Kapital, Krise und internationales Staatensystem
Peter Burnham (in: Bonefeld / Holloway (Hrsg.): Global Capital, National State and the Politics of Money, 1995, Kapitel 5)
Einleitung
Ende 1993 wurden zwei Abkommen unter Dach und Fach gebracht, die von den Liberalen als neue und stabile Grundlage für die Weltwirtschaft gefeiert wurden. Die Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) durch die USA im November wurde noch übertroffen vom Abschluß der formell im September 1986 eingeläuteten Uruguay-Runde durch den Generaldirektor des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) im Dezember 1993. Begleitet vom Knallen der Champagnerkorken verkündete die Financial Times, die Abkommen gäben »der Weltwirtschaft ein festes Fundament, der Konkurrenz neuen Anreiz und denjenigen Entwicklungsländern und ehemaligen kommunistischen Ländern, die sich dem internationalen Handel öffnen, neue Hoffnung«. [1] Schon Anfang 1994 ließen der zapatistische Aufstand in Chiapas (siehe Kapitel 7 und Cleaver 1994) und die Spannungen in Europa wegen der hartnäckigen Wirtschaftsflaute und der Streitigkeiten über die Ausweitung der Europäischen Union diesen liberalen Triumphalismus etwas verfrüht aussehen.
Zwar wird allgemein hervorgehoben, die re-regulierten Finanz- und Warenmärkte des heutigen Kapitalismus hätten die Macht des international mobilen Kapitals verstärkt, aber was diese Verschiebung für die Nationalstaaten bedeutet, ist nicht so klar. Die »gesellschaftlichen Kosten« der »Strukturanpassung« der Ökonomien durch die Liberalisierung des Handels werden wahrscheinlich dazu führen, daß sich der Klassenkonflikt innerhalb der Staaten verstärkt und sich gleichzeitig die Steuerkrise verschärft und der internationale Schuldenberg weiter anwächst. Dieses Kapitel soll von Marx ausgehend einen Rahmen liefern, um zu verstehen, wie sich die Krise des heutigen Kapitalismus als Krise der nationalen Form des Staats niederschlägt. Damit soll es zur Überwindung einer Schwäche in der marxistischen Staatstheorie beitragen, die meist nicht über eine Theorie der zwischenstaatlichen Beziehungen hinausgeht.
1969 stieß Ralph Miliband die Staatsdebatte unter westlichen Linksradikalen wieder an, indem er auf das Paradox hinwies, daß jede politische Analyse auf einer »Theorie des Staates« beruht, aber der Staat selbst als Gegenstand der politischen Untersuchung lange vernachlässigt worden war. [2] Milibands Darstellung des kapitalistischen Wesens des Staates ist zwar schon lange überwunden, aber nach wie vor konzentrieren sich die meisten marxistischen Darstellungen wie er auf den kapitalistischen Staat (im Singular) statt auf die Vielheit der Staaten, aus der das internationale Staatensystem besteht. Außer von Braunmühl (1978) und Barker (1978/91) scheint so gut wie niemand dieses Defizit bemerkt zu haben, und bei einer Durchsicht der marxistischen Literatur könnte man leicht den Eindruck gewinnen, daß es im Kapitalismus nur einen einzigen Staat gibt. Dieses Kapitel geht davon aus, daß sich die gegenwärtigen Entwicklungen in der weltweiten politischen Ökonomie nicht ohne eine materialistische Analyse des zwischenstaatlichen Systems verstehen lassen.
Der erste Teil dieses Kapitels zeigt, wie wichtig Marx' dialektische Methode ist, um das Verhältnis zwischen Klasse und Staat zu verstehen. Marx faßt den Staat als die konzentrierte und organisierte Gewalt in Klassengesellschaften auf, die die Volksmassen kontrolliert und unterwirft - die organisierte Gewalt ihrer Unterdrückung (Marx 1871, S. 336). Anders als Weber, der den Begriff der Herrschaft verdinglicht und »das Politische« daher als eigenständige Form des Handelns sieht, die sich hinsichtlich der Zwecke und Mittel immer und überall vom »wirtschaftlichen Handeln« unterscheiden lasse, versteht Marx das »Moment des Zwangs« und das »Moment der Aneignung« aber als Glieder einer Totalität, Unterschiede innerhalb einer Einheit - wie es bei jedem organischen Ganzen der Fall ist (Marx 1857, S. 33). Dialektisch gesehen ist der Staat daher nicht selbständig oder einfach auf »die Wirtschaft« bezogen. Vielmehr ist er ein integraler Aspekt einer Reihe von gesellschaftlichen Beziehungen, deren Gesamtform durch die Art und Weise bestimmt ist, wie die Abpressung des Mehrprodukts vom unmittelbaren Produzenten gesichert wird. [3] So verstanden läßt sich die historische Besonderheit der jeweiligen Staatsformen (antik, feudal, kapitalistisch) analysieren, die sich aus der gesellschaftlichen Organisation der Produktion in Klassengesellschaften ergeben.
Ausgehend von der »Formanalyse« [4] läßt sich der kapitalistische Staat als historisch spezifischer Niederschlag des »Politischen« im Kapitalismus verstehen. Die Absonderung des Staates (d.h. seine institutionelle Trennung vom unmittelbaren Produktionsprozeß) ist ein wesentliches Bestimmungsmerkmal seiner kapitalistischen Form. Aber die Besonderheit der kapitalistischen Staatsform läßt sich nur verstehen, wenn der Klassencharakter des kapitalistischen Staates im Zusammenhang mit der historischen Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft [civil society] betrachtet wird, die mit der Auflösung der feudalen gesellschaftlichen Verhältnisse allmählich erreicht wird.
Der dritte Teil des Kapitels gibt eine systematische Darstellung der Nationalstaaten, aus denen das internationale System besteht. Erst dann (ausgehend von einer vorhergehenden Analyse der Staatsformen) läßt sich sinnvoll über besondere Nationalstaaten und ihre unterschiedliche historische Entwicklung diskutieren. Hier zeigt sich deutlich die Schwäche eines Großteils der Staatstheorie. Es ist wichtig, sich von Untersuchungen zu lösen, die das Weltsystem als Ansammlung von getrennten Einheiten betrachten. [5] Von Braunmühl (1978, S. 162) hat klar gezeigt, wo der Fehler bei solchen Untersuchungen liegt: Sie argumentiert überzeugend, daß das internationale System nicht die Summe vieler Staaten darstellt, sondern im Gegenteil aus vielen Staaten besteht. Außerdem durchdringt die zweifache Bestimmung des Staates (gegenüber »seinen Bürgern« und dem internationalen System) permanent alle Aspekte staatlicher Politik und staatlichen Handelns (Barker 1978/1991, S. 207). Daher müssen theoretisch geleitete empirische Analysen einzelner Nationalstaaten vom Weltmarkt ausgehen - einem einzigen System, in dem die staatliche Macht bei verschiedenen territorialen Gebilden liegt. In diesem Teil werde ich eines der wichtigsten, aber zugleich theoretisch am wenigsten beleuchteten Spannungsverhältnisse des Spätkapitalismus skizzieren: das Spannungsverhältnis zwischen der gegenwärtigen nationalen politischen Konstitution des Staates und dem globalen Charakter der Akkumulation.
