen stören die streikenden Fahrer der Post-LKWs ernsthaft die Postverteilung, die durch private Dienste ersetzt wurde. Sie verlassen ihr seit dem 14.12. besetztes Gebäude nach der Festeinstellung von 4 Hilfskräften, aber der Streik geht weiter für die Bezahlung der Streiktage.
6.1.96Die Widerspenstigen von Marseille, die nicht durch Verhandlungen zum Parieren gebracht werden können, werden von den Bullen aus den Bus- und Metro-Depots geräumt. Sie weichen trotzdem nicht und machen verschiedene Aktionen in der ganzen Stadt: schließlich erreichen sie die Vereinheitlichung der Vergütungen und die Abschaffung des dualen Einstellungssystems.
12.1.96Hungerstreik von 3 Arbeitern des Sortierzentrums in Marseille gegen die Lohnabzüge. Sie werden am 14.1. geräumt. Am Abend wird das Sortierzentrum von der Direktion für Verhandlungen geschlossen. Nach der Wiedereröffnung am nächsten Tag treten die 1000 Beschäftigten wieder in den Streik.
 Streikende des E-Werkes von Marseille setzen alle Verbraucher auf den niedrigsten Tarif, um die Rücknahme von Sanktionen gegen 4 Kollegen wegen des Streiks und die Eröffnung von Verhandlungen über den Personalbestand und die Qualifikationen zu erreichen: die Streikenden blockieren den Eingang zum Rathaus und entfernen alle Telefone aus den EDF-Büros.
15.1.9660 Prozent der Arbeiter des E-Werkes von Toulouse kämpfen noch für die Rücknahme des Sécu-Plans und gegen die Privatisierung.

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