Wildcat-Zirkular Nr. 36/37 - April 1997 - S. 110-114 [z36revel.htm]


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Der verlorene Ort des Konflikts

Heiße Tage im Frühling: Eine sprachlose Jugendrevolte, die endgültige Krise der Großfabrik und die Entstehung eines vielförmigen und zersplitterten Produktionsuniversums

von Marco Revelli

Vorbemerkung des Übersetzers: In Italien wird das zwanzigjährige Jubiläum der 77er Bewegung gerade in allen Massenmedien begangen; die meisten Zeitungen bringen wöchentliche Sonderseiten oder sogar heftstarke Beilagen. Der folgende Text ist aus einer der Sondernummern von Il Manifesto.

Im »aufständischen März 1977« explodierte eine neue Jugendbewegung, die sich etwa seit 1975 geformt hatte (Angriffe auf die Scala in Mailand, Besetzungen von Jugendzentren, »proletarische Runden« gegen Überstunden und Schwarzarbeit, Besetzung vieler Unis seit Januar 1977 ...). Am 17. Februar 1977 war der Gewerkschaftsboß Lama trotz der tausend Schlägertypen seiner Leibgarde von 10.000 »StudentInnen« vom besetzten Campus vertrieben worden, ein bis dahin für Italien undenkbarer Vorgang: die rebellierenden Jugendlichen hatten demonstrativ mit dem Vertreter der offiziellen Arbeiterbewegung gebrochen. Am selben Tag wurde die Uni von den Bullen geräumt, mit einem Riesenaufgebot, das in den nächsten Wochen mehrere Stadtteile der Hauptstadt besetzt hält und nach der »bewaffneten Demo« vom 12. März ein mehrmonatiges Demonstrationsverbot durchsetzt. Die Demos in anderen Städten zeichnen sich derweil durch wachsende Härte (es wird von beiden Seiten geschossen), durch Plünderungen von Warenhäusern, Supermärkten und Waffengeschäften aus.

In diesem Ausbruch einer Jugendrevolte waren die verschiedenen, untereinander zerstrittenen Flügel der »Organisierten Autonomie« vertreten und rekrutierten daraus ihren großen Zustrom. Der Versuch, im September '77 im Kongreß von Bologna zu einer organisatorischen Einheit zu kommen, schlug spektakulär fehl: während drinnen im Sportpalast einige tausend selbsternannte »Führer« sich verbal und körperlich an die Wäsche gingen, tanzten draußen zigtausende auf den Straßen einer militärisch besetzten KPI-Metropole.

Die zwei Jahre danach waren die »Jahre des Bleis«: der verstärkten Versuche, traditioneller Guerillagruppen wie der roten Brigaden, die Bewegung zu hegemonisieren, in Konkurrenz zu »autonomen Guerillagruppen«, wie vor allem »Prima Linea«, die sich in einer selbstmörderischen militärischen Eskalation aufrieb und -zig Tote verursachte.

Am 7. April 1979 schlug der Staatsapparat zum ersten Mal systematisch zu und verhaftete die »intellektuellen Drahtzieher« wie Negri und andere. In immer weiteren Verhaftungswellen wurden insgesamt über 20 000 politische Gefangene gemacht. Das Schockierende an dieser massiven Repressionswelle war, daß sie Erfolg hatte und die italienische Gesellschaft »normalisieren« konnte: Eine breite soziale Bewegung, die zumindest in Europa theoretisch am fortgeschrittensten war, die über tausende bewaffnete Kader verfügt hatte, ließ sich so einfach durch Repression abräumen - irgendetwas konnte da grundlegend nicht gestimmt haben: »Wir waren sehr gut verankert, aber wir hatten uns im Sand verankert«, so hat damals einer der Führer die Misere auf den Begriff gebracht.