Davon ausgehend wird der letzte Teil des Kapitels zeigen, wie sich die Überakkumulationskrisen des Nachkriegskapitalismus in der Beziehung zwischen Nationalstaat und Weltökonomie manifestieren. Vom Nachkriegsarrangement bis zu den multilateralen Handelsgesprächen und dem Prozeß der finanziellen Re-regulierung kämpfen die Nationalstaaten seit 1945 darum, die Folgen dieser Spannung zwischen Nationalem und Globalem zu vermitteln. Statt mich auf realistische Debatten zu konzentrieren, in denen es in erster Linie um den Verlust der staatlichen Souveränität geht, werde ich zu der Schlußfolgerung kommen, daß eine marxistische Analyse anfangen muß, »internationale Beziehungen« als nationale Verarbeitung der globalen Klassenbeziehungen zu verstehen. [6] Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital produziert an allen Punkten im Akkumulationskreislauf Krisensituationen, die von der globalen Konkurrenz verschärft werden (siehe Kapitel 4 in diesem Band). Solche Krisen zeigen sich auf der Ebene des Staates als nationale Krise in Form von Zahlungsbilanzschwierigkeiten, Steuerkrise, niedriger Produktivität, politischer Überlastung usw.. Wegen der widersprüchlichen Grundlage der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse ist die Krise notwendigerweise endemisch und sorgt für ständigen Wandel im ganzen Weltsystem. Die Nationalstaaten - als politische Form der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse - sind nicht einfach von »ökonomischen Trends« oder von der »Globalisierung« betroffen, sondern vielmehr ein Teil dieser Krise des gesellschaftlichen Ganzen. Als Reaktion auf die jüngste und tiefste Krise des Nachkriegs-Weltkapitalismus stellen wir bisher nicht das Aussterben des Nationalstaat fest, sondern den konzertierten und paradoxen Versuch, die nationale Form des Politischen durch Maßnahmen zu erhalten, die auf die Regionalisierung des Weltmarkts abzielen. Trotzdem läßt die Europäische Union in vieler Hinsicht vermuten, daß die nationalstaatlichen Beziehungen auf eine neue Grundlage in einem sich langsam herausbildenden System regionaler politischer Koordinierung gestellt werden. Das bedeutet ein neues Intensitäts- und Instabilitätsniveau in der seit dem Ende der keynesianischen »Herrschaftsweise« in Westeuropa vor sich gehenden Neuordnung der Klassenbeziehungen, denn die Art und Weise, wie der globale politische Rahmen neugestaltet wird, erhält das »reale Freimaurertum« der kapitalistischen Klasse gegenüber der Arbeiterklasse als ganzer aufrecht. Kurz gesagt erleben wir die Umstrukturierung der zwischen den Nationalstaaten bestehenden Beziehungen von Konflikt und Zusammenarbeit. Die auf der ganzen Welt zu beobachtenden Regionalisierungsschübe (Europäische Union, NAFTA, APEC) mildern die Spannungen zwischen den Nationalstaaten und der Weltwirtschaft, da sich die Krise des Klassenverhältnisses gleichzeitig als Krise des internationalen Staatensystems ausdrückt.
Marx, Methode und »politische Herrschaft«
Die meisten »marxistischen« Herangehensweisen an den Staat lassen sich einer von zwei Positionen zuordnen. Entweder wird behauptet, daß der Staat kapitalistisch ist, weil die wirtschaftlich herrschende Klasse auch politisch herrscht, oder der Staat wird als aus der Strukturlogik des Kapitals geweissagter Deus ex machina interpretiert. Während die erste Position einfach ein radikal klingender Pluralismus ist, ist die zweite ein genauso unhaltbarer marxifizierter Parson'scher Strukturfunktionalismus. [7] Die Defizite dieser Ansätze lassen sich nicht einfach dadurch beheben, daß man meint, die Argumente ergänzten sich gegenseitig. [8] Beide sind falsch, denn implizit sanktionieren sie ein Basis-Überbau-Modell des Kapitalismus, diffamieren die Vorstellung vom Kampf als von außen kommende Variable und sind im großen und ganzen ahistorisch. Der Hauptfehler dieser Ansätze aber ist, daß sie die Irrtümer der orthodoxen Politikwissenschaft übernehmen, die von den entfremdeten Erscheinungsformen der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse ausgeht, ohne dem »inneren Zusammenhang« nachzugehen, wie Marx es nannte. [9] Um zu verstehen, was diese Kritik für die Staatsdebatte bedeutet, müssen wir zeigen, inwiefern der Begriff des »inneren Zusammenhangs« zentral für jede dialektische Methode ist. [10]
Wie Marx in den Grundrissen umreißt, liegt der Irrtum der positivistischen Orthodoxie darin, daß sie äußere Erscheinungen lediglich in eine äußerliche Beziehung miteinander stellt. »Die Roheit und Begriffslosigkeit liegt eben darin, das organisch Zusammengehörige zufällig aufeinander zu beziehen, in einen bloßen Reflexionszusammenhang zu bringen« (1857, S. 23). Anders als nicht-dialektische Forschungen, die mit einer isolierten Einheit anfangen und versuchen, das Ganze zu rekonstruieren, indem sie äußerliche Verbindungen herstellen, fangen dialektische Forschungen beim Ganzen an und suchen dann nach der wesentlichen Abstraktion, die gesellschaftliche Erscheinungen als untereinander verbundene, komplexe Formen konstituiert, die voneinander verschieden, aber ineinander vereinigt sind (Bonefeld 1993, S. 21; Ollman 1993, S. 12-17). Die Begriffe der Äußerlichkeit und der Struktur werden durch die dialektischen Kategorien des Prozesses und der widersprüchlichen inneren Beziehung ersetzt. [11] Während nicht-dialektische Methoden die gesellschaftliche Welt unterteilen und die zufälligen Beziehungen äußerer Erscheinungen analysieren, geht Marx davon aus, daß gesellschaftliche Beziehungen verschiedene Formen annehmen und damit eine differenzierte, widersprüchliche Einheit schaffen. Statt die Form im Sinne von Spezies zu verstehen (als Form von etwas hinter der Erscheinung verborgenen Grundsätzlicherem), stellt sich für Marx die Form als Existenzweise dar - als etwas, das nur in und durch die Form existiert, die es annimmt (siehe Bonefeld et al. 1992, S. XV). Daher existieren verschiedene Erscheinungen wie der Staat und die Ökonomie nicht als äußerlich verbundene Gebilde, sondern als Momente des Klassenverhältnisses, das sie konstituiert (Bonefeld 1992, S. 100). Wenn man davon ausgeht, daß die Klassenbeziehungen den politischen, ökonomischen und ideologischen Formen, die diese Beziehungen annehmen, analytisch vorausgehen (obwohl die Klassenbeziehungen nicht unabhängig von diesen Formen existieren), läßt sich mit einer marxistischen Analyse die Komplexität der Beziehungen zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen und die Verbindung zwischen beiden als komplementären Formen des zugrundliegenden Klassenverhältnisses begrifflich fassen, ohne die Theorie zugunsten eines pragmatischen Pluralismus aufzugeben (Clarke 1978, S. 42).
Dieser Ansatz verdeutlicht, worin der Fortschritt von Marx gegenüber den klassischen politischen Ökonomen liegt, die die bürgerliche Form der gesellschaftlichen Produktion mit ewigen, natürlichen Produktionsverhältnissen verwechselten und insofern nicht die Besonderheit der Wertform und folglich der Warenform, der Geldform und der Kapitalform erkannten. Die klassischen Autoren tun so, als würde die Produktion von ewigen, von der Geschichte unabhängigen Naturgesetzen beherrscht, »bei welcher Gelegenheit dann ganz unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto untergeschoben werden. Dies ist der mehr oder weniger bewußte Zweck des ganzen Verfahrens« (Marx 1857, S. 22). Diese Betonung der »Formanalyse« ist nicht nur wichtig, weil sie uns für die Flüssigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen sensibilisiert, sondern grundsätzlicher auch, weil sie mit der alten Unterscheidung zwischen Wesen und Schein bricht und uns nahelegt, die Formen an und für sich zu entschlüsseln. Ein Großteil der Verwirrung in Diskussionen des Staats stammt daher, daß die orthodoxe Politikwissenschaft nicht in der Lage ist, eine »Formanalyse« zu entwickeln. [12] Genausowenig können wir uns den Nationalstaat weiter als unwandelbar vorstellen, wie es Lenin tat. Vielmehr müssen wir von der sich verändernden Natur der Staatsform als Existenzweise der Klassenbeziehungen ausgehen.
Um die dialektische Methode auf die Untersuchung des Staates anzuwenden, müssen wir zunächst auf einer sehr allgemeinen Ebene die Beziehung zwischen Arbeit und politischer Herrschaft genauer bestimmen. Marx betont, daß sich die einzelnen gesellschaftlichen Formationen nicht so sehr darin unterscheiden, wie das Gros der Produktionsarbeit geleistet wird, sondern darin, wie die herrschenden besitzenden Klassen, die die Produktionsbedingungen kontrollieren, die Abpressung des Mehrprodukts sicherstellen, auf der ihre herrschende Stellung beruht (de Ste Croix 1981, S. 52). Marx hat diesen Punkt am klarsten im dritten Band des Kapital ausgeführt:
»Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten (...), worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden.« (Marx 1894, S. 799f.)Der »Staat« - verstanden als »politisch organisierte Unterwerfung« [13], der die Durchsetzung der Herrschaft obliegt und die ermächtigt ist, Gewalt auszuüben, um die die gesellschaftliche Ordnung konstituierenden Beziehungen zu schützen - muß als »Moment des Zwangs« verstanden werden, ohne das keine Klassengesellschaft existieren kann. Im Laufe der Geschichte hat sich die Form dieser Durchsetzung immer wieder radikal verändert. Aber alle bisher existierenden Gesellschaften (die über ein primitives Niveau hinausgehen) haben die Etablierung von politischen Herrschaftsmitteln vorausgesetzt, die weit über Webers Betonung des Anspruchs auf den legitimen Gebrauch körperlicher Gewalt hinausgehen. [14]
Diese allgemeine Analyse der inneren Beziehung zwischen der Organisation der Arbeit und der politischen Herrschaft sagt uns zwar nichts über tatsächliche historische Gesellschaften, aber nichtsdestotrotz stellt sie das Fundament dar, von dem ausgehend wir die Entwicklung der kapitalistischen Form des Staates verstehen können. Bevor wir uns detailliert mit der Besonderheit der modernen Staaten (z.B. dem britischen und dem französischen Staat) beschäftigen, aus denen das internationale System besteht, müssen wir diesen zweiten Schritt machen. Das leistet Marx in seiner klassischen Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie [1843].
Der Klassencharakter der kapitalistischen Form des Staates
Marx stellt den Aufstieg des modernen politischen Staates vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kämpfe dar, die den Sturz der feudalen Eigentums- und Produktionsverhältnisse begleiteten. Trotz seines Hinweises, daß es auch in den feudalen Verhältnissen Monarchen gab, die (auf Eigentum beruhende) Macht ausübten, behauptet er: »Die Abstraktion des Staats als solchen gehört erst der modernen Zeit (...). Die Abstraktion des politischen Staats ist ein modernes Produkt.« (Marx 1843, S. 233). Dieses Argument sollten wir uns genau ansehen.
Für Marx hatte die alte (feudale) bürgerliche Gesellschaft direkt politischen Charakter. Alles, was das bürgerliche Leben ausmachte - das Eigentum, die Familie, die Arbeitsweise -, machte in Form von Lehensherrschaft, Ständen und Korporationen auch das politische Leben aus. In diesem Sinne bestimmte die Stellung eines Individuums in einem Stand seine politische Beziehung, das heißt seine Trennung und seinen Ausschluß von anderen Bestandteilen der Gesellschaft. Marx sagte es später im ersten Band des Kapital so: »Statt des unabhängigen Mannes finden wir hier jedermann abhängig - Leibeigene und Grundherrn, Vasallen und Lehnsgeber, Laien und Pfaffen. Persönliche Abhängigkeit charakterisiert ebensosehr die gesellschaftlichen Verhältnisse der materiellen Produktion als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären« (Marx 1867, S. 91). Unter diesen Umständen sind verschiedene Bereiche des Handels und der Industrie das Eigentum verschiedener Zünfte; Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung sind das Eigentum bestimmter Stände; und die verschiedenen Provinzen sind das Eigentum einzelner Fürsten. Im Mittelalter finden wir also Leibeigene, feudale Stände, Handels- und Handwerkszünfte und Korporationen von Gelehrten, wobei jede Sphäre (Eigentum, Handel, Gesellschaft, Mensch) direkt politisch ist - »jede Privatsphäre hat einen politischen Charakter oder ist eine politische Sphäre, oder die Politik ist auch der Charakter der Privatsphären« (Marx 1843, S. 233). Marx charakterisiert das Mittelalter als die »Demokratie der Unfreiheit«, da es in einem Kontext, wo Handel und Grundeigentum nicht frei und noch nicht unabhängig geworden waren, auch noch keine politische Konstitution gab. Jede Theorie der Entstehung der kapitalistischen Staatsform muß also von der Identität von bürgerlicher und politischer Gesellschaft im Feudalismus ausgehen. Marx sah die Identität der bürgerlichen und der politischen Stände als Ausdruck der Identität von bürgerlicher und politischer Gesellschaft. In jedem einzelnen Fürstentum stellten die Fürsten (die Souveränität) einen besonderen Stand dar - »ihr Stand war ihr Staat« (Marx 1843, S. 276) - der gewisse Privilegien hatte, aber entsprechend durch die Privilegien der anderen Stände eingeschränkt war. Die gesetzgebende Macht, die sie ausübten, vervollständigte einfach ihre im wesentlichen auf bürgerliche Angelegenheiten gerichtete souveräne und exekutive Macht. »Sie wurden nicht politisch-ständisch, weil sie teil an der Gesetzgebung hatten; sondern sie hatten teil an der Gesetzgebung, weil sie politisch-ständisch waren« (Marx 1843, S. 276). Dazu läßt sich noch ergänzen, daß die Beziehung der Stände zum Reich nur eine Vertragsbeziehung verschiedener Staaten mit Nationalität war, »ihre gesetzgebende Tätigkeit, ihre Steuerbewilligung für das Reich war nur ein besonderer Ausfluß ihrer allgemeinen politischen Bedeutung und Wirksamkeit« (Marx 1843, S. 276).
Weder entstand die kapitalistische Staatsform automatisch als Reaktion auf die Entwicklung des Welthandels, noch ging es dabei einfach um die Übertragung der Macht von einer Klasse auf eine andere. Die Form des Staates veränderte sich historisch allmählich mit dem Sturz der souveränen Macht durch politische Revolutionen (in denen sich der politische Staat als Angelegenheit des Allgemeininteresses konstituierte) und grundlegenden gesellschaftlichen Kämpfen, die sich sowohl gegen die Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse richteten als auch selbst ein Ausdruck dieser Veränderung waren. Diese gesellschaftlichen Kämpfe »zerschlug[en] notwendig alle Stände, Korporationen, Innungen, Privilegien, die ebenso viele Ausdrücke der Trennung des Volks von seinem Gemeinwesen waren« (Marx 1844c, S. 368). Diese Kämpfe schafften den direkten politischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft ab und schufen zugleich den modernen Staat. Allmählich verwandelten sich die Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft: Die von den »heiligen Schauern der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung« gekennzeichneten »buntscheckigen Feudalbande« (Marx/Engels 1848, S. 464f.) wurden vom krassen Materialismus der modernen Privateigentumsverhältnisse unter der Herrschaft von Geld und Gesetz und dem egoistischen Kampf aller gegen alle abgelöst. Nachdrücklich stellt Marx fest: »Die Konstitution des politischen Staats und die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft in die unabhängigen Individuen - deren Verhältnis das Recht ist, wie das Verhältnis der Standes- und Innungsmenschen das Privilegium war - vollzieht sich in einem und demselben Akte.« (Marx 1844c, S. 369)
Der gesellschaftliche Kampf steht daher bei Marx im Zentrum der Darstellung der Entstehung des modernen Staates. Die Einheit des feudalen Staates beruhte auf der politischen Einheit der Stände, aus denen das Fürstentum bestand. Die gesellschaftlichen Kämpfe, die die persönlichen und gemeinschaftlichen Grundfesten dieser Macht auflösten, führten zur Trennung des Staates von der bürgerlichen Gesellschaft - was paradoxerweise die Abhängigkeit des heutigen Staates von der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse unterstreicht. Wie Clarke (1988, S. 127f.) zeigt, setzt die formale Trennung des kapitalistischen Staates von der bürgerlichen Gesellschaft seiner Macht Grenzen. Der Staat gibt den gesellschaftlichen Beziehungen nur die Form, aber ihr Wesen wird in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt: »Die Administration muß sich daher auf eine formelle und negative Tätigkeit beschränken, denn wo das bürgerliche Leben und seine Arbeit beginnt, eben da hat ihre Macht aufgehört« (Marx 1844a, S. 401). Die formelle und regelnde Aktivität des Staates par excellence besteht darin, die Grundlage der neuen gesellschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten, die den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft darstellen.