 

Der Journalismus und die Publizistik des gesunden Menschenverstandes mit ihrem Faible für Jahrestage (Zehn-, Zwanzig- und Dreißigjahrfeiern ...) haben uns daran gewöhnt, 1968 und 1977 - die beiden wichtigsten von Massen getragenen Brüche in der langen Auflösung unseres 20. Jahrhunderts - als zwei sozusagen negativ miteinander verbundene, einander gewissermaßen auflösende Erscheinungen zu betrachten: Während die Rechten die 77er Bewegung als kriminelle Verwirklichung der bereits in der 68er Bewegung angelegten Gewalt sehen, betrachten die Linken 1977 als Negation der Positivität von 1968, sozusagen als dessen Dekonstruktion durch Umkehrung.

War 1968 die schöne Revolution, die Revolution, die vereinigte (Studenten und Arbeiter, Intellektuelle und Handarbeiter, Norden und Süden, Turin und Berkeley, Tokio und Paris, in der gemeinsamen Sprache der Befreiung und der Phantasie), so soll 1977 die häßliche Revolte gewesen sein, die Revolte, die trennte, zerbrach und spaltete (Garantierte und Nicht-Garantierte; solche, die dazugehören und die Ausgeschlossenen, gewerkschaftlich Organisierte und Autonome, Demokraten und Intolerante) und damit die Grenze zwischen zwei entgegengesetzten Gesellschaften deutlich machte. War 1968 der Triumph des Wortes gewesen - des Sich-zu-Wort-Meldens, der Redefreiheit, der diskursiven Rekonstruktion des Universums durch grenzenüberschreitende Kommunikation -, so soll 1977 mit seiner verstümmelten, verschlagenen, verlorenen Sprache den Bruch mit der Logik des Diskurses darstellen, den Eintritt in eine Welt von Dingen ohne Worte. Und hatte 1968 die Universalisierung der Politik oder zumindest den Traum davon dargestellt - den Einbruch der Politik in den Alltag im Sinne der Parole »alles ist politisch«, hinter der das große Verlangen nach Beteiligung von unten stand -, so bestätigte 1977 die Krise der Politik, ihre Selbstbehauptung gegenüber der Gesellschaft, die Undurchdringlichkeit der Staatsmacht und den unaufhebbaren Gegensatz zwischen ihr und der buntscheckigen, nicht mehr in die Rationalität der Macht reintegrierbaren Welt der Subjekte. 1977 entstand also eine Kritik der Politik, die sich keine Illusionen auf eine Wiedergeburt der Politik machte. Deshalb sind von den Protagonisten der 77er Bewegung (im Gegensatz zum unendlichen Heer der 68er, zu dem sich sogar Veltroni und D'Alema zählen können) so wenige in die politische Klasse, ins Personal der Parteien eingedrungen (nicht einmal in die Basisstrukturen). Und deshalb hat die 77er Bewegung zum anderen auch so eine schlechte Presse beim unendlichen Heer derjenigen, die das offizielle Informationssystem ausmachen.

Wenn wir dieses Stück Zeitgeschichte aber - materiell und wesentlich - vom Standpunkt der Gesellschaft, der Produktionsformen und der ihnen innewohnenden Subjektivität betrachten, geht solch ein Urteil an der Realität vorbei. Dann muß es in vieler Hinsicht zurechtgerückt, wenn nicht sogar völlig verworfen werden, und wir müssen zugeben, daß 1977 - gerade die unangenehmen Aspekte der häßlichen Revolte, ihre subjektiven Irrtümer und ihre Abwege - viel mehr gesellschaftliche Zukunft, mehr Antizipation, mehr Aktualität und mehr materielle Härte enthielt als das große befreiende Fest von 1968 (trotz der radikalen Erneuerung, die die damalige Entdeckung des globalen Raums, der weltweiten Dimension des kollektiven Handelns angezeigt hatte). 1977 enthielt mehr gesellschaftliche Zukunft, d.h. die unbekannten, unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Aspekte des heutigen Kapitalismus traten viel stärker an die Oberfläche: die inneren Brüche mit der für das 20. Jahrhundert typischen Form von Produktionsprozessen, von Verhältnis zwischen Produktion und Gesellschaft und von Verhaltens- und Sprechweisen, die die verschiedenen ArbeiterInnen im Laufe des Jahrhunderts entwickelt hatten.