Auf der Basis des »Widerspruch[s] des besonderen und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an« (Marx 1845/46, S. 33). Indem der Staat gewaltsam die Herrschaft von Gesetz und Geld aufrechterhält, bewahrt er die formelle Disziplin des Marktes und vermittelt dadurch den Widerspruch zwischen dem Ausdruck von allgemeinen und besonderen Interessen. Diese Disziplin muß notwendigerweise in einer von privaten Interessen losgelösten »unabhängigen Form« erzwungen werden: »Eben weil die Individuen nur ihr besonderes Interesse, für sie nicht mit ihrem gemeinschaftlichen Interesse zusammenfallendes suchen (...), wird dies als ein ihnen 'fremdes' und von ihnen 'unabhängiges' (...) Interesse geltend gemacht (...) als Staat« (Marx 1845/56, S. 34).
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, daß der Klassencharakter des kapitalistischen Staates nicht durch die Vorherrschaft der Kapitalisten oder den »Vorrang der Ökonomie« bestimmt ist. Vielmehr ist er bestimmt durch die historische Form der Trennung des Staates von der bürgerlichen Gesellschaft. Holloway und Picciotto (1977/1991, S. 112) haben dazu klug bemerkt, daß eine materialistische Theorie des Staates nicht von der Frage ausgeht, wie die »ökonomische Basis« den »politischen Überbau« bestimmt, sondern von der Frage, warum die Gesellschaftsverhältnisse im Kapitalismus zur scheinbaren Trennung von ökonomischen und politischen Formen führen. Obwohl der heilige römische Kaiser und der Papst in den feudalen Gesellschaftsverhältnissen an der Spitze standen, war die Struktur keine durchgehende Hierarchie. Die Souveränität war vielmehr zersplittert, und Gewaltakte waren nicht zentral gesteuert oder in einem allgemeinen Rechtssystem verwurzelt (Kay und Mott 1982, S. 80-84). In der feudalen Fronarbeit wurde die Gewalt direkt auf den Leibeigenen als Produzenten ausgeübt und zwang ihn, Rente für den Herrn zu produzieren. Diese Gewalt war eine besondere und wurde auf jeden Leibeigenen getrennt angewandt, im Gegensatz zum Arbeitszwang im Kapitalismus, der durch einen unpersönlichen Arbeitsmarkt funktioniert. Die Beziehungen waren daher nicht durch eine zentrale Autorität vermittelt, sondern sie wurden an allen Punkten direkt hergestellt. Die feudalen Produktionsverhältnisse waren unmittelbar Machtverhältnisse. Dagegen finden die kapitalistischen Verhältnisse durch den scheinbaren Tausch von Äquivalenten statt. Wo sich Arbeit und Kapital treffen, herrscht allein »Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham« (Marx 1867, S. 189), die ein Vertrag zusammenbringt, der an sich schon jeden unmittelbaren politischen Inhalt ausschließt. Der moderne Vertrag setzt ja schon voraus, daß beiden Parteien das Recht entzogen ist, ihre eigenen Interessen gewaltsam durchzusetzen. Damit »wird in einer Gesellschaft von durch Vertrag aufeinander bezogenen Äquivalenten die Politik aus den Produktionsverhältnissen herausabstrahiert, und die Ordnung wird zur Aufgabe eines spezialisierten Organs: des Staates« (Kay und Mott 1982, S. 83). Der Staat als abgesonderte Verkörperung der Herrschaft und die Ersetzung des Privilegs durch die Äquivalenz sind also Teil desselben Prozesses, denn die »Staatsbürger« erblicken einander nur durch das Medium des Staates, der »von ihnen allen gleich weit entfernt ist«.
Unsere zweite Abstraktionsebene hat die Besonderheit des modernen Staates also in der historischen Form verortet, in der sich mit der Auflösung der feudalen Gesellschaftsverhältnisse allmählich der Staat von der bürgerlichen Gesellschaft trennt. Die erzwungene Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft ist natürlich eine institutionalisierte Illusion. [15] Damit der Staat als »politische« Sphäre existieren kann, muß die bürgerliche Gesellschaft »entpolitisiert« sein. Der Akt der »Entpolitisierung« ist selbst politisch, und diese auf dem Privateigentum beruhende Realität verschwindet hinter dem institutionellen Staat. Aus der obigen Ableitung des kapitalistischen Staates ergibt sich natürlich, daß jede Vorstellung von einem »autonomen« Staat reine Haarspalterei ist. Die Macht des Staates in seiner liberalkapitalistischen Form stellt sich dar als Herrschaft von Gesetz und Geld (auf denen er zugleich beruht). [16] Diese Form stellt die beste Grundlage für die Ausdehnung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse dar, da sich die gesellschaftliche Macht der Bourgeoisie in der abstrakten Form des Geldes verkörpert. An die Stelle der politischen Monopole und Privilegien des Feudalismus tritt die »göttliche Kraft des Geldes«, während der Mensch als »juristische Person« nicht vom Eigentum oder dem Geschäftsegoismus befreit wird, sondern die Freiheit erhält, Eigentum zu besitzen und Geschäfte zu betreiben. [17] Die institutionelle Trennung des öffentlichen Staates ist die historisch besondere Form der politischen Herrschaft - das politische Moment - der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. Der dialektische Ansatz von Marx zeigt, daß diese Trennung illusionär ist, und eröffnet einen Raum, um den Zusammenhang von Staat und bürgerlicher Gesellschaft theoretisch als differenzierte Formen kapitalistischer Macht zu fassen.
Die Nationalstaaten im internationalen System
Bisher scheitert die Entwicklung einer marxistischen Theorie des zwischenstaatlichen Systems vor allem an der Schwierigkeit, einen vorrangig in Bezug auf eine inländische Klassenstruktur definierten Staatsbegriff damit in Einklang zu bringen, daß der Staat Bestandteil eines Staatensystems ist. [18] Wie Picciotto (1991, S. 217) zeigt, neigt die marxistische Literatur noch stärker dazu als die nicht-marxistische, da sie den Klassencharakters des Staates betont und den Staat daher in Bezug zur Gesellschaft diskutiert. Der Einfachheit halber nimmt sie also an, daß sich die Gesellschaft und die Klassen in ihr mit dem Staat in dieser Gesellschaft decken.
Diese Schwierigkeit entsteht aber wiederum aus der Vermischung von Analyseebenen. Die kapitalistische Staatsform läßt sich nicht aus einer »inländischen« Analyse ableiten, an die dann im nachhinein »äußere« Bestimmungsmomente angehängt werden. Die besondere Staatsform des Kapitalismus muß, wie schon gesagt, aus Marx' Analyse der grundlegenden Veränderung der Gesellschaftsverhältnisse durch den Niedergang des Feudalismus abgeleitet werden. Diese Analyseebene ist (wie fast immer im Kapital) weder »rein historisch« noch »rein abstrakt«, sondern benutzt vielmehr den dialektischen Ansatz, um sich dem Konkreten anzunähern.
Wenn wir nun das heutige internationale System analysieren, verändern sich natürlich unser Thema und unsere Abstraktionsebene: Jetzt geht es nicht mehr um »den Staat« (die kapitalistische Staatsform), sondern um besondere Nationalstaaten (den schwedischen oder den mexikanischen Staat). [19] Dabei haben wir es mit folgendem Paradox zu tun: Während sich die Akkumulation schon seit ihren frühesten Anfängen auf globaler Ebene vollzieht, haben sich die kapitalistischen Staaten auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips im Recht entwickelt. Parallel zur Internationalisierung des Kapitals hat sich ungleichmäßig die Fragmentierung des »Politischen« in Nationalstaaten entwickelt, die aber von Anbeginn Teile eines internationalen Systems waren. Wie Picciotto (1991, S. 217) zeigt, konnte sich das internationale kapitalistische System nur entwickeln, wenn der persönliche Souverän von einer abstrakten Souveränität öffentlicher Autoritäten über ein bestimmtes Territorium ersetzt wurde, da dieser plurale [multifarious] Rahmen die weltweite Zirkulation von Waren und Kapital erlaubte und erleichterte. Das neo-realistische Bild von unabhängigen und gleichen souveränen Nationalstaaten ist allerdings eine fetischisierte Erscheinungsform, denn das globale System ist keine Ansammlung von aufgesplitterten Einheiten, sondern vielmehr ein einziges System, in dem die Staatsmacht bei verschiedenen territorialen Gebilden liegt. Das ist wichtig, da sich ein ausschließliches Recht unmöglich definieren läßt, so daß es faktisch ein Netz von sich überlagernden und ineinandergreifenden Rechtsräumen gibt.