Gleichzeitig die Krise des Fordismus. Die 68er Bewegung hatte den Fordismus - die zentralisierte und standardisierte Großfabrik, die Massenproduktion, das Kapital als Plan und Rationalisierung - im Grunde als unveränderliches Bezugsuniversum, als natürlichen Horizont der Produktion und des Konflikts betrachtet. Sicherlich hatte sie seine entmenschlichenden Aspekte, die unerträgliche Spaltung zwischen Person und Produktion in der tayloristischen Logik radikal kritisiert. Aber dann hatte sie dem ureigensten Produkt des Fordismus, dem Massenarbeiter, die Aufgabe anvertraut, ihn von innen heraus zu stürzen - zum Träger des radikalen Widerspruchs in ihm und gegen ihn zu werden -, und träumte vielleicht sogar davon, ihm den Rätejargon des alten Facharbeiters anzubieten. 1977 hingegen vollzog sich die definitive Spaltung zwischen Fordismus und Arbeitersubjektivität. 1977 machte deutlich, daß die in der Ausbildung befindliche Arbeitskraft in den hochindustrialisierten Gesellschaften mit ihrer hohen Schulbildung und ihren hohen Erwartungen völlig inkompatibel mit der fordistischen Form der Arbeit war. 1977 zeigte, daß eine fordistische Arbeitskraft, d.h. eine Arbeitskraft, die den Zustand der Lohnarbeit in der standardisierten Großfabrik als eigene Lebenswelt akzeptiert, sich in unseren Gesellschaften nicht reproduzieren ließ. Die Fiat-Führung hatte (wie die von Ford, General Motors oder Volkswagen) aus dem Kampfzyklus Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre lernen müssen, daß ihr Modell extensiver und intensiver Ausbeutung physische und politische Grenzen hatte, daß diese Arbeitskraft Rigiditäten hatte und innerhalb des Arbeitsprozesses eine Macht ausüben konnte. Aber erst die unorthodoxen, unvorhersehbaren, verrückten Verhaltensweisen der Neueingestellten von 1977 und 1968, ihre bizarren Verstöße gegen die Ordnung, ihre mit jeder Arbeitsethik und schon mit dem Gedanken an normierte und stabile Arbeit unvereinbaren Großstadtkulturen machten ihr dann deutlich, daß sich dieses Produktionsmodell nicht reproduzieren ließ, daß die industrielle Reservearmee, die bereitsteht, um die Produzenten von gestern durch ebensolche Produzenten von morgen zu ersetzen, im Aussterben begriffen war.