Während der Klassencharakter der kapitalistischen Form des Staats also global definiert ist, wird die politische Stabilität der einzelnen Staaten bis heute zum großen Teil auf nationaler Grundlage erreicht - obwohl Bündnisse und Verträge das Stabilitätsmanagement gelegentlich verbreitern. Die Frage, warum das »Politische« in Nationalstaaten fragmentiert ist (die Antwort läge bei einer detaillierten historischen Analyse der weiter wirkenden Folgen des Absolutismus), ist weniger wichtig als die heutigen Folgen dieser Fragmentierung für die Nationalstaaten. Ein zentrales Merkmal des weltweiten kapitalistischen Systems (und zugleich ein historisches Ergebnis der Klassenkämpfe, die die feudalen Gesellschaftsverhältnisse beseitigt haben) ist die nationale politische Konstitution der Staaten und der globale Charakter der Akkumulation. Obwohl die Ausbeutungsbedingungen national standardisiert sind, sind die souveränen Staaten über den Wechselkursmechanismus international in eine Hierarchie von Preissystemen eingebunden. So wie die Gerichtsbarkeit über die nationalen Rechtssysteme hinausgeht, so geht das Weltgeld über die nationalen Währungen hinaus. Daher sind die Nationalstaaten, die auf der Herrschaft von Geld und Recht (als Quelle ihres Steueraufkommens und als Anspruch auf Legitimität) beruhen, gleichzeitig durch die Grenzen beschränkt, die ihnen die Kapitalakkumulation in weltweitem Maßstab setzt - was sich vor allem und am offensichtlichsten an ihrer Unterordnung unter das Weltgeld zeigt (siehe Marazzi 1977).
Die Nationalstaaten (als historisch ausgeprägte politische Form der bürgerlichen Klassenverhältnisse) halten nicht nur durch Formen der Rechts- und Geldregulierung die Autorität des Marktes aufrecht, sondern sie reagieren auch politisch auf Krisen, die aus der widersprüchlichen Grundlage ihrer gesellschaftlichen Form entstehen. Die »Politik« läßt sich daher nicht von der »Ökonomie« trennen. Vielmehr müssen sowohl das Politische als auch das Ökonomische als Formen der Gesellschaftsverhältnisse verstanden werden, deren Differenzierung die alltägliche Führung der Staatsgeschäfte ermöglicht, deren widersprüchliche Einheit aber gleichzeitig die freie Willensausübung der Staaten einschränkt. Die Regierungen reagieren damit auf die Macht der Arbeit zu Hause (und treffen vorbeugende Maßnahmen gegen sie) und sind gezwungen, sich mit den Folgen der weltweit laufenden Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital auseinanderzusetzen. In Klassenbegriffen drückt sich die widersprüchliche Grundlage der kapitalistischen Akkumulation [20] in der Fähigkeit des Kapitals aus, durch die Warenform (den Tauschwert) immer intensivere Arbeit (abstrakte Arbeit) durchzusetzen. Die Nationalstaaten bekommen die Folgen dieser endemischen Klassenkämpfe im Form von sinkender nationaler Produktivität und von Finanzkrisen zu spüren. Und da die internationale Politik wegen der Zersplitterung des »Politischen« anarchisch funktioniert, müssen sich die Nationalstaaten mit Sicherheitsfragen beschäftigen und dann in der Regel die Folgen der Macht/Sicherheits- und Verteidigungsprobleme vermitteln (Buzan 1991). Der Nationalstaat kann diese Widersprüche zwar letztlich nicht lösen (da er selbst ein Ausdruck der Krise auf der politischen Ebene ist), aber er kann unter Umständen Ressourcen mobilisieren und Einfluß auf die internationalen politischen und ökonomischen Beziehungen nehmen, um vorläufig eine günstigere Stellung im ungleichmäßig entwickelten zwischenstaatlichen System zu erreichen. [21] Die Nationalstaaten stellen die inländische politische Grundlage für die Beweglichkeit des Kapitals dar und sichern gleichzeitig durch rudimentäre institutionelle Vorkehrungen die internationalen Eigentumsrechte, damit sich das Kapital weiter ausdehnen kann. So lassen sich die Nationalstaaten am besten theoretisch als differenzierte Formen der globalen kapitalistischen Verhältnisse fassen. Wegen der widersprüchlichen Grundlage der Klassenverhältnisse sind Ausgleich und gleichmäßige Entwicklung aber ganz und gar nicht die Norm. Die zwischenstaatlichen Beziehungen sind vielmehr von Konflikten und Zusammenarbeit gekennzeichnet, indem die Nationalstaaten darum kämpfen, die Folgen der Spannungen zwischen Nationalem und Globalem zu vermitteln. Während jeder Nationalstaat versucht, die Bedingungen des Klassenkonflikts in seinem Zuständigkeitsbereich zu regulieren, stehen die Gesamtinteressen der Nationalstaaten nicht in direktem Gegensatz zueinander, und dadurch werden antagonistische und kooperative Beziehungen auf zwischenstaatlicher Ebene reproduziert.
Die Spannung zwischen Nationalem und Globalem stellt die einzelnen Nationalstaaten vor das Dilemma, daß die Weltwirtschaft vom folgenden Credo angetrieben wird: »Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!« (Marx 1867, S. 621). Als Reaktion auf die Vulgärökonomen, die behaupteten, kapitalistische Überproduktion sei unmöglich, führt Marx (1884, S. 120) ganz klar vor, daß die Größe der von der kapitalistischen Produktion erzeugten Warenmasse vom Umfang dieser Produktion und von ihrem Zwang zu ständiger Ausweitung bestimmt ist, und nicht von einem vorherbestimmten Umfang von Angebot und Nachfrage, von zu befriedigenden Bedürfnissen. Mit der beständigen Ausweitung des Marktes nehmen daher sowohl die Produktion als auch die Realisierung des Mehrwerts zu, was von der Globalisierung nicht nur des Handels, sondern auch der Produktion, des Kapitalexports, des Ankaufs von Arbeitskraft und des Kapitaleigentums abhängt.
Letztlich leiten die Nationalstaaten sowohl ihr Steueraufkommen als auch ihre Macht aus dem Kapital ab. Das gilt abstrakt, insofern die Macht des Nationalstaates sich in der Herrschaft von Gesetz und Geld, also von fetischisierten Formen der Macht des Kapitals ausdrückt, wie auch konkret, insofern sich das Steueraufkommen vom vorgeschossenen Kapital und der daraufhin innerhalb der Grenzen seines Hoheitsgebiets beschäftigten Arbeiterklasse ableitet. Um die Chancen zu verbessern, Kapital innerhalb ihrer Grenzen anzuziehen und zu halten (siehe Holloway 1996), verfolgen die Nationalstaaten alle möglichen Arten von Politik (Wirtschafts- und Sozialpolitik, Kooptierung und Zwang usw.) und bieten gleichzeitig Investitionsanreize und -anregungen. Der »Erfolg« dieser »nationalen« Politik hängt aber von der Wiedererrichtung von Bedingungen ab, unter denen das Kapitals in weltweitem Maßstab erweitert akkumulieren kann. Die Nationalstaaten stehen vor dem Dilemma, daß es zwar notwendig ist, an multilateralen Handelsrunden und Finanzgipfeln teilzunehmen, um die Kapitalakkumulation auf weltweiter Ebene zu steigern, daß daraus aber gleichzeitig Nachteile entstehen können, die die ökonomische Strategie eines besonderen Nationalstaats ernsthaft bedrohen. Die Geschichte des internationalen Systems nach dem Krieg ist die Geschichte des Hinauszögerns dieses Widerspruchs. Wichtig an diesem Spannungsverhältnis ist seine räumliche Dimension, die zwangsläufig dazu führt, daß die Entwicklung ungleichmäßig stattfindet und die weltweite Krise des Kapitals in bestimmten Nationalstaaten und Regionen sichtbar wird. Die Krise des Kapitalverhältnisses ist daher gleichzeitig eine Krise des internationalen Staatensystems. Die dem Kapitalverhältnis endemische Krise resultiert weniger aus einer umfassenden Erschöpfung eines besonderen »Akkumulationsregimes« als vielmehr aus der gesellschaftlichen Form der kapitalistischen Produktion selbst (Clarke 1991b), die zur Überakkumulation führt, aber mit unterschiedlichen Auswirkungen in verschiedenen Teilen der Welt. Der letzte Teil dieses Kapitels illustriert diese Bemerkungen mit einer kurzen Übersicht über die Neustrukturierung des zwischenstaatlichen Systems nach dem Krieg.
Schluß: Das Management der Nachkriegskrise
Die Desorganisation der Arbeiterklassen 1945 machte es möglich, daß die Politik noch einmal durch die Form des Nationalstaats kanalisiert wurde. Wie nach dem Ersten Weltkrieg ließ die europäische Arbeiterklasse die Gelegenheit zu Einheit und Kampf um die Form des Staates verstreichen und entschied sich stattdessen für die Entfremdung ihrer gesellschaftlichen Macht und die Suche nach einer politischen Vertretung durch den Nationalstaat.
Die dringendste Aufgabe, die sich den vom Krieg zerstörten Gesellschaften Westeuropas 1945 stellte, war der materielle Wiederaufbau. Die Wiederaufbauziele und die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums ließen sich aber nur durch den eher subtilen diplomatischen Wiederaufbau der internationalen Handels- und Zahlungssysteme erreichen, die den internationalen Austausch erleichterten und den geregelten Import von wesentlichen Waren und Rohstoffen sicherten. [22] Eine schnelle Akkumulation wurde 1945 vor allem durch die ungleichmäßige Entwicklung des Weltkapitalismus gehemmt, die zu einem ernsthaften Produktions- und Handelsungleichgewicht zwischen der östlichen und der westlichen Hemisphäre geführt hatte, das sich in der »Dollarlücke« [dollar gap] ausdrückte. Die wirtschaftliche Strategie der europäischen Nationalstaaten kreiste daher darum, eine Lösung für die wiederkehrenden Zahlungsbilanzkrisen zu finden, in denen sich diese ungleichmäßige Entwicklung, die selbst eine Folge der widersprüchlichen Grundlage des Klassenverhältnisses war, zeigte. Für diese Nationalstaaten übersetzte sich die Notwendigkeit, die Akkumulation zu maximieren, in die Notwendigkeit, Weltwährung zu akkumulieren. Großbritannien (das im wesentlichen für die europäischen Staaten handelte) und die USA führten so eine Reihe von langwierigen Verhandlungen zur Wiederherstellung weltweiter Akkumulationskreisläufe. Angesichts dieses grundlegenden strukturellen Ungleichgewichts leistete Großbritannien erfolgreich Widerstand gegen die multilateralen Ziele der USA (sofortige volle Währungskonvertibilität, unbeschränkter Handel und Zollsenkungen), und im Gegensatz zur gängigen Wahrnehmung lag das Bretton-Woods-System bis 1959 effektiv auf Eis (siehe Kapitel 4 in diesem Band). Die Schlüsselepisoden der Regierungsverhandlungen bei der Wiederherstellung des Nachkriegskapitalismus zeigen sehr deutlich, welche widersprüchlichen Konflikt- und Zusammenarbeitsbeziehungen zwischen den Nationalstaaten bestanden. 1945 wollten alle Nationen zunächst einen funktionierenden Mechanismus für den internationalen Austausch aufbauen. Die Kämpfe um die konkrete Ausformung der europäischen Handels- und Zahlungsabkommen belegen aber, wie stark der Konflikt sowohl innerhalb Europas als auch zwischen den europäischen Staaten und den USA war, da jeder Nationalstaat bezüglich der Dollarlücke einen Konkurrenzvorteil suchte.
In den späteren Stufen der Wiederaufbauphase sorgten die steigenden Löhne und das Wachstum der Konsumentenkredite für eine stetige, aber alles andere als gleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung in Westeuropa. Ende der 50er Jahre aber erschienen die Kontrollen und Austauschbeschränkungen, mit denen die europäischen Nationalstaaten nach dem Krieg ihre Weltwährungbestände schonen wollten, dann als prinzipielle Schranke für weiteres Wachstum. Da Kontrollen jetzt als überflüssig galten, führte die Liberalisierung von Handel und Finanzen zur Steigerung des Konkurrenzdrucks auf den Weltmärkten und Ende der 60er Jahre letztlich zur Überakkumulation von Kapital und zur Überproduktion von Waren. Clarke (1988, S. 125) führt überzeugend vor, daß der grundlegende Irrtum des Keynesianismus im Glauben besteht, Überakkumulation und Unterkonsumtion seien zwei Seiten derselben Medaille und Akkumulationskrisen ließen sich daher durch eine Ausweitung des Marktes beheben. Sobald wir aber erkennen, daß die Krise in der gesellschaftlichen Form der kapitalistischen Produktion selbst wurzelt (in der ungleichmäßigen Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb der Produktionszweige), ist klar, daß sich die kapitalistische Krise weder durch das Wachstum des Marktes noch durch die Ausweitung des Kredits »lösen« läßt. Der Kredit befreit das Kapital zwar von den Grenzen des knappen Geldes, aber damit schafft er das Potential für noch verheerendere zukünftige Krisen.
In den 70er Jahren war dann klar, daß viele europäische Nationalstaaten keine Wirtschaftspolitik entwickelt hatten, die dauerhaftes Wachstum garantieren konnte. In Großbritannien setzte die Liberalisierung des Handels und die Konvertibilität des Pfunds zum Beispiel der relativ ineffektiven »inländischen« Produktion von Waren für die sicheren Märkte des Commonwealth ein Ende. Obwohl der britische Staat versuchte, die Kosten der Arbeitskraft durch eine Umstrukturierung der Arbeiterorganisationen zu senken, gelang es ihm nicht, die institutionellen Strukturen, die sich auf die »Konkurrenzfähigkeit« auswirken, wirklich neuzukonstituieren. Dem japanischen Staat dagegen, der von dem Zwang befreit war, einen Großteil des Bruttosozialproduktes für das Militär auszugeben, und den kein Gesetz daran hinderte, den Arbeitstag beliebig zu verlängern, gelang durch die Nutzbarmachung innovativer Produktionsmethoden (und während des Korea-Kriegs vom amerikanischen Kapital gestützt) eine weitreichende Neukonstitution (Morioka 1989). Je schneller die modernen von Japan und Deutschland aus operierenden Kapitale in ehemals geschützte Märkte eindrangen, desto deutlicher wurde die Brüchigkeit des Gold-Dollar-Konvertibilitätsstandards von Bretton Woods. Schon 1950 waren in den USA Zahlungsbilanzdefizite aufgetreten. Zwischen 1950 und 1964 lief durch Militärhilfe und direkte Verteidigungsausgaben im Ausland (ohne die direkten Haushaltskosten des Korea-Krieges) auf den staatlichen Auslandskonten ein Defizit von 35 Milliarden Dollar auf (Burnham 1991). Die gesellschaftlichen Kämpfe und die Ausgaben für den Vietnam-Krieg führten dazu, daß die USA das internationale Finanzsystem Anfang der 70er Jahre in die Krise brachten, da das Liquiditätsproblem intensive Spekulationen gegen den Dollar auslöste und sie deshalb keine Abwertung vornehmen konnten. Auf die deutschen und japanischen Exporte wirkte sich der überbewertete Dollar zwar sehr günstig aus, aber um das Weltfinanzsystem zu stabilisieren, mußte ein System floatender Wechselkurse eingeführt werden (das 1978 abgeändert wurde, um noch größere Unterschiede zwischen den Wechselkursarrangements der einzelnen IWF-Mitglieder zu ermöglichen).