Die Krise des Fordismus läßt sich also als Krise der Gramsci'schen rationalen demographischen Zusammensetzung verstehen: Der Produktion gelingt es nicht mehr, den Reproduktionsprozeß der Produzenten zu kommandieren. Sie läßt sich aber auch als Krise der Großfabrik und ihrer zentralen Stellung in Produktion und Politik verstehen: Von nun an ist die Stadt [territorio], das städtische Netz von Beziehungen, der bevorzugte Ort der Produktion und des Konflikts. In einem in mancher Hinsicht prophetischen Aufsatz mit dem suggestiven Titel Der Stamm der Maulwürfe machte Sergio Bologna im Mai 1977 darauf aufmerksam, daß ein Großteil der politischen Verhaltensweisen des jugendlichen Proletariats in den letzten Kämpfen sich nur verstehen lasse, wenn man begreife, daß die Stadt zum Raum der Intervention in die Klassendynamik geworden sei; und er stellte fest, daß sich die Kleinfabrik gewissermaßen als bestes Terrain betrachten lasse, als »Einstiegsloch« für den Maulwurf, der seine Wühlarbeit bereits begonnen habe. Der spätfordistische Kapitalismus versuche, mit einer radikalen Veränderung seiner Form - einem plötzlichen Übergang vom Zentralen zum Fragmentierten und vom Konkreten zum Abstrakten - auf die Umklammerung seiner gefestigten Arbeitskraft zu antworten. Als zwei wesentliche Aspekte dieses Prozesses identifizierte Bologna die Dezentralisierung der Produktion und die Finanziarisierung, d.h. die räumliche Zerstreuung des Arbeitsprozesses und die brutale Wiederherstellung der Geldform als Kommandoinstrument über die Klassendynamik. Und zugleich identifizierte er zwei völlig neue Aspekte der sich im neuen System der Arbeitskraft herausbildenden Subjektivität: einerseits die Verlagerung des Ortes, an dem die antagonistische Subjektivität entsteht, aus der Festung der Fabrik heraus und andererseits die Prekarisierung, Marginalisierung, Flexibilisierung und Zersetzung der verschiedenen ArbeiterInnen, ihre zunehmende Aufspaltung und Aufsplitterung auf ein breites Repertoire von Formen und Bedingungen, die sich nicht mehr vollständig und umfassend auf die Zentralität des tariflich geregelten und festgelegten Lohnverhältnisses zurückführen lassen.

So erklärt sich das besessene, fast schon neurotische Bestehen der 77er Bewegung auf der räumlichen Dimension, der räumlichen Aufsplitterung und der Mikrophysik der Macht, sozusagen ihr gesellschaftlicher Pessimismus, ihre Entschlossenheit, die Entwicklung nicht mehr als optimalen Rahmen für die Herausbildung und das Wachstum des antagonistischen Subjekts zu sehen, und ihre krankhafte Praxis der Übergangsbereiche, der Grenzgebiete, der Ränder, der Fremdheit und des Aussteigertums. Darin drückte sich eine visionäre, intuitive Wahrnehmung der genetischen Veränderung aus, die sich im Innersten der kapitalistischen Akkumulation vollzog und die die Grundlagen jeder Arbeiterbewegungstradition angriff, jeder Subjektivität, und sei es auch nur der hypothetischen und embryonalen eines gesellschaftlichen Arbeiters, der auf dem Kontinuum der Entwicklung als Erbe und Nachfolger des obsoleten Massenarbeiters anzusiedeln wäre. Die einzige Antwort, die der 77er Bewegung - zumindest ihrem militanten Kern - auf diese Intuition einfiel, war organisatorisch und politisch in vieler Hinsicht schwachsinnig, denn sie suchte die Mechanismen der Neuzusammensetzung entweder in der alten und inzwischen überholten Antwort von Avantgarde und Organisationsgründung - sozusagen in einem zu dem Paar Gewalt/Macht degenerierten Mini-Drittinternationalismus - oder in der reinen Expressivität, in der rasenden Befreiung der Subjektivität ohne jede materielle Bestimmung. Diese steckt aber dennoch voller Zukunft, weil sie eine radikale Frage aufwirft, auf die es noch keine Antwort gibt: Wohin verlagert die Verwandlung des postfordistischen Kapitals den Ort des Konflikts? Wo reproduziert es in Form des Antagonismus die im Prozeß der gesellschaftlichen Produktion enteignete Subjektivität? Welche Wege wohin und mit welchen sprachlichen und kommunikativen Mitteln gibt es für die Erben der klassischen deutschen Philosophie?

Dies stand hinter der verstümmelten, unartikulierten, verzweifelt experimentellen Sprache der Chaoten von 1977. Darauf müssen wir noch antworten, mit unserer erschöpften, flüssigen, aber verbrauchten Sprache dieses ausgehenden Jahrhunderts.


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