Die Krise von »Bretton Woods« wird überwiegend technisch interpretiert, nämlich als »Liquiditäts-«, »Anpassungs-« oder »Münzwertkrise« und/oder als Beispiel für das »Greshamsche Gesetz« (Pilbeam 1992). Diese Erklärungen beschreiben zutreffend die Oberflächenerscheinung der Krise, vernebeln aber ihre Ursache. Um an die Wurzel zu gelangen, müssen wir uns die Produktion ansehen und vor allem sehen, wie die Spannung zwischen Nationalem und Globalem die Überakkumulationskrise als gesteigerten Arbeitszwang nach Amerika verlagerte und wie damit verbundene kapitalistische Strategien den Arbeitsprozeß im Pazifikbecken revolutionierten. Das läßt sich den Zahlen zur amerikanischen Zahlungsbilanz entnehmen: Im April 1971 wies die amerikanische Handelsbilanz zum ersten Mal in diesem Jahrhundert ein Defizit aus (US Department of Commerce 1975). Betrug Japans Rohstahlproduktion noch 1950 nur 5,5 Prozent der amerikanischen, so hatte es die USA 1980 überholt, und 1988 überflügelte Japan die USA sogar bei der PKW-Produktion. Und während Reagan die amerikanische Wirtschaft zwischen 1981 und 1987 erfolglos anzukurbeln versuchte, indem er über 531 Milliarden Dollar an Krediten aufnahm, wurde Japan die größte Verleihernation der Welt, und sein Auslandsanlagenüberschuß, der 1980 noch 11,5 Milliarden Dollar betragen hatte, war 1988 auf 291,7 Milliarden Dollar angewachsen (Rothschild 1988, Shinohara 1991).
Der Erfolg des in Japan ansässigen und von dort aus operierenden Kapitals zeigt, daß die Nationalstaaten die Krise zwar am schärfsten als Haushalts- und Finanzkrise spüren, die Ursache der Krise aber im Produktionsprozeß liegt, worin sich die ungleichmäßige Entwicklung widerspiegelt. Genauso wie inländische Kredite vorübergehend ineffektive Kapitale stützen, sind internationale Kredite eine Option für Nationalstaaten, die darum kämpfen, die institutionellen Strukturen zu schaffen, mit denen das Kapital seinen Produktionsumfang ausweiten kann, indem sie ihr Staatsgebiet für weitere Investitionen attraktiver machen. Die Schuldenkrise in Lateinamerika hat auf tragische Weise klargemacht, daß diese Option die Gefahr einer weiteren Überakkumulationskrise mit noch schlimmeren Folgen mit sich bringt. [23]
Die Ursache der gegenwärtigen Krise wird oft dem stürmischen Prozeß der Internationalisierung des Kapitals (besonders des Finanzkapitals) zugeschrieben, der die Souveränität der Nationalstaaten beeinträchtige. [24] Die Globalisierung ist aber nicht Ursache, sondern Auswirkung der Krise. Die Akkumulation läßt sich innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen nur dann erfolgreich reproduzieren, wenn sie sich in weltweitem Maßstab reproduzieren läßt. Die Integration der globalen Akkumulationskreisläufe ist zwar immer eine Frage des Zufalls, da sie auf der fortwährenden Unterwerfung der Arbeiterklasse und der Eindämmung ihrer Militanz beruht, aber von ihr hängen die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten ab, die darum wetteifern, die Folgen der globalen Überakkumulation zu minimieren. Wenn es Nationalstaaten gelingt, die institutionellen Strukturen, die die »Konkurrenzfähigkeit« steigern, neuzukonstituieren, hilft ihnen die Internationalisierung des Kapitals, die Grenzen des Wirtschaftswachstums vorübergehend zu durchbrechen und in die Weltmärkte einzudringen. Das Auftreten der Krise folgt dann nicht aus dem Internationalisierungsprozeß selbst, sondern vielmehr aus dem Versuch des Kapitals, den ihm innewohnenden Widerspruch zu überwinden, und der davon hervorgerufenen Überakkumulation in weltweitem Maßstab. Die kapitalistischen Staaten bekommen die globale Krise dann in nationaler Form zu spüren. Die Nationalstaaten vermitteln diesen Widerspruch zwar durch multinationale Runden, Finanzgipfel und begrenzte Formen von Regionalismus, aber im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse läßt er sich nicht lösen, da sich in ihm die gesellschaftliche Form dieser Verhältnisse ausdrückt.
Die seit Ende der 50er Jahre stattfindende Liberalisierung des Handels und der Finanzen enthüllt mit jedem neuen Schub globaler Krise, daß die nationale Form des Staates immer weniger als integrierte Einheit zur Herstellung der für die globalen Klassenverhältnisse unverzichtbaren politischen Stabilität funktioniert. Selbst die mächtigsten Nationalstaaten (Deutschland, die USA und Japan) sind jetzt zunehmend auf der Suche nach regionalen Lösungen für ihre nationalen Zahlungsbilanzprobleme und die Handels- und Finanzregulierung. Die »Aushöhlung« der nationalen Form des Staates ist nicht als Reaktion auf den »Postfordismus« zu verstehen (Jessop (1992) möge mir verzeihen), sondern vielmehr als Eingeständnis, daß die Revolutionierung der Verhältnisse und die ununterbrochene Störung aller Gesellschaftsverhältnisse, die schon Marx 1848 mit der kapitalistischen Gesellschaft assoziiert hatte, nicht vor der Neustrukturierung des zwischenstaatlichen Systems haltmachen. In Westeuropa deuten die Zeichen darauf hin, daß die Europäische Union - wie zögerlich auch immer - die politischen Beziehungen zwischen den westlichen Staaten verwandeln könnte. Wenn die gegenwärtigen Trends weitergehen, ist es möglich, daß die Schaffung einer europäischen Währung und Zentralbank und die zunehmende Übertragung politischer Autorität nach Brüssel letztenendes zur Einrichtung eines komplexen Systems politischer Koordinierung in ganz Europa führen könnten. Diese Neustrukturierung wird (falls sie sich nicht zu einem echten politischen Regionalismus ausweitet) die heutigen Staaten Westeuropas nicht von den heute so aussichtslos erscheinenden Finanz- und Haushaltsproblemen befreien können. Die Regionalisierung des Weltmarktes und die regionale politische Koordinierung werden aber den Rahmen setzen, in dem sich eine intensivere Phase des globalen Klassenkampfes abspielen wird.
Daß die Staatsmacht einfach von der nationalen auf die regionale Ebene übertragen wird, ist am unwahrscheinlichsten. Eher sieht es nach der Herausbildung eines komplexeren Musters aus, in dem einige Aufgaben der Nationalstaaten auf pan-regionale oder internationale Organe übertragen, andere auf die lokale Ebene innerhalb des Nationalstaats und noch andere von entstehenden (lokalen und regionalen) horizontalen Netzen übernommen werden, die die Zentralstaaten umgehen und Orte, Regionen und mehrere Nationen miteinander verbinden (Jessop 1992; Rosewarne 1993). So, wie es aussieht, wird sich das Management der Währungsbeziehungen ganz ähnlich entwickeln, wie sich an der veränderten Rolle des IWF zeigt (seit 1979 hat kein einziges westliches Land mehr Kredite beim IWF aufgenommen, worin sich die verstärkte Rolle des Europäischen Währungskommitees bei der Europäischen Kommission zeigt).
Aber auch die gegenwärtige Verwandlung der nationalen Form des Staates und die regionale Koordinierung der politischen Beziehungen werden das Muster von Konflikt und Zusammenarbeit, das das zwischenstaatliche System heute kennzeichnet, bloß in größerem Maßstab reproduzieren. [25] Vielleicht führen sie aber auch zu engerer Zusammenarbeit zwischen den »nationalen« Arbeiterbewegungen und verstärken die Konzentration und Zentralisierung des Kapitals noch mehr, so daß wir uns der im Kommunistischen Manifest beschriebenen Situation nähern, wo die nationalen Unterschiede »mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse« verschwinden (Marx/Engels 1848, S. 479). Angesichts des gegenwärtigen Revivals des politischen Nationalismus (und des Neofaschismus) wirken die schon hin zu einer regionalen Koordinierung der politischen Beziehungen unternommenen Schritte brüchig und die Prognose von Marx allzu optimistisch. Trotzdem schafft diese Neustrukturierung Möglichkeiten für die sozialistische Strategie, die sich nicht mehr in das Dilemma »Internationalismus oder Sozialismus in einem Land« pressen lassen.
Der Kampf der Nationalstaaten in der Weltwirtschaft läßt sich nicht als Kampf zwischen dem »sozialdemokratischen Schweden« und dem »monetaristischen Großbritannien« verstehen, sondern vielmehr als ein Kampf zwischen verfeindeten (und gegenüber der Arbeiterklasse notwendigerweise einigen) Brüdern, die darum konkurrieren, zu vermeiden, daß eine Überakkumulationskrise mit ihren nachteiligen Folgen wegen der ungleichmäßigen Entwicklung gerade bei ihnen ausbricht. Theoretisch soll dieses Kapitel zeigen, daß die Nationalstaaten eine differenzierte Form kapitalistischer Macht sind - eine sich ergänzende und widersprüchliche Form der Klassenbeziehungen. Die Krise der nationalen Form des Staates führt zu einer Neustrukturierung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Das unbestimmte Ergebnis eines Übergangs zu komplexen politischen und ökonomischen Formen von regionaler Koordinierung (und genauer insbesondere das unbestimmte Ergebnis einer Krise dieser Regionalisierung) eröffnet reale Möglichkeiten für globale sozialistische Strategien und macht endgültig Schluß mit allem Gerede von einem nationalen Weg zur Befreiung. þ
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Fußnoten:
[1] Financial Times, 16.12.93, S. 18.
[2] Miliband [1969], S. 3f. Das Wesen des Staates war natürlich um die Jahrhundertwende ausgiebig in sozialistischen und anarchistischen Zirkeln diskutiert worden. Siehe DeLeon (1896), Kropotkin [1897], Paul (1916), Lenin [1917], Hunter (1918). Unter dem doppelten Einfluß der stalinistischen Theorie des Staatsmonopolkapitals und der westlichen sozialdemokratischen pluralistischen Sichtweisen wurden aber seit Anfang der 30er Jahre keine ernsthaften Analysen mehr geleistet.
[3] Siehe den berühmten Abschnitt in Kapitel 47 im dritten Band des Kapital (Marx 1894, S. 790-821); und die klare Darstellung bei de Ste Croix (1981, S. 52).
[4] Zu einer Diskussion der Formanalyse siehe die Einführung in Bonefeld et al. (1992).
[5] Am beredtsten hat diese Position immer noch Bucharin [1917] vertreten. Bucharin war natürlich völlig klar, daß »nationale Ökonomien« nicht mehr existieren konnten. Er stellt die Weltwirtschaft als ganze aber so dar, als bestünde sie nur aus »staatskapitalistischen Trusts« von Gruppen der Bourgeoisie auf nationaler Grundlage. Eine derart einfache Gleichsetzung von Staat und Kapital ist sowohl historisch ungenau als auch theoretisch bankrott. Bei der Staatstheorie geht es ja gerade darum, zu erklären, warum und wie Staat und Kapital zusammenhängen. Bucharin geht von einer Behauptung aus, die selbst kritisch untersucht werden muß.
[6] Ausführlicher wird dieser Punkt bei Burnham (1993) analysiert.
[7] Der erste Ansatz ist pluralistisch, weil er das kapitalistische Wesen des Staates im Ausdruck von Interessen statt in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen verortet. Der zweite ist funktionalistisch, weil er annimmt, daß »das Kapital« a priori Bedürfnisse habe, die der Staat erfülle. Auffassungen, nach denen der Staat eine »relative Selbständigkeit« hat, können auch nicht befriedigen, da sie tendenziell tautologisch argumentieren. Carnoy (1984) faßt die marxistischen Debatten gut zusammen, ebenso Jessop (1990). Wichtige Kritiken sind Clarke (1977/1991) und Holloway/Picciotto (1977/1991).
[8] Diese überraschende Lösung bietet Miliband an.
[9] Marx 1894, S. 825. Ein gutes Beispiel für die »Inkonsequenzen, Halbwahrheiten und unaufgelösten Widersprüche« der orthodoxen Politikwissenschaft findet sich beim Guru der realistischen internationalen politischen Ökonomie, Robert Gilpin. Zum Thema gegenwärtige politische Ökonomie schreibt Gilpin (1987, S. 10, Anm. 1): »(...) die historische Beziehung zwischen Staat und Markt ist Gegenstand heftiger akademischer Kontroversen (...), aber für das Thema dieses Buches müssen sie nicht unbedingt geklärt werden. Wie auch immer Staat und Markt entstanden sein mögen: Sie existieren unabhängig voneinander, haben ihre jeweils eigene Logik und interagieren miteinander.«
[10] Nützliche Darstellungen zur dialektischen Methode bei Marx finden sich bei Rosdolsky (1973), Murray (1988) und Bonefeld (1993).
[11] Zu einer Darstellung siehe Bonefeld et al. (1992, S. XV).
[12] Ein gutes Beispiel für diese Verwirrung findet sich in der Debatte zwischen Wallerstein (1984) und Skocpol (1979) über das Verhältnis »des Staates« zur Entwicklung des Kapitalismus. Keiner von beiden begreift, daß sich die Form des Staates nur auf der Grundlage der historisch besonderen Gesellschaftsverhältnisse verstehen läßt, zu der sie gehört. Wenn diese Autoren fragen, ob »Staaten« nach oder vor dem Kapitalismus entstanden sind, vermengen sie schon verschiedene Analyseebenen und kommen so unausweichlich zu falschen Schlußfolgerungen.
[13] Diesen nützlichen Begriff hat Philip Abrams (1977) als Ersatz für den Begriff »Staat« geprägt, der sich nach Abrams Auffassung zu leicht verdinglichen läßt.
[14] Weber (1992). Siehe auch Corrigan und Sayer (1985).
[15] Das wird bei Murray (1988, S. 32) betont und bei Holloway und Picciotto (1977/1991) ausgeführt.
[16] Das zeigt Clarke sehr schön (1988, S. 127).
[17] Marx (1844b, S. 565) und (1844c, S. 369).
[18] Siehe die Debatte zwischen Chris Harman, Alex Callinicos und Nigel Harris, zusammengefaßt bei Callinicos (1992).
[19] Sehr schön zeigt das John Holloway [1996].
[20] Clarke (1991b) stellt den Hauptwiderspruch brauchbar dar als Tendenz, die Produktivkräfte grenzenlos zu entwickeln und diese Entwicklung gleichzeitig in den Grenzen des Profits einzusperren.
[21] Eine brauchbare Analyse der institutionellen Strukturen, die die »Konkurrenzfähigkeit« beeinflussen, findet sich bei Hall (1986): die Arbeitsorganisation, die Kapitalorganisation, die Organisation des Staates, die Stellung des Staates in der internationalen Wirtschaft und die Organisation seines politischen Systems.
[22] Zu Details siehe Burnham (1990).
[23] Diese Folgen werden, wie Cleaver (1989) betont, auf die Arbeiterklasse abgewälzt und sind selbst das Produkt des weltweiten Klassenkampfs.
[24] Siehe z.B. die Sonderausgabe von Capital and Class (Nr. 43, 1993), in der die von Robin Murray und Bill Warren angefangene Debatte weitergeführt wird; siehe Radice (1975).
[25] Es dürfte klar sein, daß ich hier keine Neuauflage von Kautskys These vom Ultraimperialismus vertrete. Regionale Koordinierung darf nicht mit den »friedlichen Bündnissen« des international vereinigten Finanzkapitals gleichgesetzt werden, die die Widersprüche des Imperialismus auflösen. Im Gegenteil steigern die Schritte hin zu einer komplexen politischen und wirtschaftlichen Regionalisierung des Weltsystems die Widersprüche und die ungleichmäßige Entwicklung.